Spaziergangstagebuch 12

Von Niederursel nach Frankfurt

Der Anlass für diesen Spaziergang war ein trauriger. Ende letzten Jahres verstarb eine ehemalige Kollegin, die ich sehr schätzte. An diesem Tag sollte die Beerdigung stattfinden. Beerdigungen gehören nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Als Belohnung nahm ich mir vor, den Weg zurück zu spazieren. Darauf freute ich mich, kenne ich diese Gegend im Norden von Frankfurt so gut wie nicht. 8,5 km, sagte Maps, nach Frankfurt. Eine überschaubare Entfernung. Dass es am Ende, als ich wieder zuhause war, doppelt so viele waren, hatte ich erwartet.

Ich stellte den Wecker, wollte rechtzeitig losfahren, nicht ohne Frühstück. Das Wetter war perfekt für einen langen Spaziergang, Wolken, gelegentlich Sonne, kein Regen, angenehme Temperatur. Pünktlich ging ich los, zahlte stolze 3,40 € und fuhr mit Straßen- und U-Bahn nach Niederursel. Dort angekommen wurde mitgeteilt, dass hier die Tarifgrenze sei. Wehmütig dachte ich an das Neun-Euro-Ticket. Ich stieg aus und fand mich in Terra Incognita. Erst einmal vorher war ich in Niederursel gewesen. Bei eben jener Kollegin, die jetzt beigesetzt werden sollte. Eine weitere Kollegin und ich waren zu Kaffee und Kuchen geladen. Es ist viele Jahre her.

Ich ließ ich mich zum Friedhof leiten durch einen sehr dörflichen Stadtteil. Das Navi schickte mich, entlang des Urselbachs, durch Wiesen und Felder. Ein imposantes Backsteingebäude forderte meine Aufmerksamkeit. Der Weg zog sich, kein Friedhof. Plötzlich eine fast 360° Kehre, zurück in den Ort, den ich bereits hinter mir gelassen hatte. Das muss ein Umweg sein, dachte ich. Mittlerweile hatte die Trauerzeremonie bereits begonnen. Dann fand ich endlich den Friedhof – und konnte keine Trauergemeinde entdecken. Nur an einem frischen Grab standen eine handvoll Leute, von denen ich niemanden kannte. In der Kapelle war es totenstill, ein Mann im schwarzen Anzug schaute mich durch das Fenster an, während er irgendwas geräuschvoll von hier nach dort räumte. Sonst war nichts zu sehen oder hören. Unverrichteter Dinge kehrte ich um. Irgendwas an meinen Informationen hat nicht gestimmt.

Der Spaziergang begann. Zunächst entlang des Praunheimer Wegs, der alles andere als ein Weg war, sondern eine vielbefahrene Straße. Jemand hatte seinen Traum vom Knusperhäuschen verwirklicht. Es ging eine Weile entlang der Straße weiter und ich befürchtete, dass das jetzt bis Frankfurt so ginge. Aber dann schickte mich das Navi nach links, wieder entlang eines Baches, des Steinbachs. Ein ruhiger Weg, abseits der Autos. Zwei Männer sitzen auf der Lehne einer Bank, Bierflaschen in der Hand. In Praunheim schickte mich das Navi falsch auf die Straße In der Römerstadt. Dort eine Siedlung von Ernst May aus den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts. Die Häuser mit flachen Dächern. Als May diese Bauform einführte, rebellierte die Dachdeckerinnung. Fortan wurden wieder Spitzdächer gebaut. Das selbe geschah, als er die Plattenbauweise verwendete, als deren Erfinder er gilt. Sein Credo war, schnell bezahlbahren Wohnraum zu schaffen. Gegen die Platten stemmte sich die Maurerinnung. Also wurde wieder gemauert.

Ich fand den richtigen Weg, weg von der Straße. Wieder ging es grün weiter, immer entlang des Steinbachs. Dann eine Brücke, ich war an der Nidda. In einem Nebenarm ließen sich zwei Schwäne treiben. Jenseits der Nidda ein Park, der Volkspark Niddatal. Ich war erfreut, den Park kannte ich nur peripher. War einmal dort mit einer Freundin laufen, lang ist es her. Wir fanden fast nicht mehr raus damals, orientierten uns am Fernsehturm und der Skyline. Das der Park groß ist wusste ich, dass er so groß ist jedoch nicht. Eine Frau mit drei freilaufenden Hunden kreuzte meinen Weg. Die Tiere interessierten sich nicht für mich. Der Park wollte nicht enden, mir war`s recht. Irgendwann ein Hinweis auf den Ausgang Bockenheim. Ich konnte das Navi ausschalten, ab dort würde ich mich auskennen. Dass irgendwann eine Autobahnbrücke den Park kreuzen würde, war erwartbar.

Am Ausgang Bockenheim empfing mich das Yollow Submarine. Bald war ich an der Sophienstraße. Hier wohnte einst eine enge Freundin von mir, die genauso hieß wie die Straße. Wir haben uns oft gesehen, bis sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, wieso auch immer. Sie wohnt dort auch nicht mehr. Auf der Leipziger Straße suchte ich ein Café, fand keins. Das einzige, das ich kannte, hatte geschlossen. Die Gegend war mir vertraut, habe ich doch vor einigen Jahren mal hier gearbeitet. In der Adalbertstraße entdeckte ich einen kleinen Bäcker mit zwei winzigen Tischen und einer schmalen Bank an der Wand. Ich bestellte einen großen Cappuccino im Pappbecher und ein riesiges Stück Kirschstreussel, das ich zur Hälfte schaffte. Es tat gut zu sitzen, der Kaffee schmeckte und tat was er tun musste.

Gestärkt ging es zurück über den Bockenheimer Campus. An der Senckenberganlage die legendäre Adorno-Ampel. Der berühmte Philosoph und Soziologe soll gesagt haben, wenn die Studenten da sind wo sie sein sollen, nämlich in Gedanken, dann müsse dort eine Ampel hin. Adorno wurde der Wunsch erfüllt. Niemand weiß, wieviel gedankenversunkenen Studentinnen und Studenten dadurch das Leben gerettet wurde. Weiter durch vertrautes Terrain, den Kettenhofweg, mittlerweile zur Fahrradstraße umgestaltet. Früher mein Arbeitsweg zum Suhrkamp Verlag in der Lindenstraße. Da Adorno schon erwähnt wurde, in dieser Straße hat er mit seiner Frau Gretel gewohnt. Vom ursprünglichen Plan zur Kleinmarkthalle zu gehen, um diverse Zutaten für Harissa zu besorgen, bin ich abgekommen. Die Beine waren zu schwer. Statt dessen auf dem Markt an der Schillerstraße einen Riesling getrunken. Für mich der Abschluss des kleinen Ausflugs, der mir wieder mehr von der Stadt gezeigt hat, in der ich schon seit über zwanzig Jahren lebe. Der Heimweg nach Bornheim ist Routine und nicht der Rede wert. Zuhause hatte ich 23000 Schritte und 17 km in den Beinen und fühlte mich lebendig.

Spaziergangstagebuch 11

Von Ernst-May-Platz zu den Schwanheimer Dünen.

Hochnebel tauchte die Stadt in ein herbstliches Grau. Es war mild. Kurze Zeit später klarte es auf. Perfektes Wetter für einen langen Spaziergang. Ich ging gewohnte Wege und freute mich an dem grünen und großzügigen Innenhof, durch den ich gerne gehe. Heute würde so wahrscheinlich nicht mehr gebaut. In meinem Quartier sind derartige Höfe jedoch noch häufig zu finden. Auch der Block in dem ich wohne gruppiert sich um einen großzügigen baumbestanden Hof, der allerlei Getier Heimat bietet. Am Uhrtürmchen trinke ich einen Cappuccino, er ist bitter. Wieso ist es so schwer, einen guten Kaffee zu bereiten? Baselitz hat gestrichen. Beim Lieblingswasserhäuschen Fein nehme ich noch einen Cappuccino, dazu ein Stück Birnen-Schokokuchen. Kraft tanken für den langen Spaziergang. Der Kaffee war gut, geht doch.

Die Sonne kommt heraus, ein herrlicher Tag, Goldener Oktober. Gestärkt setze ich meinen Weg Richtung Main fort. Auf dem Liebfrauenberg stehen Buden, Bratwurst und Schoppen. Einige Menschen bevölkern die Biergarnituren. Frankfurter scheinen das zu brauchen. Zeugen Jehovas werben am Paulsplatz für einen „kostenlosen Bibelkurs“. Passanten schlendern achtlos vorbei. Vor der scheinbar historischen Postkartenkulisse des Römerbergs recken etliche Sonnenanbeter bei Apfelwein und Rindswurst das sonnenbebrillte Gesicht himmelwärts. Eisener Steg, Mainufer. Es ist wenig Betrieb. Ich gehe westwärts und ärgere mich die Sonnenbrille vergessen zu haben. Überraschungen erwarte ich keine, zu oft bin ich schon diese Strecke mit dem Fahrrad gefahren.

Mein Ziel ist das Naturschutzgebiet Schwanheimer Düne ganz im Westen der Stadt. Oft bin ich mit dem Fahrrad an diesem Naturschutzgebiet vorbei gefahren, durchgelaufen bin ich noch nie. Das sollte sich endlich ändern. Ich gehe weiter, habe Zeit. Die wohltuende Wirkung des Gehens setzt ein. Es geht mir gut, wie immer beim Gehen. Auf der andern Mainseite, – hippdebach wie es in Frankfurt heißt. Ich gehe am Ufer auf der sachsenhäuser Seite, drippdebach – wächst das Hochhausensemble Four in den Himmel. In nicht allzu ferner Zukunft wird es die Skyline prägen.

Drei Männer, dicht gedrängt auf einem Elektroroller, fahren vorbei. Ich wünsche ihnen nichts Gutes. Kurz darauf sechs Fahrradrikschas, die mich gnädig stimmen.

