Spaziergangstagebuch 3

10.11.

Vom Ernst-May-Platz zum Goetheturm und zurück

Ein Tag wie ihn nur der Herbst zustande bringt. Herbstlaub raschelt unter den Füßen. Ein Jogger in kurzen Hosen kämpft sich den Anstieg am Bornheimer Hang hoch. Am Röderbergweg eine Reihe solider Häuser. Von dort schweift der Blick, besonders im Herbst und Winter über den Ostpark, weiter nach Offenbach und Hanau, bei klarer Sicht bis Spessart und Odenwald. Im Süden ragt der Goetheturm aus dem Stadtwald. Mein Ziel. Eine sehr schöne Straße, Platanengesäumt und still. Grzymek soll hier irgendwo gewohnt haben. Am Wegesrand ein in den Farben des FSV angepinselter Verteilerkasten. Wieder wechsle ich wegen eines Hundes die Straßenseite. Die Sonne scheint mir ins Gesicht, vor mir der mächtige Bau der EZB. Derzeit werden die Altglascontainer in Frankfurt wohl nur schleppend geleert. Fahrzeugmangel ist zu lesen.

Die Wagenburg am Ostbahnhof muss bis Januar einem Hotelneubau weichen. Es ist zu hoffen, dass bis dahin ein Ersatzstandort gefunden wird, sonst gäbe es auf einen Schlag eine Menge neuer Obdachloser in der Stadt. Die Gedenkstätte an der EZB. Von hier wurden Frankfurts Juden nach Auschwitz deportiert, nachdem sie in langen Kolonnen durch die Stadt getrieben wurden und oft stundenlang ohne Toiletten in der Großmarkthalle stehen mussten. Den Transport mussten sie bezahlen. Die Gleise sind noch zu sehen. Das Honseldreieck zwischen Honsel und Osthafenbrücke soll tatsächlich bebaut werden mit einem Hotel. Der Glaskasten wird dann allen, die aus Richtung Offenbach kommen, den Blick auf die Skyline verwehren. Frankfurt will halt auch seine Elbphilharmonie, wenn auch etwas kleiner. Im Schatten der Honselbrücke haben sich einige Obdachlose mit Zelten eingerichtet. Rauch steigt auf. Wird gekocht? Im schönen Club und Café Familie Montez hätte ich gerne einen Kaffee getrunken, aber die Zeit drängte, es wird früh dunkel. Ein leeres Frachtschiff tuckert rückwärts in den Osthafen. Über die Osthafenbrücke wechsle ich auf die andere Mainseite, den Goetheturm im Blick. Auf dem Mainweg rollert ein alter Mann auf einem Fahrrad des Weges, einige Habseligkeiten im Gepäckkorb. Er inspiziert Mülleimer, ein Flaschensammler. Ich wandle auf Goethes Spuren und passiere die Gerbermühle, wo er einst Geburtstag feierte.

Dort verlasse ich den Mainuferweg und biege ab in Richtung Oberrad. Von den Oberräder Feldern stammen die Kräuter für die echte Frankfurter Grüne Soße. Jede Grüne Soße, die in den Wintermonaten angeboten wird, wird aus importierten Kräutern zubereitet und darf auch nicht „Frankfurter Grüne Soße“ genannt werden. Der Ortskern von Oberrad, eine Haltestelle. „Das Wirtshaus in Frankfurt“ hat geschlossen. Wohin jetzt? „An der Mannsfaust“, der liebste Straßenname meiner besten Freundin. Man grüßt sich in Oberrad am Rande des Stadtwalds. Der Wald in herbstlichem Gewand. Ich hätte mir ein zweites Paar Socken anziehen sollen. Bin mir nicht so ganz sicher, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Aber schnell habe ich wieder Empfang und weiß, dass ich richtig bin. Geheimnisvolles Zeichen an einem Baum, an Brüste erinnernd. Ich grüße die wenigen Spaziergänger, die mir entgegen kommen. Meist stifte ich damit Verwirrung. Zwei Joggerinnen überholen mich, sich unterhaltend. Ich wollte beim Joggen nie reden. „Wie lange will die denn noch leben“, meine ich aufzuschnappen. Vielleicht habe ich mich aber auch verhört. Ein Buntspecht begrüßt mich fröhlich. Der Maunzenweiher läge still und ruhig, würden nicht im Minutentakt Flugzeuge im Landeanflug auf den nahen Flughafen die Stille zerschneiden. Der Wendelsweg führt schnurstracks hinein nach Sachsenhausen. Ein Polizeiwagen kommt mir entgegen. Einige Minuten später nochmals mit höherem Tempo. Zwei junge Frauen, vielleicht auch Mädchen, rennen in Alltagskleidung in den Wald hinein. Es sah nicht nach Joggen aus. Vielleicht ein Spiel im Sinne von, wer zuerst da ist, hat gewonnen. Immer wieder Hinweise darauf, wie krank dieser Wald ist. Und wieder dieses Zeichen. Vielleicht ein Code der Waldarbeiter.

