Spaziergangstagebuch 9

Auf dem Hölderlinpfad von Bad Homburg nach Frankfurt.

16.06.2022

Schon seit einiger Zeit habe ich vor gehabt, diesen 22 km langen, ausgeschilderten Pfad auf den Spuren Hölderlins zu gehen. Und ich wollte ihn genau in dieser Richtung gehen, von den Hängen des Taunus nach Frankfurt, die Skyline im Blick. Es ist der erste geführte Spaziergang in diesen Tagebüchern. Das Wetter war perfekt, das Neuneuroticket ermöglichte eine preiswerte Anreise. Die geschenkte Thermostasche einer Freundin kam erstmals zum Einsatz. Sie ist gut für Picknick geeignet, Gläser und Teller (aus Kunststoff) ebenso vorhanden wie Bestecke und Servietten. Ich befüllte eine halbliter Wasserflasche mit Riesling, eine andere mit Wasser, kaufte ein Stück Fleischwurst, zwei Brötchen, packte Senf und einen Apfel dazu und los ging es. Zunächst verpasste ich die U-Bahn, musste daher eine halbe Stunde an der Konstablerwache auf die nächste S-Bahn warten. Es war Fronleichnam, dieser überflüssige Feiertag. Auf dem Plateau der Konstablerwache standen etliche Buden, Flohmarkt. Wie hässlich doch dieser Platz ist, wenn kein Markttag ist, dachte ich. Aber ich konnte mir mit diesem Flohmarkt etwas die Zeit vertreiben. Flohmärkte locken mich meist nicht.

Dann war ich endlich in Bad Homburg. Der Pfad beginnt am Bad Homburger Schloss in der Innenstadt. Darauf verzichtete ich, er führt auch unmittelbar am Bahnhof vorbei.

Schnell entdecke ich den ersten markanten, von Hans Traxler gezeichneten, Wegweiser. Zunächst wird der Spaziergänger durch ein Industriegebiet geleitet, hinter den Zweckbauten Kirch- und Schlossturm der Stadt zu sehen. Ab dem Ausfluglokal Kronenhof, es gibt hier ein gutes, selbst gebrautes Bier, geht es für die nächsten Kilometer über landwirtschaftliche Wege durch Felder und Wiesen. Rechts der Taunus, am Horizont die Frankfurter Skyline. Nirgendwo Schatten oder eine Bank, auf der es sich rasten ließe. Der Weg passiert einen Tierfriedhof. Noch nie hatte ich eine solche Ruhestätte für des Menschen beste Freunde gesehen. Er war liebevoll gepflegt.

Es war heiß, die am Vortag gekaufte Sonnenschutzcreme hatte ich vergessen, nicht jedoch den kürzlich erworbenen Schlapphut. In Kombination mit einem weißen Leinenhemd war es jedoch sehr gut zu ertragen. Der Hut war meine beste Anschaffung der letzten hundert Jahre. Ohne ihn wär´s mir nicht gut ergangen. Hölderlin trug auf seinen monatlichen Gängen nach Frankfurt sicherlich auch einen Hut. Es heißt, er hätte die Strecke in drei Stunden zurückgelegt und sei am selben Tag wieder zurück gegangen. Diese Strapazen nahm er nur in Kauf, um seine Geliebte Susette Gontard zu sehen und gegenseitig die Briefe des letzten Monats auszutauschen. Hölderlin war Ende des 18. Jahrhunderts bei der Kaufmannsfamilie Gontard als Hauslehrer beschäftigt. Als sich zwischen der Dame des Hauses, Susette (Suzette), und ihm eine Liason anbahnte, blieb das dem Hausherren nicht verborgen. Er feuerte Hölderlin umgehend. Dieser fand Aufnahme bei einem Studienfreund in Bad Homburg. Susette (Suzette) Gontard ging als Diotima in die Literaturgeschichte ein. Sicher ist, dass Hölderlin nicht den gleichen Weg nutzte, den ich jetzt ging. Damals sah die Landschaft noch völlig anders aus. Es gab keine Auto- und Eisenbahn, keine asphaltierten Wege, keinen Stadtteil Riedberg und keine Frankfurter Skyline. Der Hölderlinpfad versucht daher, den Wegen des Dichters annähernd zu folgen.

Ich hoffte auf eine Sitzgelegenheit, am besten mit einem Tisch. Aber es sollte dauern. Erst im neuen Stadteil Riedberg, von dem ich bislang viel Schreckliches gehört habe. Dort war ich hingegen noch nie. Ich fand, von Norden kommend ein einladendes Viertel, ganz offensichtssichtlich für junge, und wohlhabende, Familien mit Kindern geplant. Die Vielzahl von Spielplätzen deutete darauf hin. Außerdem viel Grün, große Insektenwiesen und ein kleiner Park mit einem Weiher, Kätcheslachpark, so der merkwürdige Namen der Grünanlage. An einem der Spielplätze fand ich eine Bank, leider nicht im Schatten und ohne Tisch. Aber egal, ich wollte etwas rasten, essen und trinken. Dort machte ich mein Picknick, aß Wurst, trank Wasser und Wein. Das tat gut. Nach einer Dreiviertelstunde gings weiter.