Segelboote tanzen auf dem Main. Kurz zuvor bin ich eine Treppe zum Ufer hinab gestiegen, froh der Uferstraße entronnen zu sein. Ich setzte mich auf eine Bank in der Sonne, trinke Wasser und esse einen Apfel. Am anderen Ufer wird gehämmert, gebohrt und geschliffen. Kräne bewachen die Baustelle. Die Umgebung kommt mir vollkommen unbekannt vor, was mich wundert. Die Treppe jedoch, die ich kurz vorher hinabgestiegen war, habe ich mit dem Rad immer ignoriert. Wer zu Fuß unterwegs ist sieht mehr. Das hat sich jetzt wieder erwiesen. Ich bin im „Licht- und Luftbad Niederrad“, kurz „LiLu“, gelandet von dem ich schon gehört hatte es aber noch nicht gesehen. Ich dachte, auf dem Rad hätte ich es am Wegesrand bemerken müssen. Hatte ich aber nicht, jetzt war klar weshalb. Es gab also doch Überraschungen. Das Lilu ist ein einladender Ort. Eine große Wiese unter Bäumen. Vor einem geräumigen Pavillon, dem Ponton, eine hölzerne Terrasse. Darauf Stühle und Tische. Hat aber nur im Sommer geöffnet. Das alles direkt am Mainufer. Kunst aus Holzbohlen bereichert das Gelände.

Ich bin dankbar, den Ort gefunden zu haben. Es lohnt immer zu Fuß zu gehen. Ich nehme mir vor im nächsten Sommer dort gelegentlich Zeit zu verbringen. Erfreut gehe ich weiter, und finde mich in einer Sackgasse. Das LiLu liegt auf einer Halbinsel, die an einer runden Terrasse endet. Ich stütze mich auf das Geländer und schaue mainabwärts. Beim Gehen gibt es keine Umwege denke ich und kehre um.

Nach kurzem eine Treppe und eine kleine Brücke zur Straße hin. Und plötzlich fühle ich mich als hätte ich einen Schatz entdeckt. Links der Treppe liegt versteckt ein über und über bewachsenes Boot, eine Arche Noah für Pflanzen, das „Naturship, MS Heimliche Liebe“. Ohne meinen kleinen Umweg hätte ich das nie entdeckt. Schon jetzt hat sich mein Ausflug gelohnt.

Längs der Straße geht es weiter. Am Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt wienert ein Mann im grauen Pullover seinen SUV. Ein älterer Rollerfahrer schiebt sich mühsam den Weg entlang, am Lenker eine braune Papiertüte. Gänse schnattern im Tiefflug über das Wasser. Der Rest des Weges zieht sich, bleibt aber ereignislos. Wege, die ich kenne, die Griesheimer Schleuse. Der Herbst zaubert rote Girlanden ins Laub.

Dann Schwanheim. Ich weiß zwar wo etwa die Dünen sind, aber nicht wie ich da zu Fuß hinkomme und frage das Navi. Prompt nehme ich den falschen, längeren Weg. Aber egal. Bald stehe ich auf dem Bohlenweg, der durch die Düne führt. 1984 wurde sie zum Naturschutzgebiet erklärt. Entstanden ist die Düne vor 10000 Jahren als Folge der Eiszeit. Bis in die achtziger Jahre wurde dort Sand abgebaut. Die Gruben füllten sich anschließend mit Grundwasser und bieten seit dem Amphibien wertvollen Lebensraum. Auf dem kargen Sandboden der Düne gedeihen seltene Pflanzen. Ich lerne, Silbergras, Bauernsenf und Sand-Grasnelke, wohlklingende Wörter. Daneben bizarre Kiefern. Seltene und geschützte Tiere bevölkern die Düne, Eidechsen etwa.*

Ich gehe weiter, staune, schaue und fotografiere. Eine Meereslandschaft am Rande der Großstadt. Bald habe ich die Düne gequert, mein Ausflug nähert sich dem Ende. Zwei Orte habe ich kennen gelernt, an denen ich sicherlich nicht zum letzten Mal war, das LiLu und die Schwanheimer Düne.

Zum Abschluss steuere ich das Apfelweinlokal Mainlust in Schwanheim an. Ich brauche Stärkung, habe 20 km in den Beinen. Auf einer Brücke über die Schnellstraße, rasten ein Mann mit einem Kind und einem Säugling. Der Junge legt sich in die Sonne, als würde er den Lärm und den Gestank, der von der Straße ausgeht, genießen. Ich Schwanheim war kürzlich Kerb. Zeugen davon hängen noch am Kerbebaum. Nach 20 Minuten komme ich an der Gaststätte an. Viele Gäste sind noch nicht da. Ich setzte mich in den Garten, trinke Bier und Apfelwein, gegen den Hunger Schnitzel mit Brot. Die Tram der Linie 12 bringt mich schließlich nach Bornheim, es dauert fast eine Stunde. Ein schöner Ausflug hat sein Ende gefunden.

*Sämtliche Informationen zur Schwanheimer Düne hat mir das Internet verraten.

Spaziergangstagebuch 10

Ein Rundgang vom Ernst-May-Platz über den Röderbergweg zum Main. Auf der Sachsenhäuser Seite bis Alte Brücke. Weiter über Römerberg zum Markt an der Konstablerwache und zurück nach Bornheim.

13.08.2022

Ein heißer Tag, Sonne, Wolken. Unterm Dach wird’s ungemütlich, daher Schuhe schnüren, Hut auf, herumgehen, Kopf lüften. Es ist Samstag, Markttag an der Konstablerwache. Ich wähle einen Lieblingsspaziergang, der sehr abwechslungsreich ist. Aber auch länger. Doch das spielt keine Rolle. Beim Gehen gibt’s keine Umwege.

An der Wittelsbacher Allee zwei geschmückte Wagen, die sich im Laufe des Nachmittags zusammen mit anderen zum Umzug der Bernemer Kerb formieren werden. Es ist Eröffnungstag der Kerb, die nach zwei Jahren der Unterbrechung wieder gefeiert werden soll. Ein Mann brüllt in sein Telefon, ein anderer schiebt ein rotes Motorrad. Am Röderbergweg, dieser schönen Straße am Hang oberhalb des Ostparks, sind kaum Menschen unterwegs. Das bleibt so bis zum Main. Platanen treiben aus. Erstmals fällt mir in der Nähe des Zoos die St. Nicolai Kirche auf. Wikipedia verrät, dass sie im Stil der Neoromantik Anfang des letzten Jahrhunderts gebaut wurde. Der Turm steht unter Denkmalschutz. Sie gefällt mir. Die Baugrube neben der Kirche liegt brach. An der Gedenkstätte zur Deportation der Frankfurter Juden (siehe auch Spaziergangstagebuch 3) an der EZB bleibe ich immer wieder stehen und lese die bewegenden Sätze im Boden. Die Vergangenheit holt mich ein. Was für ein unendliches Leid an diesem Ort geschah und heute gehe ich dort entspannt spazieren. Wir können uns nicht sicher sein, dass das auch so bleibt. Vertrocknetes Gras säumt den Weg.

Ich überwinde meine Höhenangst und gehe auf der Deutschherrnbrücke über den Main nach Sachsenhausen. Unter der Eisenbahnbrücke eine kleine Party. Technoklänge schallen über das Gelände, bis sie vom Rattern einer Regionalbahn übertönt werden. Ein Ausflugsschiff, Menschen auf „Wasserfahrrädern“, der Pegel des Mains sieht noch nicht besorgniserregend aus. Am Deutschherrnufer findet ein Japanisches Kulturfest statt. Das will ich mir ansehen. Weiße Plastikplanen begrenzen das Gelände, ein Zeltgebirge ragt über die Barriere hinaus. Es wird anscheinend Eintritt verlangt, eine lange Schlange am Einlass. Eine hermetische Veranstaltung. Ich gehe weiter. Auf der Frankfurter Seite, am Ende der Ignaz-Bubis-Brücke, das Literaturhaus im Kontrast zum Schwesternheim des Hospitals zum heiligen Geist. Bis zum Ende des Wiederaufbaus der ehemaligen Frankfurter Stadtbibliothek und dem Einzug des Literaturhauses 2005 ist das Schwesternheim nicht weiter aufgefallen. Jetzt könnte der Kontrast kaum größer sein. Als mir erstmals das brutalistische Hochhaus auffiel war mein erster spontaner Gedanke: Abreissen! Mittlerweile hat sich mein Blick verändert und ich denke beim Anblick dieses Gebäudes über Hässlichkeit und ihre Funktion für die Stadt nach. Gedanken, die vertieft werden müssen, aber ich bin sicher, dass Hässlichkeit in Städten eine wichtige Funktion hat. Wollen wir in Städten leben, die so aussehen wie die „Neue Frankfurter Altstadt“? Ich sicher nicht.

Mit diesen Gedanken gehe ich weiter und wechsle über die Alte Brücke. Hier fällt linkerhand ein sehr schönes, schmales Gebäude mit spitzem Dach auf, der Portikus. Die Fassade dieser Außenstelle des Frankfurter Städel Museums ist in traditionellem rotbraunem Sandstein gehalten. Ein typischer, stadtbildprägender Baustoff in Frankfurt. In diesem Haus wird jungen Künstlerinnen und Künstlern die Gelegenheit gegeben, ihre Arbeiten zu präsentieren. Der Eintritt ist frei. Auch ein Tipp für alle, die am Main unterwegs sind und ein Bedürfnis verspüren. Dort gibt es eine Toilette und die ist sauber. Ein älterer Mann mit freiem Oberkörper, Dutt und Skateboard auf dem Gepäckträger seines Damenrads, radelt vorbei. Aus einer Box am Rad dröhnt Musik, itˋs a wonderful world. Am anderen Ende der Brücke grüßt auf der rechten Seite überlebensgroß Karl der Große. Er tut dies mit Schwert. Das ist bemerkenswert, denn oft wird das Schwert geklaut, was ihm den Spitznamen Karl ohne Schwert einbrachte. Der Schaden hielt sich dabei in Grenzen, der Karl auf der Brücke ist eine Kopie. Das Original steht im Historischen Museum.

Das Caricatura Museum bewacht den Dom. Zwei Einkaufswagen, gefüllt mit allerlei Spielgerätschaften für den freien Gebrauch, mitten auf dem für Autos gesperrten Mainkai, fallen auf. Niemand spielt zu dieser Stunde. Etwas weiter vollführten einige Skater ihre Kunststücke und weisen auf ihr Anliegen hin. Den Eingang zur Stadt markiert das Historische Museum, ein Hingucker, eine Wohltat für die Augen, dieses Gebäude. Ein Besuch lohnt immer. Auf dem Römerberg eine Kundgebung von Falun Gong. Die Neuen Altstadt bevölkert von Touristen. „Das ist aber schön geworden.“. Schnell weg. Ich quere die Braubachstraße, die in den letzten Jahren an Aufenthaltsqualität enorm gewonnen hat, seit dort Parkplätze zugunsten von Gastronomie, Bänken und Fahrradständern wegfielen. Es fehlen allerdings einige Bäume. Den einzigen Schatten spenden die Schirme der anliegenden Gastrobetriebe.