Raste in der Goetheruh, trinke einen Cappucchino und esse dazu ein gigantisches Stück Kirschstreusel, leider ziemlich trocken. Außer mir ein älteres Paar zwei Tische entfernt. Er ist mindestens Mitte, Ende 70, die Dame an seiner Seite etwas jünger. „Ich will dich jetzt mal in die Familie einführen“, sagt er zu ihr „damit die wissen, wer du bist.“ Sie zeigt sich nur mäßig begeistert. Ansonsten verliere ich mich in Kindheitserinnerungen. Oft war ich damals mit den Eltern hier. Der Goetheturm war mein wahres Wahrzeichen von Frankfurt. Wer aus dem Norden auf die Stadt zufährt sieht ihn schon von Weitem aus dem Stadtwald ragen. Noch heute habe ich seinen Geruch in der Nase. Ich war erschüttert als er 2017 abgefackelt wurde und der charakteristische Duft Brandgeruch wich. Irgendjemand mit Brandbeschleuniger und Feuerzeug hatte es in diesem Jahr auf etliche Holzbauwerke in der Stadt abgesehen, Schaden 5 Mio. Euro. Dieser Turm war das prominenteste Opfer seiner, oder ihrer, Brandlust. Bis heute ist niemand gefasst. Als Kind war dieser Ort am Goetheturm mein Lieblingsplatz. Den Spielplatz von damals gibt es heute noch. Nach dem Spielen gab es Kakao und Apfelstrudel in der Goetheruh. Seit zwei Jahren steht jetzt die Rekonstruktion des Turms. Er ist, anders als der alte, hell und er riecht nicht. Ich war auch noch nicht oben.

Über den Wendelsweg geht`s zügig abwärts, vorbei an verwunschenen Kleingärten. Am Himmel rätselhafte Wolkenformation, wahrscheinlich Kondenzstreifen eines Flugzeugs in Warteschleife. Ein ebenso verwunschenes Wasserhäuschen am Wendelsweg. Sachsenhausen empfängt mich rotgetränkt. The world is on fire. Ich kehre an der Darmstädter Landstraße bei Kaliko ein, einem angenehmen, ruhigen Lokal mit guter Küche und guten Getränken zu einem sehr vernünftigen Preis. Vom lärmenden Alt-Sachsenhausen gleich nebenan ist hier nichts zu merken. Seit Corona war ich nicht mehr dort, wurde aber wiedererkannt. Ich esse Königsberger Klopse, trinke Riesling und zum Abschluss einen Espresso und einen Brandy. Dann gehe ich weiter über den Eisernen Steg, durch die Innenstadt zurück nach Bornheim. 18 Kilometer habe ich hinter mir und mir geht es blendend.

Was fehlte – Ein Rückblick auf das Jahr 2018

Rheingau

Das vergangene Jahr war nicht sonderlich ereignisreich, zeichnete sich vor allem durch Lücken aus. Die größte Lücke hinterließen meine Eltern, die 2017 binnen Monatsfrist gestorben sind. Gelegentlich ertappte ich mich sonntags, unserem Telefontag, bei dem Gedanken, sie jetzt mal anrufen zu müssen. Das Erscheinen meines Buches „Vom Warten – Über Zeitlöcher und Warteschlangen“ haben sie nicht mehr erlebt. Ich habe schon vielfach darüber gesprochen und geschrieben. Nicht darüber geschrieben haben jedoch andere. Keine einzige Rezension ist erschienen, trotz der wunderbaren und durchaus auch namhaften Autorinnen und Autoren, die mit tollen Texten in diesem Band versammelt sind. Da half auch kein Interview bei HR2 oder ein Kurzauftritt in der ARD Vormittagsshow „Live nach Neun“. Einzig das literarische Online-Magazin Glanz & Elend erwähnte das Buch. Sonst blieb aus, was ich mir erwartet hatte. Das fehlte und, ich gebe es gerne zu, schmerzte und enttäuschte auch. Dazu gehörte auch das Ausbleiben der Antwort einer Berliner Buchhändlerin, die mir eine Lesung aus dem Warten-Buch zugesagt hatte, sich dann aber nicht mehr meldete. Dasselbe gilt für eine Kölner Buchhändlerin.