Zunächst verlor ich den Pfad, hatte einen Wegweiser übersehen. Das gehört dazu, Verlaufen ist ein Charakteristikum von Spaziergängen. Wer nicht geht, kann sich auch nicht verlaufen. So lernt man die Welt kennen, quasi allein auf sich gestellt. Ich fand den kleinen Umweg durch diesen Teil von Riedberg durchaus interessant und freute mich an dem schönen ruhigen Weg durch hohe Insektenwiesen. Dann kehrte ich um und begab mich wieder in die wohlbehütete Obhut von Herrn Hölderlin, bzw dem nach ihm benannten Pfad. Grün ging es weiter bis zum alten Flugplatz Bonames. Dieser, seit 30 Jahren stillgelegte Flugplatz ist Teil des Frankfurter Grüngürtels, der sich rund um die Stadt zieht. Er wurde einst von der amerikanischen Armee genutzt, bis er 1992 stillgelegt wurde. Bis vor einigen Jahren gab es dort ein schönes Restaurant, in dem sozial benachteiligte Jugendliche beschäftigt wurden und eine Ausbildung machen konnten. Jetzt ist dort nur noch ein Kiosk zu finden, mit dem entsprechenden Angebot. Getränke aus Flaschen, Eis, Bratwurst und den schlechtesten und teuersten Apfelwein Frankfurts. Ein dünnes Gesöff, mit Wasser gespritzt, kostet drei Euro. Es versteht sich, dass er nicht geschmeckt hat. Aber ich konnte an einem Tisch sitzen und ein Klo gabs auch.

Nach kurzem Stopp setzte ich meinen Weg fort. Zunächst sehr schön am Uferweg der Nidda bis es dann nach rechts ging in Richtung Innenstadt. Den schönsten Teil des Pfades hatte ich hinter mir. Jetzt folgte städtische Ödnis, und gelegentlich verlor ich den Weg. Die Wegweiser waren mal auf der einen Seite der Straße angebracht und dann wieder auf der anderen. Ich folgte also der Homburger Landstraße und landete irgendwann auf der Eschenheimer Landstraße. Ab hier kümmerte ich mich nicht mehr um irgendwelche Hinweise, sondern ging geradeaus bis zum Hauptfriedhof. War nicht mehr weit bis Bornheim. Der eigentliche Hölderlinpfad endet am Goethehaus, wieso auch immer. Ohne Goethe geht’s nicht in Frankfurt. Den Hauptfriedhof hatte ich schon oft gequert, freilich ohne ihn gut zu kennen. Stattete Siegfried Unseld einen Besuch ab und entdeckte das neu aufgeschüttete Grab von Emil Mangelsdorff, dem kürzlich verstorbenen Jazzmusiker. Anschließend zum Hauptfriedhof geht’s durch die Grüne Lunge, dieser grünen Oase am Rande des Günthersburgparks. Die einst geplante Bebauung dieses Areals liegt nach dem Wahlsieg der Grünen bei der letzten Kommunalwahl glücklicherweise auf Eis. Durch den Günthersburgpark mit seinen vertrockneten, braunen Wiesen gehe ich weiter nach Bornheim. In der Gaststätte Weida schmeckt das kalte Bier besser als sonst.

Spaziergangstagebuch 8

16.03.22

Kein schöner Spaziergang

Ernst,May-Platz, Wallanlagen, Opernplatz, Mainzer Landstraße, Hoechst

Leider war das Wetter nicht so sonnig wie angekündigt. Eher trüb und diesig präsentierte sich der Himmel. Saharastaub über Frankfurt. Aber egal, ich zog meine alten Laufschuhe an und machte mich auf den Weg. Es war trocken und das ist das Wichtigste.

Angeregt durch einen Artikel in der FAZ wollte ich die Mainzer Landstraße entlang spazieren, bis nach Hoechst. Über Hoechst hörte ich immer nur, dass die Altstadt sehr schön sei. Es ist lange her, dass ich dort war. Und von der Mainzer kannte ich nur den Abschnitt im Bankenviertel und ein wenig die Gegend rund um die Galluswarte. Erst am Opernplatz zu starten kam mir nicht in den Sinn. Es war klar, dass ich von meiner Wohnung losgehen würde, am Ernst-May-Platz. Von Osten ganz nach Westen, einmal durch die Stadt.

Zunächst altbekannte und oft gegangene Wege. Beim Fein, einem Lieblingsort, zur Stärkung einen Cappuccino. Weiter durch die Wallanlagen, der Frühling zeigte sich, jedoch noch vorsichtig. Endlich am Opernplatz. Anschließend die Taunusanlage, früher Treffpunkt sämtlicher Junkies der Stadt, mittlerweile eine aufgeräumte Grünanlage mit teilweise schrecklicher Kunst inmitten des Bankenviertels. Direkt anschließend die Mainzer Landstraße. Acht Kilometer auf einer weitgehend schnurgeraden, wenig attraktiven Straße lagen vor mir. Keine sehr verlockende Aussicht. Aber einen schönen Spaziergang hatte ich auch nicht erwartet, im besten Falle einen interessanten und überraschenden.