Beim Gang durch die Kleinmarkthalle mit ihrem verlockenden Angebot und den provinziellen Öffnungszeiten (Werktags bis 18 Uhr, Samstags bis 16 Uhr) hole ich mir etwas Kühlung. Die Weinstube des Rollanderhof im ersten Stock ist gut gefüllt, ebenso wie der Vorplatz, der Liebfrauenberg. Dicht an dicht stehen die Menschen, Sekt und Wein in der Hand. Oder auch einen chönen „Apfel-Champus“ für nur 5,- €. Am Regionalladen wird eins meiner Bücher feilgeboten. Ich habe nie einen Pfennig Honorar dafür gesehen. Weit bis zum Markt an der Konstablerwache ist es von hier aus nicht mehr. Zumindest Donnerstags und Samstags ist dies der schönste Ort Frankfurts. Zunächst jedoch führt der Weg über die Töngesgasse, vorbei an einem mächtigen, und häßlichen, Gebäude, dem Parkhaus an der Konstablerwache. Riesige Häuser in bester Innenstadtlage, für Autos, nicht für Menschen. Da stimmt was nicht. Auf dem Dach wird gefeiert. Und bei diesem Gebäude relativiere ich meinen Wunsch nach umgehenden Abriss nicht. Das ist destruktive Hässlichkeit. Dazu passt, dass der Gehweg vor dem Parkhaus vollgemüllt ist mit diesen elektrischen Krücken für Fußlahme.

Endlich der Markt. Ich stärke mich beim Bauer Stranz mit einem Handkäsbrot und einem frisch gepressten Apfelsaft. Den Salat dazu gabˋs gratis. Es folgt ein leckeres Odenwälder Bier. Dann der Heimweg nach Bornheim. Der Tag endete in netter Begleitung auf der Bernemer Kerb mit Rock ˋn Roll. Der Wermutstropfen war, dass meiner Begleitung, während sie ausgelassen auf Tisch und Bank tanzte, der Geldbeutel aus dem Rucksack geklaut wurde.*

* Der „geklaute“ Geldbeutel ist wohl wieder aufgetaucht.

Spaziergangstagebuch 9

Auf dem Hölderlinpfad von Bad Homburg nach Frankfurt.

16.06.2022

Schon seit einiger Zeit habe ich vor gehabt, diesen 22 km langen, ausgeschilderten Pfad auf den Spuren Hölderlins zu gehen. Und ich wollte ihn genau in dieser Richtung gehen, von den Hängen des Taunus nach Frankfurt, die Skyline im Blick. Es ist der erste geführte Spaziergang in diesen Tagebüchern. Das Wetter war perfekt, das Neuneuroticket ermöglichte eine preiswerte Anreise. Die geschenkte Thermostasche einer Freundin kam erstmals zum Einsatz. Sie ist gut für Picknick geeignet, Gläser und Teller (aus Kunststoff) ebenso vorhanden wie Bestecke und Servietten. Ich befüllte eine halbliter Wasserflasche mit Riesling, eine andere mit Wasser, kaufte ein Stück Fleischwurst, zwei Brötchen, packte Senf und einen Apfel dazu und los ging es. Zunächst verpasste ich die U-Bahn, musste daher eine halbe Stunde an der Konstablerwache auf die nächste S-Bahn warten. Es war Fronleichnam, dieser überflüssige Feiertag. Auf dem Plateau der Konstablerwache standen etliche Buden, Flohmarkt. Wie hässlich doch dieser Platz ist, wenn kein Markttag ist, dachte ich. Aber ich konnte mir mit diesem Flohmarkt etwas die Zeit vertreiben. Flohmärkte locken mich meist nicht.

Dann war ich endlich in Bad Homburg. Der Pfad beginnt am Bad Homburger Schloss in der Innenstadt. Darauf verzichtete ich, er führt auch unmittelbar am Bahnhof vorbei.

Schnell entdecke ich den ersten markanten, von Hans Traxler gezeichneten, Wegweiser. Zunächst wird der Spaziergänger durch ein Industriegebiet geleitet, hinter den Zweckbauten Kirch- und Schlossturm der Stadt zu sehen. Ab dem Ausfluglokal Kronenhof, es gibt hier ein gutes, selbst gebrautes Bier, geht es für die nächsten Kilometer über landwirtschaftliche Wege durch Felder und Wiesen. Rechts der Taunus, am Horizont die Frankfurter Skyline. Nirgendwo Schatten oder eine Bank, auf der es sich rasten ließe. Der Weg passiert einen Tierfriedhof. Noch nie hatte ich eine solche Ruhestätte für des Menschen beste Freunde gesehen. Er war liebevoll gepflegt.

Es war heiß, die am Vortag gekaufte Sonnenschutzcreme hatte ich vergessen, nicht jedoch den kürzlich erworbenen Schlapphut. In Kombination mit einem weißen Leinenhemd war es jedoch sehr gut zu ertragen. Der Hut war meine beste Anschaffung der letzten hundert Jahre. Ohne ihn wär´s mir nicht gut ergangen. Hölderlin trug auf seinen monatlichen Gängen nach Frankfurt sicherlich auch einen Hut. Es heißt, er hätte die Strecke in drei Stunden zurückgelegt und sei am selben Tag wieder zurück gegangen. Diese Strapazen nahm er nur in Kauf, um seine Geliebte Susette Gontard zu sehen und gegenseitig die Briefe des letzten Monats auszutauschen. Hölderlin war Ende des 18. Jahrhunderts bei der Kaufmannsfamilie Gontard als Hauslehrer beschäftigt. Als sich zwischen der Dame des Hauses, Susette (Suzette), und ihm eine Liason anbahnte, blieb das dem Hausherren nicht verborgen. Er feuerte Hölderlin umgehend. Dieser fand Aufnahme bei einem Studienfreund in Bad Homburg. Susette (Suzette) Gontard ging als Diotima in die Literaturgeschichte ein. Sicher ist, dass Hölderlin nicht den gleichen Weg nutzte, den ich jetzt ging. Damals sah die Landschaft noch völlig anders aus. Es gab keine Auto- und Eisenbahn, keine asphaltierten Wege, keinen Stadtteil Riedberg und keine Frankfurter Skyline. Der Hölderlinpfad versucht daher, den Wegen des Dichters annähernd zu folgen.

Ich hoffte auf eine Sitzgelegenheit, am besten mit einem Tisch. Aber es sollte dauern. Erst im neuen Stadteil Riedberg, von dem ich bislang viel Schreckliches gehört habe. Dort war ich hingegen noch nie. Ich fand, von Norden kommend ein einladendes Viertel, ganz offensichtssichtlich für junge, und wohlhabende, Familien mit Kindern geplant. Die Vielzahl von Spielplätzen deutete darauf hin. Außerdem viel Grün, große Insektenwiesen und ein kleiner Park mit einem Weiher, Kätcheslachpark, so der merkwürdige Namen der Grünanlage. An einem der Spielplätze fand ich eine Bank, leider nicht im Schatten und ohne Tisch. Aber egal, ich wollte etwas rasten, essen und trinken. Dort machte ich mein Picknick, aß Wurst, trank Wasser und Wein. Das tat gut. Nach einer Dreiviertelstunde gings weiter.

Zunächst verlor ich den Pfad, hatte einen Wegweiser übersehen. Das gehört dazu, Verlaufen ist ein Charakteristikum von Spaziergängen. Wer nicht geht, kann sich auch nicht verlaufen. So lernt man die Welt kennen, quasi allein auf sich gestellt. Ich fand den kleinen Umweg durch diesen Teil von Riedberg durchaus interessant und freute mich an dem schönen ruhigen Weg durch hohe Insektenwiesen. Dann kehrte ich um und begab mich wieder in die wohlbehütete Obhut von Herrn Hölderlin, bzw dem nach ihm benannten Pfad. Grün ging es weiter bis zum alten Flugplatz Bonames. Dieser, seit 30 Jahren stillgelegte Flugplatz ist Teil des Frankfurter Grüngürtels, der sich rund um die Stadt zieht. Er wurde einst von der amerikanischen Armee genutzt, bis er 1992 stillgelegt wurde. Bis vor einigen Jahren gab es dort ein schönes Restaurant, in dem sozial benachteiligte Jugendliche beschäftigt wurden und eine Ausbildung machen konnten. Jetzt ist dort nur noch ein Kiosk zu finden, mit dem entsprechenden Angebot. Getränke aus Flaschen, Eis, Bratwurst und den schlechtesten und teuersten Apfelwein Frankfurts. Ein dünnes Gesöff, mit Wasser gespritzt, kostet drei Euro. Es versteht sich, dass er nicht geschmeckt hat. Aber ich konnte an einem Tisch sitzen und ein Klo gabs auch.

Nach kurzem Stopp setzte ich meinen Weg fort. Zunächst sehr schön am Uferweg der Nidda bis es dann nach rechts ging in Richtung Innenstadt. Den schönsten Teil des Pfades hatte ich hinter mir. Jetzt folgte städtische Ödnis, und gelegentlich verlor ich den Weg. Die Wegweiser waren mal auf der einen Seite der Straße angebracht und dann wieder auf der anderen. Ich folgte also der Homburger Landstraße und landete irgendwann auf der Eschenheimer Landstraße. Ab hier kümmerte ich mich nicht mehr um irgendwelche Hinweise, sondern ging geradeaus bis zum Hauptfriedhof. War nicht mehr weit bis Bornheim. Der eigentliche Hölderlinpfad endet am Goethehaus, wieso auch immer. Ohne Goethe geht’s nicht in Frankfurt. Den Hauptfriedhof hatte ich schon oft gequert, freilich ohne ihn gut zu kennen. Stattete Siegfried Unseld einen Besuch ab und entdeckte das neu aufgeschüttete Grab von Emil Mangelsdorff, dem kürzlich verstorbenen Jazzmusiker. Anschließend zum Hauptfriedhof geht’s durch die Grüne Lunge, dieser grünen Oase am Rande des Günthersburgparks. Die einst geplante Bebauung dieses Areals liegt nach dem Wahlsieg der Grünen bei der letzten Kommunalwahl glücklicherweise auf Eis. Durch den Günthersburgpark mit seinen vertrockneten, braunen Wiesen gehe ich weiter nach Bornheim. In der Gaststätte Weida schmeckt das kalte Bier besser als sonst.