Überhaupt fehlten viele Antworten. Mails scheinen das Medium zu sein, dass am ehesten ignoriert wird, und zwar mit großem Selbstverständnis und ohne jedes schlechte Gewissen. Wieso richten sich Menschen und Unternehmen Mailaccounts ein, wenn sie diese als Mülleimer verstehen? Vielleicht sollten wir wieder Postkarten schreiben, wie das eine gute Freundin mit großer Leidenschaft regelmäßig tut. Der Kreis der Empfänger ist groß und alle schreiben zurück.

So hat etwa die Inhaberin einer kleinen Brauerei, die wir im Rahmen der „Tour de Bier“ besuchten, auf den Hinweis unserer geschriebenen Mail frei heraus geantwortet, diese habe sie ignoriert. Das würde sie bei Mails immer so machen. Aber man habe halt so eine Mailadresse, weil man sie ja doch irgendwie bräuchte. Für was, habe ich mich gefragt. Auch andere Brauereien fanden keine fünf Minuten Zeit, um unseren Fragebogen auszufüllen. Sie scheinen keinen Wert darauf zu legen von uns kostenlos beworben zu werden. Es fehlten also auch größere Fortschritte bei der Tour de Bier.

Der Goetheturm, 2017 abgefackelt.

Auch die Stadt Frankfurt wurde ärmer. So fehlt der Goetheturm, 2017 abgefackelt von einem oder mehreren Brandstiftern, die einige berühmte und beliebte Holzgebäude in Frankfurt plattmachten. Was für kranke Gehirne sind da unterwegs? Der Goetheturm war sicherlich das symbolträchtigste Gebäude, das in den letzten Jahren Opfer wurde von Verbrechern. Für mich, und für viele Frankfurter, ein Ort an dem Kindheiterinnerungen hängen. Die Spaziergänge im Stadtwald, der Spielplatz nebenan, und die Goetheruh, der Ort für Apfelstrudel und Kakao zum Abschluss des Sonntagsausflugs. Und immer das Gefühl, nach hause zu kommen, wenn bei der Anfahrt auf Frankfurt der Turm auftauchte und sich stolz über die Wipfel des Stadtwaldes erhob. Für mich war er der wichtigste aller Frankfurter Türme, das wahre Wahrzeichen der Stadt. Noch heute habe ich den charakteristischen Geruch nach Harz und Holz in der Nase, den der Turm verströmte. Er bleibt das Einzige, was von dem Symbol im Wald in mir weiterlebt, denn auch der geplante Neubau kann nicht mehr werden, als ein Erinnerungsort an den, für immer verlorenen, Goetheturm. Nur eine neue Generation kann den neuen Turm zu einer eigenen Erinnerung machen.

Des weiteren fehlte im letzten Jahr ein Besuch in der Apfelweingaststätte „Zu den drei Steubern“ in Sachsenhausen. Die Zukunft dieses wohl traditionellsten aller Apfelweinlokale ist unsicher. Der Wirt geht schnellen Schritts auf die Neunzig zu. Bis heute steht er an jedem der Öffnungstage in seinem Lokal hinter dem Tresen, schenkt Apfelwein aus, den er schon seit einigen Jahren nicht mehr selbst keltert, oder serviert den Handkäs, der eingelegt in einer Schublade am Tresen reift. Wie lange kann er das noch machen? Und was passiert, wenn er es nicht mehr machen kann?

Es gab durchaus einige Radtouren mit der wunderbaren M. im letzten Jahr, aber es hätten noch mehr sein können. Dasselbe gilt für Wanderungen im schönen Rheingau. Es hätten immer mehr sein können. Und Urlaub fehlte, wie in den Jahren davor auch schon. Mehr als zwei lange Wochenenden in Berlin und einem kleinen Ausflug nach Stuttgart war nicht drin. Sehr schade, dass ich einen lange geplanten Trip nach Paris absagen musste. Daher sind diese kleinen Tagesfluchten mit dem Rad oder zu Fuß so wichtig.

Auch Konzerte kamen mal wieder viel zu kurz im letzten Jahr. Es gab immer irgendeinen Grund, weshalb ich verhindert war. Immerhin habe ich My Brightest Diamond im Berliner Frannz Club gehört und gesehen. Und das war vielleicht das Wichtigste.

Möge 2019 weniger lückenhaft werden.

Frankfurt Album