Die Skyline interessiert mich nicht so besonders. Klar, ein beliebtes Photomotiv, das ich aber nur selten ablichte, andere machen das zuhauf. Von diesen Häusern geht kein Leben aus. Nachts sind sie tot. Mich interessiert Frankfurt da, wo es aussieht wie Hannover, Stuttgart oder irgendeine beliebige andere Stadt. Aber wenn ein angenagtes Hochhaus der Sparkasse aus den sechziger Jahren seinen letzten Tagen entgegengeht, während im Hintergrund der Hauptturm des Quartiers „Four“ in den Himmel wächst, dann finde ich dass das schon ein Photo wert ist. Hier zeigt sich Umbruch, Anfang und Ende sowie Veränderung. Ob zum Besseren sei dahingestellt. In Höhe der Deutschen Bank ein weißes Ghoastbike, in Gedenken an einen 57-jährigen Radfahrer, der dort am 26.09.2019 zu Tode gekommen ist. Leider sind viele dieser Räder am Straßenrand zu sehen. An der Hausnummer 23 fällt ein Rohbau auf. Bautätigkeit ist keine zu beobachten. Die vierspurige Mainzer dient auch als Grenze zwischen dem vornehmen Westend und dem etwas verruchten Bahnhofsviertel.

Südlich, in der Verlängerung der Moselstraße, ist der Holbeinsteg zu sehen, der vom Bahnhofsviertel zum Städel über den Main führt. Kurz Fluchtreflexe, vielleicht doch eher längs des Mains nach Hoechst zu spazieren. Aber ich blieb an dieser ungastlichen Straße. Nach wenigen Metern der „Platz der Republik“, eine riesige Kreuzung. Sinnbildlich für die Autorepublik Deutschland. Ich muss an den „Marktplatz“ in Offenbach denken, der ja auch alles andere ist als ein Marktplatz, sondern ebenfalls eine stark befahrene Kreuzung. Aber wenigstens wird die ja inzwischen umgebaut. Rechts, in der Düsseldorfer Straße, ist gut das alte Polizeipräsidium zu sehen, dass ebenfalls dem Tod geweiht ist. Vor vielen Jahren war ich mal drin. Ich arbeitete noch beim Suhrkamp Verlag und in diesem Gebäude fand die Buchmessenparty des Verlages statt. Es war sehr charmant.

Ab diesem „Platz“ verändert sich die Mainzer, das Geldviertel endet hier. Weniger Bankentürme, weniger Glitzer, weniger edle Restaurants. Vorbei an Baustellen, von Norden ist das Skyline Plaza zu sehen, das Einkaufszentrum, das den Beginn des Europaviertels markiert (im Spaziergangstagebuch 6 das Thema). Gerne hätte ich im Café Ernst bei Kaffee und Kreppel pausiert, aber es war geschlossen. Also weiter, vielleicht ergab sich ja auf dem weiteren Weg eine andere Gelegenheit. Rechterhand schweift der Blick ins Gallusviertel. Erneut Fluchtgedanken, ob ich nicht meinen Weg über die parallel führende Frankenallee weiterführen soll. Aber ich blieb der häßlichen Straße treu. Habe im Laufe der Jahre gelernt, dass Häßlichkeit zu einer Stadt gehört, mithin wichtig ist. Aber das wäre ein eigenes, wohl auch sehr interessantes Thema, dass mir bereits länger im Kopf rumspukt. An Baustellen vorbei geht es weiter. Der Baukran ist das wahre Wahrzeichen Frankfurts, so ähnlich hatte es Mark-Stefan Tietze bereits 2014 in den Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten formuliert. Das Gebäude der FAZ mit seiner Klinkerfassade folgt, bald auch die Galluswarte, natürlich mit Wasserhäuschen. Sie kann einem leid tun, auf ihrer engen, vom steten Autoverkehr umnebelten Verkehrsinsel. Ähnlich einem Leuchtturm, der Sturm und Wellen trotzt. Einige Unentwegte stehen trotzdem da und trinken ihr Binding.

Hinter Autohäusern versteckt eine eindringliche Mahnung. Erneut ändert die Straße ihren Charakter. Ab hier verläuft sie zweispurig, von Wohnhäusern gesäumt. Vor einer Mansardenwohnung trocknet Wäsche auf dem Dach, es ist windstill. Der Schriftzug der Adlerwerke überragt die Gegend. Der ehemals größte deutsche Fahrradproduzent, später auch von Nähmaschinen und Autos, diente Nazideutschland als wichtiger Hersteller für Rüstungsgüter, mit massivem Einsatz von Zwangsarbeitern. Erfahrung mit der Produktion für Rüstungszwecke hatte die Fabrik bereits im ersten Weltkrieg gesammelt. Ab dem August 1944 wurde in den Adlerwerken eine Außenstelle des KZ Natzweiler eingerichtet, unter dem Namen Katzbach. Die über 1600 Insassinnen und Insassen wurden als Zwangsarbeiter missbraucht, oft bis zum Tode. Kaum jemand überlebte. Es ist sehr lohnend sich näher mit der Geschichte dieser Fabrik zu beschäftigten. Am 25 März 2022 wird der Geschichtsort Adlerwerke eröffnet.