Spaziergangstagebuch 8

16.03.22

Kein schöner Spaziergang

Ernst,May-Platz, Wallanlagen, Opernplatz, Mainzer Landstraße, Hoechst

Leider war das Wetter nicht so sonnig wie angekündigt. Eher trüb und diesig präsentierte sich der Himmel. Saharastaub über Frankfurt. Aber egal, ich zog meine alten Laufschuhe an und machte mich auf den Weg. Es war trocken und das ist das Wichtigste.

Angeregt durch einen Artikel in der FAZ wollte ich die Mainzer Landstraße entlang spazieren, bis nach Hoechst. Über Hoechst hörte ich immer nur, dass die Altstadt sehr schön sei. Es ist lange her, dass ich dort war. Und von der Mainzer kannte ich nur den Abschnitt im Bankenviertel und ein wenig die Gegend rund um die Galluswarte. Erst am Opernplatz zu starten kam mir nicht in den Sinn. Es war klar, dass ich von meiner Wohnung losgehen würde, am Ernst-May-Platz. Von Osten ganz nach Westen, einmal durch die Stadt.

Zunächst altbekannte und oft gegangene Wege. Beim Fein, einem Lieblingsort, zur Stärkung einen Cappuccino. Weiter durch die Wallanlagen, der Frühling zeigte sich, jedoch noch vorsichtig. Endlich am Opernplatz. Anschließend die Taunusanlage, früher Treffpunkt sämtlicher Junkies der Stadt, mittlerweile eine aufgeräumte Grünanlage mit teilweise schrecklicher Kunst inmitten des Bankenviertels. Direkt anschließend die Mainzer Landstraße. Acht Kilometer auf einer weitgehend schnurgeraden, wenig attraktiven Straße lagen vor mir. Keine sehr verlockende Aussicht. Aber einen schönen Spaziergang hatte ich auch nicht erwartet, im besten Falle einen interessanten und überraschenden.

Die Skyline interessiert mich nicht so besonders. Klar, ein beliebtes Photomotiv, das ich aber nur selten ablichte, andere machen das zuhauf. Von diesen Häusern geht kein Leben aus. Nachts sind sie tot. Mich interessiert Frankfurt da, wo es aussieht wie Hannover, Stuttgart oder irgendeine beliebige andere Stadt. Aber wenn ein angenagtes Hochhaus der Sparkasse aus den sechziger Jahren seinen letzten Tagen entgegengeht, während im Hintergrund der Hauptturm des Quartiers „Four“ in den Himmel wächst, dann finde ich dass das schon ein Photo wert ist. Hier zeigt sich Umbruch, Anfang und Ende sowie Veränderung. Ob zum Besseren sei dahingestellt. In Höhe der Deutschen Bank ein weißes Ghoastbike, in Gedenken an einen 57-jährigen Radfahrer, der dort am 26.09.2019 zu Tode gekommen ist. Leider sind viele dieser Räder am Straßenrand zu sehen. An der Hausnummer 23 fällt ein Rohbau auf. Bautätigkeit ist keine zu beobachten. Die vierspurige Mainzer dient auch als Grenze zwischen dem vornehmen Westend und dem etwas verruchten Bahnhofsviertel.

Südlich, in der Verlängerung der Moselstraße, ist der Holbeinsteg zu sehen, der vom Bahnhofsviertel zum Städel über den Main führt. Kurz Fluchtreflexe, vielleicht doch eher längs des Mains nach Hoechst zu spazieren. Aber ich blieb an dieser ungastlichen Straße. Nach wenigen Metern der „Platz der Republik“, eine riesige Kreuzung. Sinnbildlich für die Autorepublik Deutschland. Ich muss an den „Marktplatz“ in Offenbach denken, der ja auch alles andere ist als ein Marktplatz, sondern ebenfalls eine stark befahrene Kreuzung. Aber wenigstens wird die ja inzwischen umgebaut. Rechts, in der Düsseldorfer Straße, ist gut das alte Polizeipräsidium zu sehen, dass ebenfalls dem Tod geweiht ist. Vor vielen Jahren war ich mal drin. Ich arbeitete noch beim Suhrkamp Verlag und in diesem Gebäude fand die Buchmessenparty des Verlages statt. Es war sehr charmant.

Ab diesem „Platz“ verändert sich die Mainzer, das Geldviertel endet hier. Weniger Bankentürme, weniger Glitzer, weniger edle Restaurants. Vorbei an Baustellen, von Norden ist das Skyline Plaza zu sehen, das Einkaufszentrum, das den Beginn des Europaviertels markiert (im Spaziergangstagebuch 6 das Thema). Gerne hätte ich im Café Ernst bei Kaffee und Kreppel pausiert, aber es war geschlossen. Also weiter, vielleicht ergab sich ja auf dem weiteren Weg eine andere Gelegenheit. Rechterhand schweift der Blick ins Gallusviertel. Erneut Fluchtgedanken, ob ich nicht meinen Weg über die parallel führende Frankenallee weiterführen soll. Aber ich blieb der häßlichen Straße treu. Habe im Laufe der Jahre gelernt, dass Häßlichkeit zu einer Stadt gehört, mithin wichtig ist. Aber das wäre ein eigenes, wohl auch sehr interessantes Thema, dass mir bereits länger im Kopf rumspukt. An Baustellen vorbei geht es weiter. Der Baukran ist das wahre Wahrzeichen Frankfurts, so ähnlich hatte es Mark-Stefan Tietze bereits 2014 in den Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten formuliert. Das Gebäude der FAZ mit seiner Klinkerfassade folgt, bald auch die Galluswarte, natürlich mit Wasserhäuschen. Sie kann einem leid tun, auf ihrer engen, vom steten Autoverkehr umnebelten Verkehrsinsel. Ähnlich einem Leuchtturm, der Sturm und Wellen trotzt. Einige Unentwegte stehen trotzdem da und trinken ihr Binding.

Hinter Autohäusern versteckt eine eindringliche Mahnung. Erneut ändert die Straße ihren Charakter. Ab hier verläuft sie zweispurig, von Wohnhäusern gesäumt. Vor einer Mansardenwohnung trocknet Wäsche auf dem Dach, es ist windstill. Der Schriftzug der Adlerwerke überragt die Gegend. Der ehemals größte deutsche Fahrradproduzent, später auch von Nähmaschinen und Autos, diente Nazideutschland als wichtiger Hersteller für Rüstungsgüter, mit massivem Einsatz von Zwangsarbeitern. Erfahrung mit der Produktion für Rüstungszwecke hatte die Fabrik bereits im ersten Weltkrieg gesammelt. Ab dem August 1944 wurde in den Adlerwerken eine Außenstelle des KZ Natzweiler eingerichtet, unter dem Namen Katzbach. Die über 1600 Insassinnen und Insassen wurden als Zwangsarbeiter missbraucht, oft bis zum Tode. Kaum jemand überlebte. Es ist sehr lohnend sich näher mit der Geschichte dieser Fabrik zu beschäftigten. Am 25 März 2022 wird der Geschichtsort Adlerwerke eröffnet.

Folgen wir unserer Straße weiter nach Westen. Autoglas Reifen 24, Dream Haar Studio (ohne Termin), Sportsbar, Döner, Chinarestaurant, Mainzer Grill, Alinis Frischer Fisch und Fisch Imbiss, Pizzeria Prago, Main Chicken. Im Euro Jackpot locken 89 Mio Euro. Die Mainzer wird zur Ausfallstraße mit dem typischen Angebot. Und auch wieder ein Plakat, dass zeigt, weshalb ich froh bin, Fan dieses Vereins zu sein. Charakterlose Wohnriegel erinnern an das nahe Europaviertel. Linkerhand eine kleine Grünanlage, verziert mit einem überaus häßlichen Kunstwerk. „NICHTS BLEIBT WIE ES IST“; lautet die Inschrift. Ich wünsche es dem Klotz. Der Titel des Werks indes macht Hoffnung: „LIVING STONE“. Denn was lebt, stirbt auch.

Überraschend plötzlich eine Reihe von Siedlungsbauten an der Schloßborner Straße. Alte Hellerhofsiedlung ist laut Wikipedia die korrekte Bezeichnung für diesen Ort. Sie wird in der Liste der Kulturdenkmäler des Gallus geführt. Ab hier wird die Mainzer wieder vierspurig. Ein Anwohner harkt, mit T-Shirt und Turnhose bekleidet, den Vorgarten des Mehrfamilienhauses. Ich friere beim Anblick. Weiter geht`s, Tankstellen, Waschanlagen, Burgerbuden, ein Baumarkt säumen meinen Weg. Die Straßenbahnhaltestelle Mönchhofstraße. Oft sehe ich diesen Namen, denn er prangt auf den Straßenbahnen der Linie 14, die am Ernst-May-Platz in Bornheim endet. Von dort fährt sie bis zur dieser ominösen Mönchhofstraße, der Endstation im Westen. Wo das wohl ist, habe ich mich immer gefragt. Jetzt weiß ich es und ich weiß auch, dass es nicht lohnt dort hin zu fahren. Aber ich bin die ganze Strecke der 14 abgelaufen und das macht mich ein kleines bißchen stolz. Hier hört die Stadt auf. Kleingärten mit Fähnchen von Fußballclubs und Heimatländern. Oft auch so zerfleddert, dass nichts mehr zu erkennen ist. In einer Kleingartenanlage eine Werbetafel für die Arabesque Shisha Bar & Lounge. Ich kann sie nirgends entdecken. An einem gesichtslosen Wohnblock die Ukrainische Flagge am Balkongeländer. Die Gegenwart ist überall.

Plötzlich der Stadtteil Nied, ein Ort, den ich nur aus dem Zugfenster kenne. Ein-zwei Mal, als ich mit Kolleginnen und Kollegen als Staffel am Frankfurt Marathon teilgenommen habe – lange ist es her – war in Nied die Wechselstation, oder wie das hieß. Das war`s. Aber immerhin darf ich hier für ein paar hundert Meter der furchtbaren Straße entfliehen, denn sie ist durch einen Wall von dem Ort ein wenig abgetrennt. Zu Hören natürlich immer noch, zu riechen auch. Aber es wird fast schon idyllisch. Als ich wieder auf die Mainzer treffe, werde ich von einem UFO begrüßt. Es gehört zum Jugendzentrum Nied.

