Von Niederursel nach Frankfurt
Der Anlass für diesen Spaziergang war ein trauriger. Ende letzten Jahres verstarb eine ehemalige Kollegin, die ich sehr schätzte. An diesem Tag sollte die Beerdigung stattfinden. Beerdigungen gehören nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Als Belohnung nahm ich mir vor, den Weg zurück zu spazieren. Darauf freute ich mich, kenne ich diese Gegend im Norden von Frankfurt so gut wie nicht. 8,5 km, sagte Maps, nach Frankfurt. Eine überschaubare Entfernung. Dass es am Ende, als ich wieder zuhause war, doppelt so viele waren, hatte ich erwartet.
Ich stellte den Wecker, wollte rechtzeitig losfahren, nicht ohne Frühstück. Das Wetter war perfekt für einen langen Spaziergang, Wolken, gelegentlich Sonne, kein Regen, angenehme Temperatur. Pünktlich ging ich los, zahlte stolze 3,40 € und fuhr mit Straßen- und U-Bahn nach Niederursel. Dort angekommen wurde mitgeteilt, dass hier die Tarifgrenze sei. Wehmütig dachte ich an das Neun-Euro-Ticket. Ich stieg aus und fand mich in Terra Incognita. Erst einmal vorher war ich in Niederursel gewesen. Bei eben jener Kollegin, die jetzt beigesetzt werden sollte. Eine weitere Kollegin und ich waren zu Kaffee und Kuchen geladen. Es ist viele Jahre her.
Ich ließ ich mich zum Friedhof leiten durch einen sehr dörflichen Stadtteil. Das Navi schickte mich, entlang des Urselbachs, durch Wiesen und Felder. Ein imposantes Backsteingebäude forderte meine Aufmerksamkeit. Der Weg zog sich, kein Friedhof. Plötzlich eine fast 360° Kehre, zurück in den Ort, den ich bereits hinter mir gelassen hatte. Das muss ein Umweg sein, dachte ich. Mittlerweile hatte die Trauerzeremonie bereits begonnen. Dann fand ich endlich den Friedhof – und konnte keine Trauergemeinde entdecken. Nur an einem frischen Grab standen eine handvoll Leute, von denen ich niemanden kannte. In der Kapelle war es totenstill, ein Mann im schwarzen Anzug schaute mich durch das Fenster an, während er irgendwas geräuschvoll von hier nach dort räumte. Sonst war nichts zu sehen oder hören. Unverrichteter Dinge kehrte ich um. Irgendwas an meinen Informationen hat nicht gestimmt.
Der Spaziergang begann. Zunächst entlang des Praunheimer Wegs, der alles andere als ein Weg war, sondern eine vielbefahrene Straße. Jemand hatte seinen Traum vom Knusperhäuschen verwirklicht. Es ging eine Weile entlang der Straße weiter und ich befürchtete, dass das jetzt bis Frankfurt so ginge. Aber dann schickte mich das Navi nach links, wieder entlang eines Baches, des Steinbachs. Ein ruhiger Weg, abseits der Autos. Zwei Männer sitzen auf der Lehne einer Bank, Bierflaschen in der Hand. In Praunheim schickte mich das Navi falsch auf die Straße In der Römerstadt. Dort eine Siedlung von Ernst May aus den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts. Die Häuser mit flachen Dächern. Als May diese Bauform einführte, rebellierte die Dachdeckerinnung. Fortan wurden wieder Spitzdächer gebaut. Das selbe geschah, als er die Plattenbauweise verwendete, als deren Erfinder er gilt. Sein Credo war, schnell bezahlbahren Wohnraum zu schaffen. Gegen die Platten stemmte sich die Maurerinnung. Also wurde wieder gemauert.
Ich fand den richtigen Weg, weg von der Straße. Wieder ging es grün weiter, immer entlang des Steinbachs. Dann eine Brücke, ich war an der Nidda. In einem Nebenarm ließen sich zwei Schwäne treiben. Jenseits der Nidda ein Park, der Volkspark Niddatal. Ich war erfreut, den Park kannte ich nur peripher. War einmal dort mit einer Freundin laufen, lang ist es her. Wir fanden fast nicht mehr raus damals, orientierten uns am Fernsehturm und der Skyline. Das der Park groß ist wusste ich, dass er so groß ist jedoch nicht. Eine Frau mit drei freilaufenden Hunden kreuzte meinen Weg. Die Tiere interessierten sich nicht für mich. Der Park wollte nicht enden, mir war`s recht. Irgendwann ein Hinweis auf den Ausgang Bockenheim. Ich konnte das Navi ausschalten, ab dort würde ich mich auskennen. Dass irgendwann eine Autobahnbrücke den Park kreuzen würde, war erwartbar.
Am Ausgang Bockenheim empfing mich das Yollow Submarine. Bald war ich an der Sophienstraße. Hier wohnte einst eine enge Freundin von mir, die genauso hieß wie die Straße. Wir haben uns oft gesehen, bis sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, wieso auch immer. Sie wohnt dort auch nicht mehr. Auf der Leipziger Straße suchte ich ein Café, fand keins. Das einzige, das ich kannte, hatte geschlossen. Die Gegend war mir vertraut, habe ich doch vor einigen Jahren mal hier gearbeitet. In der Adalbertstraße entdeckte ich einen kleinen Bäcker mit zwei winzigen Tischen und einer schmalen Bank an der Wand. Ich bestellte einen großen Cappuccino im Pappbecher und ein riesiges Stück Kirschstreussel, das ich zur Hälfte schaffte. Es tat gut zu sitzen, der Kaffee schmeckte und tat was er tun musste.
Gestärkt ging es zurück über den Bockenheimer Campus. An der Senckenberganlage die legendäre Adorno-Ampel. Der berühmte Philosoph und Soziologe soll gesagt haben, wenn die Studenten da sind wo sie sein sollen, nämlich in Gedanken, dann müsse dort eine Ampel hin. Adorno wurde der Wunsch erfüllt. Niemand weiß, wieviel gedankenversunkenen Studentinnen und Studenten dadurch das Leben gerettet wurde. Weiter durch vertrautes Terrain, den Kettenhofweg, mittlerweile zur Fahrradstraße umgestaltet. Früher mein Arbeitsweg zum Suhrkamp Verlag in der Lindenstraße. Da Adorno schon erwähnt wurde, in dieser Straße hat er mit seiner Frau Gretel gewohnt. Vom ursprünglichen Plan zur Kleinmarkthalle zu gehen, um diverse Zutaten für Harissa zu besorgen, bin ich abgekommen. Die Beine waren zu schwer. Statt dessen auf dem Markt an der Schillerstraße einen Riesling getrunken. Für mich der Abschluss des kleinen Ausflugs, der mir wieder mehr von der Stadt gezeigt hat, in der ich schon seit über zwanzig Jahren lebe. Der Heimweg nach Bornheim ist Routine und nicht der Rede wert. Zuhause hatte ich 23000 Schritte und 17 km in den Beinen und fühlte mich lebendig.