Folgen wir unserer Straße weiter nach Westen. Autoglas Reifen 24, Dream Haar Studio (ohne Termin), Sportsbar, Döner, Chinarestaurant, Mainzer Grill, Alinis Frischer Fisch und Fisch Imbiss, Pizzeria Prago, Main Chicken. Im Euro Jackpot locken 89 Mio Euro. Die Mainzer wird zur Ausfallstraße mit dem typischen Angebot. Und auch wieder ein Plakat, dass zeigt, weshalb ich froh bin, Fan dieses Vereins zu sein. Charakterlose Wohnriegel erinnern an das nahe Europaviertel. Linkerhand eine kleine Grünanlage, verziert mit einem überaus häßlichen Kunstwerk. „NICHTS BLEIBT WIE ES IST“; lautet die Inschrift. Ich wünsche es dem Klotz. Der Titel des Werks indes macht Hoffnung: „LIVING STONE“. Denn was lebt, stirbt auch.

Überraschend plötzlich eine Reihe von Siedlungsbauten an der Schloßborner Straße. Alte Hellerhofsiedlung ist laut Wikipedia die korrekte Bezeichnung für diesen Ort. Sie wird in der Liste der Kulturdenkmäler des Gallus geführt. Ab hier wird die Mainzer wieder vierspurig. Ein Anwohner harkt, mit T-Shirt und Turnhose bekleidet, den Vorgarten des Mehrfamilienhauses. Ich friere beim Anblick. Weiter geht`s, Tankstellen, Waschanlagen, Burgerbuden, ein Baumarkt säumen meinen Weg. Die Straßenbahnhaltestelle Mönchhofstraße. Oft sehe ich diesen Namen, denn er prangt auf den Straßenbahnen der Linie 14, die am Ernst-May-Platz in Bornheim endet. Von dort fährt sie bis zur dieser ominösen Mönchhofstraße, der Endstation im Westen. Wo das wohl ist, habe ich mich immer gefragt. Jetzt weiß ich es und ich weiß auch, dass es nicht lohnt dort hin zu fahren. Aber ich bin die ganze Strecke der 14 abgelaufen und das macht mich ein kleines bißchen stolz. Hier hört die Stadt auf. Kleingärten mit Fähnchen von Fußballclubs und Heimatländern. Oft auch so zerfleddert, dass nichts mehr zu erkennen ist. In einer Kleingartenanlage eine Werbetafel für die Arabesque Shisha Bar & Lounge. Ich kann sie nirgends entdecken. An einem gesichtslosen Wohnblock die Ukrainische Flagge am Balkongeländer. Die Gegenwart ist überall.

Plötzlich der Stadtteil Nied, ein Ort, den ich nur aus dem Zugfenster kenne. Ein-zwei Mal, als ich mit Kolleginnen und Kollegen als Staffel am Frankfurt Marathon teilgenommen habe – lange ist es her – war in Nied die Wechselstation, oder wie das hieß. Das war`s. Aber immerhin darf ich hier für ein paar hundert Meter der furchtbaren Straße entfliehen, denn sie ist durch einen Wall von dem Ort ein wenig abgetrennt. Zu Hören natürlich immer noch, zu riechen auch. Aber es wird fast schon idyllisch. Als ich wieder auf die Mainzer treffe, werde ich von einem UFO begrüßt. Es gehört zum Jugendzentrum Nied.

An der Kirche Nied lässt mich die Mainzer frei, ich darf zum Mainufer. Erleichterung und Aufatmen. Hoechst schon in Sichtweite. Es dauert nicht mehr lange. Bald das Schloss und der Schlossplatz. Ich habe mein Ziel erreicht. Hier ist es wirklich sehr schön. Ich kehre in eines der drei Wirtshäuser ein, finde einen Platz in Thekennähe und genieße das Zwickelbier vom Hofbräuhaus. Zur weiteren Stärkung bestelle ich eine Gulaschsuppe. Die erinnert allerdings an solche, die an Autobahnraststätten angeboten werden. Allerdings war ich schon seit Ewigkeiten an keiner Autobahnraststätte, vielleicht tue ich ihnen Unrecht. Aber wieso können die Leute in einem solchen Lokal ihre Suppe nicht selbst zubereiten? Naja, das Bier hat entschädigt.

Zurück geht`s mit der S-Bahn. Ich habe 15 Km in den Beinen und die Stadt wieder etwas besser kennen gelernt.

Spaziergangstagebuch 7

13.02.22

Eine runde Sache. Von Bornheim, durch die Gartensiedlung Riederwald, das Enkheimer und Berger Ried nach Bergen und über den Lohrberg und durch Seckbach zurück nach Bornheim.

Der Sinn stand mir eher nach Couch als nach Spaziergang. Ich hatte hundsmiserabel geschlafen und war sehr müde. Das Wetter sprach jedoch eine andere Sprache. Sonne, fast wolkenlos. Also überwand ich den Schweinehund, zog die Schuhe an und stiefelte los. Klarer Himmel, die Sonne hatte schon etwas Kraft, der Frühling streckte seine Fühler aus. Ich ließ mich gerne einfangen. Klare Luft, weiter Blick. Im Norden sogar die Windräder der Hohen Straße zu erkennen. Wie oft bin ich dort schon vorbeigeradelt. Das Radfahren darf in diesem Jahr nicht wieder zu kurz kommen, wie im letzten. Ich ging nach Osten, zunächst am Bornheimer Hang das Stadion des glorreichen Viertligaclubs FSV Frankfurt passiert. Einige Jahre hatte der Verein in der zweiten Liga gespielt, da war ich gelegentlich auch mal im Stadion. Als Knirps spielte ich auch mal Fußball, bei Germania 94 in Sachsenhausen. Immer wenn ich nicht wusste, wohin mit dem Ball, und das war meistens so, spielte ich ihn ins Aus. Ich habe wohl auch nur einmal gespielt, weiß auch nicht mehr, ob ich später noch zum Training gegangen bin. Vielleicht hatten meine Eltern ein Einsehen und gemerkt, dass Fußball nichts für mich ist. Eventuell hat sich damals schon meine Abneigung gegen Vereine und regelmäßiges Training entwickelt. Eine Amsel scharrt im trockenen Laub.