An der Kirche Nied lässt mich die Mainzer frei, ich darf zum Mainufer. Erleichterung und Aufatmen. Hoechst schon in Sichtweite. Es dauert nicht mehr lange. Bald das Schloss und der Schlossplatz. Ich habe mein Ziel erreicht. Hier ist es wirklich sehr schön. Ich kehre in eines der drei Wirtshäuser ein, finde einen Platz in Thekennähe und genieße das Zwickelbier vom Hofbräuhaus. Zur weiteren Stärkung bestelle ich eine Gulaschsuppe. Die erinnert allerdings an solche, die an Autobahnraststätten angeboten werden. Allerdings war ich schon seit Ewigkeiten an keiner Autobahnraststätte, vielleicht tue ich ihnen Unrecht. Aber wieso können die Leute in einem solchen Lokal ihre Suppe nicht selbst zubereiten? Naja, das Bier hat entschädigt.

Zurück geht`s mit der S-Bahn. Ich habe 15 Km in den Beinen und die Stadt wieder etwas besser kennen gelernt.

Spaziergangstagebuch 7

13.02.22

Eine runde Sache. Von Bornheim, durch die Gartensiedlung Riederwald, das Enkheimer und Berger Ried nach Bergen und über den Lohrberg und durch Seckbach zurück nach Bornheim.

Der Sinn stand mir eher nach Couch als nach Spaziergang. Ich hatte hundsmiserabel geschlafen und war sehr müde. Das Wetter sprach jedoch eine andere Sprache. Sonne, fast wolkenlos. Also überwand ich den Schweinehund, zog die Schuhe an und stiefelte los. Klarer Himmel, die Sonne hatte schon etwas Kraft, der Frühling streckte seine Fühler aus. Ich ließ mich gerne einfangen. Klare Luft, weiter Blick. Im Norden sogar die Windräder der Hohen Straße zu erkennen. Wie oft bin ich dort schon vorbeigeradelt. Das Radfahren darf in diesem Jahr nicht wieder zu kurz kommen, wie im letzten. Ich ging nach Osten, zunächst am Bornheimer Hang das Stadion des glorreichen Viertligaclubs FSV Frankfurt passiert. Einige Jahre hatte der Verein in der zweiten Liga gespielt, da war ich gelegentlich auch mal im Stadion. Als Knirps spielte ich auch mal Fußball, bei Germania 94 in Sachsenhausen. Immer wenn ich nicht wusste, wohin mit dem Ball, und das war meistens so, spielte ich ihn ins Aus. Ich habe wohl auch nur einmal gespielt, weiß auch nicht mehr, ob ich später noch zum Training gegangen bin. Vielleicht hatten meine Eltern ein Einsehen und gemerkt, dass Fußball nichts für mich ist. Eventuell hat sich damals schon meine Abneigung gegen Vereine und regelmäßiges Training entwickelt. Eine Amsel scharrt im trockenen Laub.

Ich entfliehe der grässlichen Straße Am Erlenbruch und tauche ein in die schöne Gartensiedlung Riederwald, bis sie mich am Torhaus wieder ausspuckt. Mir lief leicht die Nase. Ich hatte aber tatsächlich Taschentücher vergessen und fragte mich, wie das passieren konnte. Seit Tagen ist meine Nase im Dauerlaufmodus. Nun gut, es war so.

Eine rot-weiss gestreifte Schranke markiert den Eingang zum Enkheimer Ried. Die nächsten Kilometer geht es nur durch Natur. Vor ungefähr einem Jahr war ich zum ersten Mal hier, auch in dieser Jahreszeit. Kahle Äste überall, die aber einen weiten Blick gestatten. Eine einsame Schaukel baumelt an einem Ast. Radfahrer überholen mich, ich gehe auf der Strecke nach Maintal und weiter nach Hanau. Bald werde ich hier mal mit dem Rad entlangfahren. Das Enkheimer Ried ist Teil des Grüngürtels rund um Frankfurt. Innerhalb des Grüngürtels fallen immer wieder sehr lustige Skulpturen auf, für die Künstler der Neuen Frankfurter Schule verantwortlich zeichnen. Hier wacht in luftiger Höhe die dicke, grüne Raupe von F.K Waechter. Vor einem Jahr bin ich achtlos drunter hergegangen. Weitere bekannte Exponate sind das Ich-Denkmal von Hans Traxler kurz vor der Gerbermühle am Main oder das Grüngürteltier von Robert Gernhardt an der Nidda. Achim Frenz, der Leiter des Caricatura Museums in Frankfurt, schrieb einst in einem Facebook-Kommentar, ohne die Spaziergangswissenschaft, die der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt entwickelt hat, würde es die komische Kunst im Grüngürtel nicht geben.

Das Enkheimer Ried ist ein Paradies für Vögel. Ich lerne, dass Nachtigallen Bodenbrüter sind, weshalb Hunde an der Leine zu führen sind. Der starke Regen der letzten Zeit hat überall seine Spuren hinterlassen. Ein Familie mit kleinem Kind trottet lautstark den Weg entlang. Ich beeile mich, Distanz zu ihnen zu gewinnen. Der Regen der letzten Tage hat überall seine Spuren hinterlassen. Aus dem Gehölz ragt der niedrigste Hochsitz, den ich jemals gesehen habe. Ein Stück weiter taucht rechterhand ein kleiner See auf, der mir, ähnlich der Dicken Raupe, im letzten Jahr auch entgangen war. Auch hier war Unachtsamkeit der Grund. Der Weg endete dann. Ich stand vor einer Straße und einer Baustelle. Wo war ich? Das Navi leitete mich auf den rechten Weg zurück. Es war nicht weit. Ich hatte mich verlaufen, dabei aber einen mir bislang unbekannten See entdeckt.

Die Zahl der Sonntagsspaziergänger wächst. Ein unsichtbarer Specht trommelwirbelt durch den Wald, Rechts mündet der Nachtigallenweg, der Riedweiher liegt ruhig. Ich verlasse das Enkheimer Ried und überquere die imaginäre Grenze zum Berger Ried. Auf dem Hügel thront Bergen, die bessere Hälfte von Bergen-Enkheim. Von nun an geht`s bergan, auf teils schlammigen Wegen.

Der Blick ist frei, über Skyline bis Stadtwald. Winzig ragt der Goetheturm empor. Dahinter der Odenwald, im Osten das Kraftwerk bei Hanau und am Horizont die Ausläufer des Spessart. Leider muss ich den Weg verlassen und der Straße nach Bergen bergan folgen. Am Straßenrand ein „Unfalldenkmal“. In der FR lese ich am nächsten Tag, dass es eine temporäre Aktion ist, zur Mahnung an Autofahrer, sich an Geschwindigkeitsgrenzen zu halten. Initiiert von irgendwelchen BFF Leuten, was mich sofort stutzig macht. Sinnlos wohl auch, denn lesen können die mahnenden Hinweise nur Fußgänger und von denen gibt`s hier nicht viele. Die meisten brettern mit Autos vorbei und werden die Installation wohl kaum wahrnehmen. In einem Vorgarten ein Wegweiser, der die Entfernung nach Berlin anzeigt. Sehnsuchtsvolle Gedanken, ich muss wohl bald mal wieder hin. An der Marktstraße kaufe ich mir beim Wasserhäuschen ein Bier. Wegbier gehört normalerweise nicht zu meiner Ausstattung, aber ich habe Durst und es schmeckt. Bald bin ich auf dem Lohrberg und werde mit einem beeindruckenden Ausblick belohnt. Ein Mann mit Helm schlängelt sich auf einen elektrischen Skateboard über die Wege. Wieso? Die Lohrbergschänke erwartungsgemäß dicht belagert. Ich gehe weiter durch eine Kleingartensiedlung bergab nach Seckbach. Eine gute Freundin hatte dort einst einen Garten. Ich war einmal da, wir haben in der Sonne Tee getrunken. Die Autobahnbrücke ist das wenig attraktive Tor nach Bornheim. Ein Stück am Bornheimer Hang, ich nähere mich meinem Ausgangspunkt. Frühlingsboten sprießen am Wegesrand. In der Gaststätte Weida gönne ich mir ein weiteres Bier. Ein schöner Spaziergang endet und ich bin froh, den Verlockungen der Couch nicht erlegen zu sein

Spaziergangstagebuch 6

21.01.22

Von Ost nach West.

Schon seit einiger Zeit habe ich vor, das abseits aller meiner Wege gelegene, sogenannte „Europaviertel“ im Frankfurter Westen zu erkunden. Der konkrete Anlass war ein neues Hochhaus an der Messe, das fast fertig ist. Mehr dazu später. Gutes Spaziergangswetter an diesem Freitag. Sonne-Wolken-Gemisch, kühl und trocken. Die Platanen warfen lange Schatten auf die erfreulich breiten Gehwege an der Wittelsbacher Allee. Selbst die Autohölle zeigte sich freundlich. Bei Camino stärkte ich mich mit einem Cappucchino. Dann zunächst durch die mir sehr vertraute Gegend, vorbei an einem kämpferischen und auch amüsanten Graffitti, Richtung Nordend spaziert. Der Aufforderung von Peng kann ich leider nicht nachkommen. Wie so oft gibt es auch hier in manchen Höfen Kleinode zu entdecken.

Die Balkonbrüstungen am Grünen Haus an der vierspurigen Nibelungenallee erinnern mich an Frontscheiben von DDR-Bussen. Keine Ahnung weshalb. An der dort gelegenen Fußgängerampel wartete ich neben einer jungen Frau bei Rot. Es war nicht nötig, kein Auto in Sicht. Ich hatte es nicht eilig. Ein Passant kümmerte sich nicht um die Ampel und querte von der anderen Seite. Auf unserer Höhe raunte er „Lasst euch nicht impfen, geht bei Rot!“. Er muss sich sehr rebellisch gefühlt haben. In der Egenolfstraße warten eine ausgesetzte kleine Vase und ein Kerzenständer auf neue Besitzer. Ich hatte kein Interesse, aber durchaus gelegentlich von derartig freigelassenen Dingen am Wegesrand profitiert. Erst unlängst kam so ein kleiner Klapphocker in meinen Besitz, der jetzt im Bad eine sinnvolle Verwendung gefunden hat.