Ich entfliehe der grässlichen Straße Am Erlenbruch und tauche ein in die schöne Gartensiedlung Riederwald, bis sie mich am Torhaus wieder ausspuckt. Mir lief leicht die Nase. Ich hatte aber tatsächlich Taschentücher vergessen und fragte mich, wie das passieren konnte. Seit Tagen ist meine Nase im Dauerlaufmodus. Nun gut, es war so.

Eine rot-weiss gestreifte Schranke markiert den Eingang zum Enkheimer Ried. Die nächsten Kilometer geht es nur durch Natur. Vor ungefähr einem Jahr war ich zum ersten Mal hier, auch in dieser Jahreszeit. Kahle Äste überall, die aber einen weiten Blick gestatten. Eine einsame Schaukel baumelt an einem Ast. Radfahrer überholen mich, ich gehe auf der Strecke nach Maintal und weiter nach Hanau. Bald werde ich hier mal mit dem Rad entlangfahren. Das Enkheimer Ried ist Teil des Grüngürtels rund um Frankfurt. Innerhalb des Grüngürtels fallen immer wieder sehr lustige Skulpturen auf, für die Künstler der Neuen Frankfurter Schule verantwortlich zeichnen. Hier wacht in luftiger Höhe die dicke, grüne Raupe von F.K Waechter. Vor einem Jahr bin ich achtlos drunter hergegangen. Weitere bekannte Exponate sind das Ich-Denkmal von Hans Traxler kurz vor der Gerbermühle am Main oder das Grüngürteltier von Robert Gernhardt an der Nidda. Achim Frenz, der Leiter des Caricatura Museums in Frankfurt, schrieb einst in einem Facebook-Kommentar, ohne die Spaziergangswissenschaft, die der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt entwickelt hat, würde es die komische Kunst im Grüngürtel nicht geben.

Das Enkheimer Ried ist ein Paradies für Vögel. Ich lerne, dass Nachtigallen Bodenbrüter sind, weshalb Hunde an der Leine zu führen sind. Der starke Regen der letzten Zeit hat überall seine Spuren hinterlassen. Ein Familie mit kleinem Kind trottet lautstark den Weg entlang. Ich beeile mich, Distanz zu ihnen zu gewinnen. Der Regen der letzten Tage hat überall seine Spuren hinterlassen. Aus dem Gehölz ragt der niedrigste Hochsitz, den ich jemals gesehen habe. Ein Stück weiter taucht rechterhand ein kleiner See auf, der mir, ähnlich der Dicken Raupe, im letzten Jahr auch entgangen war. Auch hier war Unachtsamkeit der Grund. Der Weg endete dann. Ich stand vor einer Straße und einer Baustelle. Wo war ich? Das Navi leitete mich auf den rechten Weg zurück. Es war nicht weit. Ich hatte mich verlaufen, dabei aber einen mir bislang unbekannten See entdeckt.

Die Zahl der Sonntagsspaziergänger wächst. Ein unsichtbarer Specht trommelwirbelt durch den Wald, Rechts mündet der Nachtigallenweg, der Riedweiher liegt ruhig. Ich verlasse das Enkheimer Ried und überquere die imaginäre Grenze zum Berger Ried. Auf dem Hügel thront Bergen, die bessere Hälfte von Bergen-Enkheim. Von nun an geht`s bergan, auf teils schlammigen Wegen.

Der Blick ist frei, über Skyline bis Stadtwald. Winzig ragt der Goetheturm empor. Dahinter der Odenwald, im Osten das Kraftwerk bei Hanau und am Horizont die Ausläufer des Spessart. Leider muss ich den Weg verlassen und der Straße nach Bergen bergan folgen. Am Straßenrand ein „Unfalldenkmal“. In der FR lese ich am nächsten Tag, dass es eine temporäre Aktion ist, zur Mahnung an Autofahrer, sich an Geschwindigkeitsgrenzen zu halten. Initiiert von irgendwelchen BFF Leuten, was mich sofort stutzig macht. Sinnlos wohl auch, denn lesen können die mahnenden Hinweise nur Fußgänger und von denen gibt`s hier nicht viele. Die meisten brettern mit Autos vorbei und werden die Installation wohl kaum wahrnehmen. In einem Vorgarten ein Wegweiser, der die Entfernung nach Berlin anzeigt. Sehnsuchtsvolle Gedanken, ich muss wohl bald mal wieder hin. An der Marktstraße kaufe ich mir beim Wasserhäuschen ein Bier. Wegbier gehört normalerweise nicht zu meiner Ausstattung, aber ich habe Durst und es schmeckt. Bald bin ich auf dem Lohrberg und werde mit einem beeindruckenden Ausblick belohnt. Ein Mann mit Helm schlängelt sich auf einen elektrischen Skateboard über die Wege. Wieso? Die Lohrbergschänke erwartungsgemäß dicht belagert. Ich gehe weiter durch eine Kleingartensiedlung bergab nach Seckbach. Eine gute Freundin hatte dort einst einen Garten. Ich war einmal da, wir haben in der Sonne Tee getrunken. Die Autobahnbrücke ist das wenig attraktive Tor nach Bornheim. Ein Stück am Bornheimer Hang, ich nähere mich meinem Ausgangspunkt. Frühlingsboten sprießen am Wegesrand. In der Gaststätte Weida gönne ich mir ein weiteres Bier. Ein schöner Spaziergang endet und ich bin froh, den Verlockungen der Couch nicht erlegen zu sein

Spaziergangstagebuch 4

03.12.21

Vom Ernst-May-Platz zum Schillermarkt und zurück.

Der Wind hat schlechte Laune

Ein grau-kühler Herbsttag, sehr windig aber trocken. Warm anziehen, dann los. Die Wittelsbacher Allee ist Teil der Ernst-May-Siedlung in Bornheim Ost, gleich am Bornheimer Hang. Es gibt über Frankfurt verteilt mehrere dieser Siedlungen, alle nach deren Baumeister Ernst May, dem damaligen Stadtbaudirektor der Stadt, benannt. Entstanden sind sie in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Bekannt sind diese Siedlungen unter dem Begriff „Das neue Frankfurt“. Ich wohne in einem solchen Haus und weiß es zu schätzen, auch wenn meine Wohnung von May nicht als eine solche geplant wurde, sondern als Mansarde.

Wie immer ist die Kreuzung Freiligrathstraße / Fechenheimer Straße zugeparkt. Das ist hier immer so in der Autohölle Freiligrathstraße. Kein Baum, aber alles voll mit parkenden Autos. Menschen mit Rollstuhl, Kinderwagen oder Rollator haben hier große Probleme, die Straße zu queren. Vor einigen Jahren gab es eine Nachbarschaftsinitiative, die versuchte, etwas Grün in die Straße zu bringen. Das wäre nur auf Kosten von Parkplätzen gegangen. Das Geschrei war groß, die Leute wollten lieber parken statt wohnen. Der einzige Lichtblick in dieser öden Straße ist die Jazz- und Chansonbar Mosaik mit ihrem wunderbaren, liebenswerten Wirt. Sie liegt an dieser Kreuzung.

In der Fechenheimer Straße wurde im Juni 1927, also jenem Jahrzehnt, in dem das Neue Frankfurt entstand, der Gangsterboss und Bestsellerautor Henry Jaeger geboren. Er war der Chef der berüchtigten Jaeger-Bande, die in den frühen Fünfziger Jahren mit Einbrüchen und Raubüberfällen die Stadt in Atem hielt. Im Dezember 1954 überfiel die Bande eine Rentenzahlstelle der Post im Oeder Weg. Damals wurden die Renten in bar ausbezahlt. Sie erbeuteten 80000 Mark, eine riesige Summe. Allerdings hatten sie nichts von ihrer Beute, denn die Bande wurde geschnappt und die Mitglieder später zu jeweils 12 Jahre Gefängnis verurteilt. Im Knast fing Jaeger an mit Bleistift auf Klopapier einen Roman zu schreiben. Der Gefängnispfarrer schmuggelte das Manuskript nach draußen und fand tatsächlich einen Verlag. Außerdem besorgte er eine Praktikumsstelle für Jaeger bei der Frankfurter Rundschau. Aufgrund dieser positiven Sozialisierungsprognose wurde er von Bundeskanzler Adenauer begnadigt. Der Roman erschien 1962 unter dem Titel „Die Festung“ und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Die Verfilmung unter dem Titel „Verdammt zur Sünde“ mit Hildegard Knef und Martin Held in den Hauptrollen, war ebenfalls sehr erfolgreich,. Jaeger wurde berühmt und reich, diesmal auf legale Weise. Seinen Reichtum kostete er in einer Künstlerkolonie in Ascona aus und feierte ausschweifend mit schönen Autos und schnellen Frauen. Weitere Bücher waren weniger erfolgreich. Jaeger starb verarmt im Dezember 2000 in einem Frankfurter Armenhospiz.

Gleich nebenan hat die Gaststätte Henscheid, Nachfolger des legendären Wirtshauses Klabunt in der Berger Straße, an diesem frühen Nachmittag ihre Pforten noch geschlossen.

Die Roßdorfer Straße ist im Vergleich mit der Freiligrath ein Paradies. Wenig Durchgangsverkehr, einige Bäume auf einer Seite und recht ruhig. Alles ok für eine städtische Straße und doch mag ich sie nicht. Bis heute habe ich nicht ergründen können weshalb. Aber auch hier gibt`s interessante Einblicke hinter die Kulissen. Diese Höfe, noch dazu wenn sie nicht zugänglich sind, machen neugierig, sie bergen Geheimnisse und Geschichten.

Im Sandweg sagt ein kleiner Junge, bevor er in das Lastenrad klettert, zu seinem Vater: Der Wind hat schlechte Laune. Das klingt vielleicht absurder als es ist. Tatsächlich hat der Wind sehr viele Eigenschaften. Bei Jimi Hendrix kann er einen Namen flüstern, schreien und kreischen, Mary. Und bei Ruiz Zafon hat er sogar einen Schatten. Ich gehe durch eine enge, unansehnliche Straße, in der ein einsames Bäumchen vergeblich gegen die Tristesse anzukämpfen versucht. Es ist die Seumestraße. Ich hätte dem großen Spaziergänger und Schriftsteller eine repräsentativere Adresse gewünscht. Vor dem Testzentrum am Merianplatz warten drei Leute auf ihren Schnelltest.