Ich werde etwas wehmütig, bin ich doch durch Nordendstraßen unterwegs, die ich gerne auf meinen Gängen zur Nationalbibliothek genutzt habe. Nichts vermisse ich mehr, als die spontanen, jederzeit möglichen Besuche in der Bibliothek, und die Spaziergänge dorthin. Das war vor Corona. Heutzutage muss man sich ein Woche vorher anmelden und dann auch noch ein Zeitfenster wählen. Das passt überhaupt nicht in mein Leben. Ein verlassener Balkon im Erdgeschoss, bunte Abdrücke von Kinderhänden neben toten Fenstern erinnern an Leben.

Bereits im Westend. Bin jetzt auf Straßen unterwegs, auf denen ich damals zum Suhrkamp Verlag geradelt bin. Die Wehmut steigt. Damit hatte ich nicht gerechnet. So vieles ist mir vertraut. An der Straße Im Trutz weisen zwei merkwürdig geformte Sitzmöbel auf im Gebäude dahinter arbeitende „Design Offices“. Ein Stück am Grüneburgweg, kurzer Stopp für einen Blick in das Schaufenster der guten Buchhandlung Marx & Co. Die Straße soll im Laufe des Jahres zu einer fahrradfreundlichen Nebenstraße umgestaltet werden, wie auch einige andere. Im Hintergrund das ehemalige IG Farbenhaus. In Frankfurt noch immer der meist genannte Namen für das Gebäude. Nicht etwa Goethe Universität, die dort seit einigen Jahren untergebracht ist. Erbaut wurde dieses mächtige Gebäude von Hans Poelzig in den Jahren 1928 – 31. Sicherlich ein Vorbild für die Nazis und ihre Vorstellung von Architektur, der Flughafen Tempelhof ist dafür ein gutes Beispiel. Ich mag es, aber ich mag auch den Flughafen Tempelhof.

In der großbürgerlichen Friedrichstraße empört ein offensichtlich schon länger dort stehendes Auto andere Autofahrer. Er blockiert wohl zwei Parkplätze. Das ist es, was Autos gemeinhin so tun, Plätze blockieren. Am Palmengarten vorbei, war lange nicht da. In der Siesmeyerstraße linkerhand die Villa Bonn. Ende des 19. Jahrhunderts für den Bankier Wilhelm Bernhard Bonn gebaut. In meinen Anfangszeiten bei Suhrkamp Anfang der zweitausender Jahre fanden dort Empfänge und Buchhändlerabende statt. Das hörte zum Glück bald auf, ich habe das Gebäude gehasst. Erdrückend, bombastisch, es fehlten noch einige Hirschgeweihe an der Wand oder gar exotischere Trophäen. Schließlich die Mendelssohnstraße, ich nähere mich der Messe, Hochhäuser weisen den Weg. Gegenüber der Festhalle fristet ein stattliches aber totes Gebäude ein tristes Dasein. Das Dach war saniert, sonst nichts. Keine Anzeichen davon, es wieder zum Leben zu erwecken, nirgends. Der Hammering Man tut zuverlässig, was er tun muss. In der Festhalle holte ich im April 2021 meine erste Impfung ab, Astra.

Dann das neue Hochhaus. Es gefällt mir. Die Fassade interessant gerastert, und natürlich der kesse Überhang oben. Kleinigkeiten, die so viel bewirken. Es hat alle Chancen mein Liebling in der Skyline zu werden. Das Europaviertel ist nahe. Vorher Skyline Plaza angesteuert, erstmals. Im Hintergrund lauert Halle 3 der Messe, in der sich im letzten Jahr das Messegeschehen hauptsächlich abgespielt hat. Im Einkaufszentrum Cappucchino und Muffin zur Stärkung. Hat geschmeckt, die Bedienung war freundlich. Viel los war dort ansonsten nicht. Dann der Schock. Ich wusste ja, was mich erwartet, aber mitten drin zu sein ist schon was anderes. Die Europallee, im Volksmund längst „Stalinallee“ genannt. Sehr treffend. Der Begriff stammt wahrscheinlich von Dieter Bartetzko, dem leider viel zu früh verstorbenen Architekturtheoretiker, Kritiker und Autor der FAZ. In seinem Buch „Architekturstadt Frankfurt“ von 2014 hat er ihn für diese „Allee“ verwendet, zurecht. Ich denke nur, wie kann man so etwas bauen? Eine 60 Meter breite Straße, gesäumt von gleichförmigen und leblosen Kästen, leblos wie das ganze Viertel. Wenn die U-Bahn fertig ist, wird es wahrscheinlich mehr Grün geben, viel wird das nicht ausrichten. Ein Boulevard wird das nicht werden. Im Hintergrund überragt Halle 3 wie ein gigantisches Raumschiff oder ein Kreuzfahrtriese das Grauen.

Dann ein erlösender Blick nach links. Dort ist Leben, im Europaviertel nicht. Das Gallus, direkt nebenan. Vergleichbar mit Neukölln in früheren Jahren, jetzt die Verlockung. Das Kölner Eck ein Hoffnungspunkt. Ich gehe weiter. Hinter der Eisenbahnbrücke drehe ich um und fliehe. Ins Gallus. Gegensätze wie zwischen Ost und West. Mein Sympathien sind klar verteilt. Ich fühle mich regelrecht befreit, atme freier. Ein wenig Eisenbahnromatik tröstet das Auge. In einem unscheinbaren, nicht sehr gepflegten Gebäude, direkt an der „Mauer“ wie damals in Berlin gesagt wurde, verbirgt sich ein unvermuteter Galvanikbetrieb. Vor dem Kölner Eck freut sich ein einsamer Zecher an seinem Bier. Wieder unter Menschen.

In der Frankenallee ein gelber Gitterkäfig, ein Bolzplatz. Vor vielen Jahren habe ich dort auch mal gekickt, für etwa zwei Minuten. Länger hat mich die Trainerin nicht eingewechselt. Es ging gegen eine Kneipenmannschaft. Aber Fußball war da eher nebensächlich. Hauptsächlich wurde Bier getrunken und gelacht. Das nahe gelegene Wasserhäuschen freute sich über den Umsatz. Organisiert hatten das Ganze Jürgen Roth, der in der Nähe wohnt, und der Wirt einer griechischen Kneipe. Es war ein schöner und sehr lustiger Nachmittag. Roth hat über dieses „Spiel“ einen Artikel auf der Wahrheitsseite der TAZ untergebracht.

Ich bin auf dem Rückweg durch das Westend und mache einen Abstecher in die Lindenstraße. Die gigantische Gründerzeitvilla beherbergte in der Nazizeit Frankfurts Gestapozentrale. Eine Gedenktafel erinnert daran. Heute dient die Villa einer Bank als Geschäftssitz. Direkt daneben stand einst das Suhrkamphaus. Ein, wie ich fand, ganz schöner sechziger Jahre-Bau. Durchaus sanierungsbedürftig, aber gelungen. Ich habe in dem Gebäude einige gute Jahre verbracht. Ein Investor hat sich für Abriss und Neubau entschieden. Seit dem steht dort ein Gebäude mit Tiefgarage und teuren Eigentumswohnungen. Den Abriss des Suhrkamp-Gebäudes habe ich damals einen Monat lang zweimal täglich dokumentiert Einen Schwung Wehmut nehme ich noch mit, dann geht’s weiter durch den Kettenhofweg. Adorno wohnte hier einst. Soll auch in diesem Jahr in eine fahrradfreundlich Fahrradstraße umgestaltet werden.

Auf dem Opernplatz, dem Ort, an dem Frankfurt versucht, wie Paris auszusehen, erfreut ein Seifenblasenjongleur einige Kinder. Es ist Freitag, auf der Schillerstraße ist Wochenmarkt. Ich gönne mir ein Kochschinkenbrötchen von Schinken Becker und trinke bei Schoppe Otto heißen Apfelwein dazu. Es war besser als das Photo. Füllhalter Haizmann leider auch Vergangenheit, leere Fenster und auch kein überdimensionierter Montblanc Füller mehr, der zu Werbezwecken die Fassade zierte. Ich bin froh, ihn noch photographiert zu haben. Bald bin ich wieder in Bornheim.

Spaziergangstagebuch 5

29.12.21

Verregnete Nachtwanderung nach Offenbach.

Lange habe ich überlegt, ob ich losgehen soll. Das Wetter zeigte sich unfreundlich, immer wieder Regen. Es sind gute sieben Kilometer nach Offenbach. Stell dich nicht so an, sagte ich mir, schließlich hast du schon mal bei strömendem Regen mit dem Rad einen Alpenpass erklommen und dich dabei sehr gut, sogar euphorisch, gefühlt. Derart motiviert zog ich die Timberlands an (ich müsste sie dringend mal einfetten). Mit Regenjacke, Schal und Mütze konnte nichts passieren, zumal der Regen auch vor Kurzem aufgehört hatte. Kaum war ich aus dem Haus, später als geplant, das Telefon verlangte nach einer Ladung, fing es an zu regnen, aber nicht sehr stark. Mütze auf und los ging`s.

Ich hatte mich seit Tagen auf diesen Spaziergang gefreut, endlich war es soweit. Und gefreut habe ich mich besonders auf das Wiedersehen mit M, die in OF wohnt und kürzlich Geburtstag hatte. Meiner ist auch noch nicht so lange her. Darauf wollten wir anstoßen und Bescherung machen. Geschenke hatte ich wasserdicht verstaut.

Auf dem Festplatz tanzte ein Kran über dem Zirkus, der dort sein mächtiges Zelt aufgeschlagen hatte. Typische Musik drang nach außen. Wann war ich zum letzten Mal im Zirkus? Ich kann mich nicht erinnern. Am Röderbergweg oberhalb des Ostparks begegnete mir das Glück des Spaziergängers, und zwar in Gestalt eines Umzugkartons voller Schallplatten. Daran komm ich nicht vorbei. Der Inhalt war nicht allzu nass geworden und der Ertrag erfreulich. Zwei Alben von Police, eines von Prince, sowie eines von Spliff.* Die Achtziger grüßten. Neben dem Karton ein alter, kleiner Fernseher, bunt bemalt. Eine Hippieglotze. Hier wurde ein Jugendzimmer entrümpelt. Was andere wegschmeißen, erfreut wiederum manches Herz. Die Nacht (genau genommen war es früher Abend) hat ihren eigenen Reiz. Straßen und Hauseingänge verwandeln sich in geheimnisvolle Orte, das Leben hat sich in die Häuser zurückgezogen. Ich denke an Harry Potter, obwohl ich das nie gelesen habe. Aber ich stelle mir vor dass es bei Potters ähnlich aussieht. Am Ostbahnhof wird der Regen stärker, ich überlege die U-Bahn zu nehmen, denke an den Alpenpass und gehe weiter.