Ich komme in die Stephanstraße, zwischen Zeil und Bleichstraße gelegen. Dort gehe ich gerne, breite Gehwege, viel Grün und keine Parkplätze. Ein Obdachloser zieht seines Weges, den Kopf gesenkt, über der Schulter eine große, gefüllte IKEA Tasche. Er brummelt vor sich hin, vielleicht seinen Welthass. Auf dem angrenzenden Peterskirchhof, städtische Begräbnisstelle seit dem 15. Jahrhundert, haben Goethes Eltern ihren letzten Ort gefunden, getrennt für alle Ewigkeit. Wobei Goethes Mutter „umgezogen“ ist, und inzwischen auf dem Hof der benachbarten Schule liegt. Und dann gibt es direkt nebenan ein ausgesprochen schönes neues Gebäude mit einer Backsteinfassade zu entdecken. Ist ja nicht allzu oft so zu finden in Frankfurt.

Auf dem nahe gelegenen Markt an der Schillerstraße bei Schinken Becker ein Brötchen mit Kochschinken erstanden. Wollte bei Schoppe Otto einen heißen Apfelwein dazu trinken, aber sein angestammter Standort war an diesem Tag verwaist. Schade. An der benachbarten Hauptwache standen einige Buden des diesjährigen Weihnachtsmarktes, der sich über die halbe Innenstadt zieht. Dort würde ich einen heißen Schuppen bekommen. Es galt Maskenpflicht, nicht aber am Schillermarkt. Weshalb entzieht sich der Logik. Zunächst aber in das Schuhgeschäft hinter der Katharinenkirche. Ich brauchte dringend gute Schuhe für den Winter. Es war klar, ich musste nicht überlegen, es sollten wieder (Achtung Reklame) die bewährten Timberlands sein. Fünf Minuten später war ich wieder draußen, die begehrten Schuhe ohne Karton im Stoffbeutel. Jetzt also heißer Apfelwein. Nach einer Weile entdeckte ich in einer Ecke einen Stand der Kelterei Possmann. Ich hatte es befürchtet. Aber was anderes gab`s nicht, also dort einen quitschsüßen, aber immerhin heißen Schoppen, getrunken. Das Schinkenbrötchen dazu verzehrt. Wenigstens gewärmt ging es zurück.

Immer wieder ein Lichtblick, das Wasserhäuschen Fein in den Wallanlagen an der Petersstraße. Ein stets gern angesteuerter Rastpunkt. Dort bestellte ich einen Cappuchino und zog meine neuen Schuhe an. (Achtung Reklame) Timberlands sind perfekte Schuhe für alle, die viel zu Fuß unterwegs sind. Total uncool, aber sehr bequem, stabil und haltbar. Sie passen sich an und mit der Zeit entwickeln sie so etwas wie einen eigenen Charakter. Anziehen, wohlfühlen und losgehen. Sie sind natürlich nicht ganz billig, aber ich bin zu arm, um billige Schuhe zu kaufen. Mit warmen Füßen geht`s zurück nach Bornheim. In der Scheffelstraße erinnern Stolpersteine an die Familie Strauss, der es gelungen ist 1937 nach Uruguay zu fliehen. Das hat was tröstliches. Am Merianplatz schaue ich in ein erleuchtetes Zimmer im Erdgeschoss. Platten, viele CDs, Bücher und Musikinstrumente, ein Keyboard und zwei Harfen, zieren die Wände.

Die Füße sind warm, der Rest nicht. Überall zieht es rein, ich friere. Der Wind hat schlechte Laune.

Fundsachen

Ich bin Fußgänger, durchaus auch Spaziergänger, Fußgänger im Sinne von zielgerichteter Fortbewegung gemeint, von A nach B. Mein Verkehrsmittel sind Beine und Füße. Natürlich gehe ich auch sehr gerne spazieren, auch sehr lange. Zwanzig Kilometer sind kein Problem. Ich mache fast alle meine Wege in der Stadt zu Fuß. Das liegt auch daran, dann ich nur selten Termine vor dem Nachmittag habe. Manche dieser Spaziergänge sind wöchentliche Rituale geworden, der donnerstägliche Gang zum Markt an der Konstablerwache etwa, meist auch am Samstag. Schon immer bin ich gerne zu Fuß durch mir fremde Städte spaziert, New York, Madrid, Istanbul. Aber ich habe mich im Alltag immer als Radfahrer gesehen. Mittlerweile steht das Rad oft tage- und wochenlang im Keller. Wenn ich weitere Strecken zurücklegen muss, nach Sachsenhausen z.B. und abends erst spät zurückkomme, dann nehme ich das Rad. Bus oder Bahn fahre ich nur, wenn ich mit Gepäck zum Bahnhof muss.

Die Lektüre von Erling Kagges Buch „Gehen. Weiter gehen“ hat mich zum Fußgänger gemacht. Er schildert dort unter anderem die morgendlichen Wege zu seinem Verlag in Oslo und was diese Gänge mit ihm machen. Wie frisch und wach er beispielsweise in seinem Büro ankommt. Nach der Lektüre dieses schmalen Bandes wurde aus dem Radfahrer der Fußgänger.