Selbst die Skyline versteckt sich im Dunst. Gefällt mir gut. Ohnehin schätze ich Photos der Skyline am meisten, wenn diese gar nicht zu sehen ist. Auch Familie Montez, Café, Club und Kunstort, wirkt verzaubert und verlockend. Ich habe Lust einzutreten, aber M wartet. Ein anderes Mal. Auch Honsel- und Osthafenbrücke zeigen sich festlich. Über die mächtige Deutschherrnbrücke rollt ein ICE stadtauswärts ins Nirgendwo. Es ist sehr dunkel am Mainweg, der Fluss flimmert. Ich gehe ganz rechts, bin dunkel gekleidet. Das kenne ich von manch nächtlicher Fahrt mit dem Rad. Oft sind andere erst im letzten Moment zu sehen. Aber es ist nicht viel Verkehr auf dem Uferweg, die Lage ist entspannt. Alle paar Meter bleibe ich stehen, um zu photographieren.

Die Nacht lässt mich nicht los. Einige Photos werden unscharf, haben aber wegen des Lichts trotzdem ihren Reiz. Ein Hotelschiff schwebt in die Kammer der Staustufe Offenbach. Die Gerbermühle in weihnachtlichem Gewand. Kurz darauf das Tor zu Offenbach, die Kaiserleibrücke. Sie wäre die kürzeste Verbindung von mir zur Nachbarstadt (Nein, ich schreibe nicht Verbotene Stadt. Offenbach-Bashing mache ich nicht mit.), aber ich hasse diese Brücke. Eine Autobahnbrücke, die zwar beidseitig einen Weg für Leute mit Rad oder Füßen bereithält, der ist aber gräßlich, ich habe es ein paar Mal versucht. Mittlerweile nehme ich gerne den Umweg über die Osthafenbrücke in Kauf, auch wenn mich das viel Zeit kostet. Gleich hinter dieser Brücke findet sich linkerhand am Mainufer ein grauer, unförmiger Klotz. Nichts deutet darauf hin, was sich hinter diesen Mauern verbergen könnte. Es ist nichts anderen als einer der berühmtesten Technoclubs der Welt, das Robert Johnson. Ein solcher Club braucht keine Transparente oder Leuchtschriften. Ich war nie drin, aber das liegt daran, dass ich ein alter Sack bin und Techno nicht meine Musik ist. Ein paar Meter weiter am Ufer der Hafen 2, ein städtischer Kulturort, gefördert von der Stadt. Konzertsaal, Kino, Café, Kneipe, Biergarten, Open-Air-Bühne, ein Lieblingsort. Viele junge Leute, die anderswo keinen Job finden, bekommen hier eine Aufgabe. Die Lichtkunst am Kohlekran, der noch in Betrieb ist, erleuchtet das Ensemble. Nachts haben sogar die einfallslosen Eigentumskisten am neuen Offenbacher Hafen ihren Reiz. An der Treppe, im Sommer ein beliebter Treffpunkt, schreibe ich M eine Nachricht, dass ich bald da bin. Vorbildlich dann ein kurzes Stück weiter die getrennten Wege für Radler und Fußgänger, auch wenn sich nicht alle dran halten. Am Mainstrand versammelten sich etliche Graugänse und Schwäne zu einem abendlichen, lauten und vielstimmigen Konzert. Kurz darauf heißt mich Offenbach willkommen.

Auf dem Wilhelmsplatz ein Grüppchen von etwa 15 Leuten, sie stehen rum, reden miteinander, keine Transparente, keine Fahnen. Aus dem Lautsprecher schallt leise „We Shall Overcome“, Querschläger. Sie dürfen hier nirgendwo rein, überall 2G. Ich gehe zu Beau d`Eau, zeige Nach- und Ausweis, bestelle ein Bier und rufe M an. Kurz darauf kommt sie, trinkt ein kleines Pils.

Sie hat für uns das Tarantino`s ausgesucht. Einverstanden. Ein etwas edlerer Italiener, weiße Tischdecken, Stoffservietten zu Alpengipfeln getürmt. Normalerweise nicht mein Fall, aber es wurde ein schöner und kulinarisch durchaus befriedigender Abend. Er begann mit einem Martini als Aperitif, dann Vor- und Hauptspeise, Lugana dazu. Später, nachdem auch dieser Gipfel bezwungen war, einen Espresso nebst Grappa. Ein weiterer folgte beim Bezahlen. Zwischendrin Bescherung zu beiderseitigem Vergnügen und Gefallen. Alles gut. Der Abend endete in Willy`s Bar. Kurz nach Mitternacht brachte mich der 103er zuverlässig und schnell fast vor die Haustür.

Spaziergangsbeute

* Die Platten mittlerweile gehört. Sie wurden pfleglich behandelt und sind in einem erstaunlich guten Zustand.

Spaziergangstagebuch 4

03.12.21

Vom Ernst-May-Platz zum Schillermarkt und zurück.

Der Wind hat schlechte Laune

Ein grau-kühler Herbsttag, sehr windig aber trocken. Warm anziehen, dann los. Die Wittelsbacher Allee ist Teil der Ernst-May-Siedlung in Bornheim Ost, gleich am Bornheimer Hang. Es gibt über Frankfurt verteilt mehrere dieser Siedlungen, alle nach deren Baumeister Ernst May, dem damaligen Stadtbaudirektor der Stadt, benannt. Entstanden sind sie in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Bekannt sind diese Siedlungen unter dem Begriff „Das neue Frankfurt“. Ich wohne in einem solchen Haus und weiß es zu schätzen, auch wenn meine Wohnung von May nicht als eine solche geplant wurde, sondern als Mansarde.

Wie immer ist die Kreuzung Freiligrathstraße / Fechenheimer Straße zugeparkt. Das ist hier immer so in der Autohölle Freiligrathstraße. Kein Baum, aber alles voll mit parkenden Autos. Menschen mit Rollstuhl, Kinderwagen oder Rollator haben hier große Probleme, die Straße zu queren. Vor einigen Jahren gab es eine Nachbarschaftsinitiative, die versuchte, etwas Grün in die Straße zu bringen. Das wäre nur auf Kosten von Parkplätzen gegangen. Das Geschrei war groß, die Leute wollten lieber parken statt wohnen. Der einzige Lichtblick in dieser öden Straße ist die Jazz- und Chansonbar Mosaik mit ihrem wunderbaren, liebenswerten Wirt. Sie liegt an dieser Kreuzung.

In der Fechenheimer Straße wurde im Juni 1927, also jenem Jahrzehnt, in dem das Neue Frankfurt entstand, der Gangsterboss und Bestsellerautor Henry Jaeger geboren. Er war der Chef der berüchtigten Jaeger-Bande, die in den frühen Fünfziger Jahren mit Einbrüchen und Raubüberfällen die Stadt in Atem hielt. Im Dezember 1954 überfiel die Bande eine Rentenzahlstelle der Post im Oeder Weg. Damals wurden die Renten in bar ausbezahlt. Sie erbeuteten 80000 Mark, eine riesige Summe. Allerdings hatten sie nichts von ihrer Beute, denn die Bande wurde geschnappt und die Mitglieder später zu jeweils 12 Jahre Gefängnis verurteilt. Im Knast fing Jaeger an mit Bleistift auf Klopapier einen Roman zu schreiben. Der Gefängnispfarrer schmuggelte das Manuskript nach draußen und fand tatsächlich einen Verlag. Außerdem besorgte er eine Praktikumsstelle für Jaeger bei der Frankfurter Rundschau. Aufgrund dieser positiven Sozialisierungsprognose wurde er von Bundeskanzler Adenauer begnadigt. Der Roman erschien 1962 unter dem Titel „Die Festung“ und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Die Verfilmung unter dem Titel „Verdammt zur Sünde“ mit Hildegard Knef und Martin Held in den Hauptrollen, war ebenfalls sehr erfolgreich,. Jaeger wurde berühmt und reich, diesmal auf legale Weise. Seinen Reichtum kostete er in einer Künstlerkolonie in Ascona aus und feierte ausschweifend mit schönen Autos und schnellen Frauen. Weitere Bücher waren weniger erfolgreich. Jaeger starb verarmt im Dezember 2000 in einem Frankfurter Armenhospiz.

Gleich nebenan hat die Gaststätte Henscheid, Nachfolger des legendären Wirtshauses Klabunt in der Berger Straße, an diesem frühen Nachmittag ihre Pforten noch geschlossen.

Die Roßdorfer Straße ist im Vergleich mit der Freiligrath ein Paradies. Wenig Durchgangsverkehr, einige Bäume auf einer Seite und recht ruhig. Alles ok für eine städtische Straße und doch mag ich sie nicht. Bis heute habe ich nicht ergründen können weshalb. Aber auch hier gibt`s interessante Einblicke hinter die Kulissen. Diese Höfe, noch dazu wenn sie nicht zugänglich sind, machen neugierig, sie bergen Geheimnisse und Geschichten.

Im Sandweg sagt ein kleiner Junge, bevor er in das Lastenrad klettert, zu seinem Vater: Der Wind hat schlechte Laune. Das klingt vielleicht absurder als es ist. Tatsächlich hat der Wind sehr viele Eigenschaften. Bei Jimi Hendrix kann er einen Namen flüstern, schreien und kreischen, Mary. Und bei Ruiz Zafon hat er sogar einen Schatten. Ich gehe durch eine enge, unansehnliche Straße, in der ein einsames Bäumchen vergeblich gegen die Tristesse anzukämpfen versucht. Es ist die Seumestraße. Ich hätte dem großen Spaziergänger und Schriftsteller eine repräsentativere Adresse gewünscht. Vor dem Testzentrum am Merianplatz warten drei Leute auf ihren Schnelltest.

Ich komme in die Stephanstraße, zwischen Zeil und Bleichstraße gelegen. Dort gehe ich gerne, breite Gehwege, viel Grün und keine Parkplätze. Ein Obdachloser zieht seines Weges, den Kopf gesenkt, über der Schulter eine große, gefüllte IKEA Tasche. Er brummelt vor sich hin, vielleicht seinen Welthass. Auf dem angrenzenden Peterskirchhof, städtische Begräbnisstelle seit dem 15. Jahrhundert, haben Goethes Eltern ihren letzten Ort gefunden, getrennt für alle Ewigkeit. Wobei Goethes Mutter „umgezogen“ ist, und inzwischen auf dem Hof der benachbarten Schule liegt. Und dann gibt es direkt nebenan ein ausgesprochen schönes neues Gebäude mit einer Backsteinfassade zu entdecken. Ist ja nicht allzu oft so zu finden in Frankfurt.

Auf dem nahe gelegenen Markt an der Schillerstraße bei Schinken Becker ein Brötchen mit Kochschinken erstanden. Wollte bei Schoppe Otto einen heißen Apfelwein dazu trinken, aber sein angestammter Standort war an diesem Tag verwaist. Schade. An der benachbarten Hauptwache standen einige Buden des diesjährigen Weihnachtsmarktes, der sich über die halbe Innenstadt zieht. Dort würde ich einen heißen Schuppen bekommen. Es galt Maskenpflicht, nicht aber am Schillermarkt. Weshalb entzieht sich der Logik. Zunächst aber in das Schuhgeschäft hinter der Katharinenkirche. Ich brauchte dringend gute Schuhe für den Winter. Es war klar, ich musste nicht überlegen, es sollten wieder (Achtung Reklame) die bewährten Timberlands sein. Fünf Minuten später war ich wieder draußen, die begehrten Schuhe ohne Karton im Stoffbeutel. Jetzt also heißer Apfelwein. Nach einer Weile entdeckte ich in einer Ecke einen Stand der Kelterei Possmann. Ich hatte es befürchtet. Aber was anderes gab`s nicht, also dort einen quitschsüßen, aber immerhin heißen Schoppen, getrunken. Das Schinkenbrötchen dazu verzehrt. Wenigstens gewärmt ging es zurück.

Immer wieder ein Lichtblick, das Wasserhäuschen Fein in den Wallanlagen an der Petersstraße. Ein stets gern angesteuerter Rastpunkt. Dort bestellte ich einen Cappuchino und zog meine neuen Schuhe an. (Achtung Reklame) Timberlands sind perfekte Schuhe für alle, die viel zu Fuß unterwegs sind. Total uncool, aber sehr bequem, stabil und haltbar. Sie passen sich an und mit der Zeit entwickeln sie so etwas wie einen eigenen Charakter. Anziehen, wohlfühlen und losgehen. Sie sind natürlich nicht ganz billig, aber ich bin zu arm, um billige Schuhe zu kaufen. Mit warmen Füßen geht`s zurück nach Bornheim. In der Scheffelstraße erinnern Stolpersteine an die Familie Strauss, der es gelungen ist 1937 nach Uruguay zu fliehen. Das hat was tröstliches. Am Merianplatz schaue ich in ein erleuchtetes Zimmer im Erdgeschoss. Platten, viele CDs, Bücher und Musikinstrumente, ein Keyboard und zwei Harfen, zieren die Wände.

Die Füße sind warm, der Rest nicht. Überall zieht es rein, ich friere. Der Wind hat schlechte Laune.

Spaziergangstagebuch 3

10.11.

Vom Ernst-May-Platz zum Goetheturm und zurück

Ein Tag wie ihn nur der Herbst zustande bringt. Herbstlaub raschelt unter den Füßen. Ein Jogger in kurzen Hosen kämpft sich den Anstieg am Bornheimer Hang hoch. Am Röderbergweg eine Reihe solider Häuser. Von dort schweift der Blick, besonders im Herbst und Winter über den Ostpark, weiter nach Offenbach und Hanau, bei klarer Sicht bis Spessart und Odenwald. Im Süden ragt der Goetheturm aus dem Stadtwald. Mein Ziel. Eine sehr schöne Straße, Platanengesäumt und still. Grzymek soll hier irgendwo gewohnt haben. Am Wegesrand ein in den Farben des FSV angepinselter Verteilerkasten. Wieder wechsle ich wegen eines Hundes die Straßenseite. Die Sonne scheint mir ins Gesicht, vor mir der mächtige Bau der EZB. Derzeit werden die Altglascontainer in Frankfurt wohl nur schleppend geleert. Fahrzeugmangel ist zu lesen.

Die Wagenburg am Ostbahnhof muss bis Januar einem Hotelneubau weichen. Es ist zu hoffen, dass bis dahin ein Ersatzstandort gefunden wird, sonst gäbe es auf einen Schlag eine Menge neuer Obdachloser in der Stadt. Die Gedenkstätte an der EZB. Von hier wurden Frankfurts Juden nach Auschwitz deportiert, nachdem sie in langen Kolonnen durch die Stadt getrieben wurden und oft stundenlang ohne Toiletten in der Großmarkthalle stehen mussten. Den Transport mussten sie bezahlen. Die Gleise sind noch zu sehen. Das Honseldreieck zwischen Honsel und Osthafenbrücke soll tatsächlich bebaut werden mit einem Hotel. Der Glaskasten wird dann allen, die aus Richtung Offenbach kommen, den Blick auf die Skyline verwehren. Frankfurt will halt auch seine Elbphilharmonie, wenn auch etwas kleiner. Im Schatten der Honselbrücke haben sich einige Obdachlose mit Zelten eingerichtet. Rauch steigt auf. Wird gekocht? Im schönen Club und Café Familie Montez hätte ich gerne einen Kaffee getrunken, aber die Zeit drängte, es wird früh dunkel. Ein leeres Frachtschiff tuckert rückwärts in den Osthafen. Über die Osthafenbrücke wechsle ich auf die andere Mainseite, den Goetheturm im Blick. Auf dem Mainweg rollert ein alter Mann auf einem Fahrrad des Weges, einige Habseligkeiten im Gepäckkorb. Er inspiziert Mülleimer, ein Flaschensammler. Ich wandle auf Goethes Spuren und passiere die Gerbermühle, wo er einst Geburtstag feierte.

Dort verlasse ich den Mainuferweg und biege ab in Richtung Oberrad. Von den Oberräder Feldern stammen die Kräuter für die echte Frankfurter Grüne Soße. Jede Grüne Soße, die in den Wintermonaten angeboten wird, wird aus importierten Kräutern zubereitet und darf auch nicht „Frankfurter Grüne Soße“ genannt werden. Der Ortskern von Oberrad, eine Haltestelle. „Das Wirtshaus in Frankfurt“ hat geschlossen. Wohin jetzt? „An der Mannsfaust“, der liebste Straßenname meiner besten Freundin. Man grüßt sich in Oberrad am Rande des Stadtwalds. Der Wald in herbstlichem Gewand. Ich hätte mir ein zweites Paar Socken anziehen sollen. Bin mir nicht so ganz sicher, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Aber schnell habe ich wieder Empfang und weiß, dass ich richtig bin. Geheimnisvolles Zeichen an einem Baum, an Brüste erinnernd. Ich grüße die wenigen Spaziergänger, die mir entgegen kommen. Meist stifte ich damit Verwirrung. Zwei Joggerinnen überholen mich, sich unterhaltend. Ich wollte beim Joggen nie reden. „Wie lange will die denn noch leben“, meine ich aufzuschnappen. Vielleicht habe ich mich aber auch verhört. Ein Buntspecht begrüßt mich fröhlich. Der Maunzenweiher läge still und ruhig, würden nicht im Minutentakt Flugzeuge im Landeanflug auf den nahen Flughafen die Stille zerschneiden. Der Wendelsweg führt schnurstracks hinein nach Sachsenhausen. Ein Polizeiwagen kommt mir entgegen. Einige Minuten später nochmals mit höherem Tempo. Zwei junge Frauen, vielleicht auch Mädchen, rennen in Alltagskleidung in den Wald hinein. Es sah nicht nach Joggen aus. Vielleicht ein Spiel im Sinne von, wer zuerst da ist, hat gewonnen. Immer wieder Hinweise darauf, wie krank dieser Wald ist. Und wieder dieses Zeichen. Vielleicht ein Code der Waldarbeiter.

Raste in der Goetheruh, trinke einen Cappucchino und esse dazu ein gigantisches Stück Kirschstreusel, leider ziemlich trocken. Außer mir ein älteres Paar zwei Tische entfernt. Er ist mindestens Mitte, Ende 70, die Dame an seiner Seite etwas jünger. „Ich will dich jetzt mal in die Familie einführen“, sagt er zu ihr „damit die wissen, wer du bist.“ Sie zeigt sich nur mäßig begeistert. Ansonsten verliere ich mich in Kindheitserinnerungen. Oft war ich damals mit den Eltern hier. Der Goetheturm war mein wahres Wahrzeichen von Frankfurt. Wer aus dem Norden auf die Stadt zufährt sieht ihn schon von Weitem aus dem Stadtwald ragen. Noch heute habe ich seinen Geruch in der Nase. Ich war erschüttert als er 2017 abgefackelt wurde und der charakteristische Duft Brandgeruch wich. Irgendjemand mit Brandbeschleuniger und Feuerzeug hatte es in diesem Jahr auf etliche Holzbauwerke in der Stadt abgesehen, Schaden 5 Mio. Euro. Dieser Turm war das prominenteste Opfer seiner, oder ihrer, Brandlust. Bis heute ist niemand gefasst. Als Kind war dieser Ort am Goetheturm mein Lieblingsplatz. Den Spielplatz von damals gibt es heute noch. Nach dem Spielen gab es Kakao und Apfelstrudel in der Goetheruh. Seit zwei Jahren steht jetzt die Rekonstruktion des Turms. Er ist, anders als der alte, hell und er riecht nicht. Ich war auch noch nicht oben.

Über den Wendelsweg geht`s zügig abwärts, vorbei an verwunschenen Kleingärten. Am Himmel rätselhafte Wolkenformation, wahrscheinlich Kondenzstreifen eines Flugzeugs in Warteschleife. Ein ebenso verwunschenes Wasserhäuschen am Wendelsweg. Sachsenhausen empfängt mich rotgetränkt. The world is on fire. Ich kehre an der Darmstädter Landstraße bei Kaliko ein, einem angenehmen, ruhigen Lokal mit guter Küche und guten Getränken zu einem sehr vernünftigen Preis. Vom lärmenden Alt-Sachsenhausen gleich nebenan ist hier nichts zu merken. Seit Corona war ich nicht mehr dort, wurde aber wiedererkannt. Ich esse Königsberger Klopse, trinke Riesling und zum Abschluss einen Espresso und einen Brandy. Dann gehe ich weiter über den Eisernen Steg, durch die Innenstadt zurück nach Bornheim. 18 Kilometer habe ich hinter mir und mir geht es blendend.