Vor da an bin ich nicht mehr mit dem Fahrrad in die Nationalbibliothek gefahren, sondern zu Fuß gegangen. Ich varierte immer die Wege, wollte soviel wie möglich entdecken. So dauerten diese Spaziergänge zwischen 30 und 45 Minuten. Ich kam mit wachem Geist in der Bibliothek an, die Luft hatte mir gut getan und das Gehen ebenfalls. Die positiven Auswirkungen des Zufußgehens auf Körper und Geist sind hinlänglich bekannt. Darum soll es hier nicht gehen. In diesem Text geht es darum, das Fußgänger mehr und anders sehen als andere. Eine kleine Reihe auf Instagram, die ich immer „Hinter den Kulissen“ nenne, gibt davon ein Beispiel. Blicke in Einfahrten, Hinterhöfe oder auf Brandwände. Photos die nur Fußgänger machen können, alle anderen fahren dran vorbei. Und wer mehr sieht, findet auch mehr. Darum soll es gehen, um die Fundsachen auf meinen Wegen, die mir gute Dienste leisten.

Da wäre zunächst dieser wunderbare Thonet-Barhocker. Er stand vor ungefähr zwei Jahren nächtens allein und unbeachtet irgendwo im Nordend. Ich habe ihn aus dieser misslichen Lage befreit und an mich genommen. Er ist vollkommen intakt. Mir ist es bis jetzt völlig unbegreiflich, wie so ein derart schönes Möbelstück auf diese Weise entsorgt werden kann. Ich bin dankbar.

Ergänzt wird dieser Barhocker durch einen zweiten, aber völlig anders gearteten Kollegen. Er ist aus Kunststoff, wahrscheinlich von Ikea. Das ist praktisch, denn er kann bei Wind und Wetter draußen auf dem „Balkönsche“ stehen bleiben. Dieser Hocker wartete vor REWE in Bornheim darauf, dass sich jemand seiner erbarme. Beim ersten Vorbeigehen hatte ich ihn noch stehen lassen, mich zuhause darüber geärgert. Als ich später wiederkam, war er noch da. Das „Balkönsche“ ist gar keins, sondern ein Fluchtweg. Ich musste durch eine Unterschrift bestätigen, das zur Kenntnis genommen zu haben. Im Ernstfall kann ich von dort auf die Leiter klettern oder mich ins Sprungtuch fallen lassen. Diese zwei Barhocker ergänzen sich perfekt, denn auf diesem Fluchtweg lässt es sich im Sommer trefflich sitzen, die Weingläser auf der breiten Brüstung abgestellt. Wie an einem Tresen.

Bleiben wir bei Stühlen. Mehrere Stunden am Tag sitze ich auf diesem Exemplar. Ich sitze dort wenn ich esse oder schreibe. Er ist sehr bequem und gut erhalten. Er fand sich irgendwann im letzten Jahr vor einem Haus unweit meiner Wohnung. Ich habe nicht gezögert.

Ebenfalls in meiner Straße kam ich in einer betrunkenen Sommernacht an Sperrmüll vorbei, abgestellt an einer Hauswand. Darunter ein Umzugskarton mit Schallplatten. Ich stöberte und fand diese vier Platten. ich konnte sie nicht stehen lassen. Gehört habe ich sie auch, alle in guter Verfassung, was ich beim äußeren Anschein eher nicht vermutet hätte. Aber die Geschichte um diese Platten muss noch erzählt werden, es war denkwürdig.

Nicht in meiner Straße, aber auch in Bornheim, war diese Stehlampe mit dem Schwenkarm freigelassen. Ein Zettel hing dran „Funktioniert noch“. Wieder musste ich nicht überlegen, nach so einer Lampe stand mir schon länger der Sinn. Zuhause probierte ich sie aus, der Zettel hat nicht gelogen. Sie ist jetzt jeden Tag in Gebrauch.

Der neueste Zuwachs ist dieses Tischchen, es stand ebenfalls in meiner Straße. Ist etwas lädiert, was ich aber ganz charmant finde. Irgendwann stelle ich eine Pflanze drauf. Derzeit dient es mir als Ablage für das Tablet, wenn es geladen wird.

Verlassen wir mein Wohn- und Esszimmer und begeben uns in die sehr kleine Küche. Dort leistet mir seit geraumer Zeit dieses kleine quadratische Regal gute Dienste. Oft sind es aber auch einfache praktische Dinge, die ich finde. Diese kleinen Drahtkörbe, die mit Saugnäpfen an den Kacheln befestigt, die Abwaschuntensilien griffbereit für mich bereithalten. Praktische Dinge.

Zum Schluss sei erwähnt, dass ich vor einigen Wochen in Berlin während eines langen Spaziergangs durch Kreuzberg und Tempelhof, 120,- € auf der Straße gefunden habe. Zu Fuß gehen lohnt sich also.

Spaziergangstagebuch 3

10.11.

Vom Ernst-May-Platz zum Goetheturm und zurück

Ein Tag wie ihn nur der Herbst zustande bringt. Herbstlaub raschelt unter den Füßen. Ein Jogger in kurzen Hosen kämpft sich den Anstieg am Bornheimer Hang hoch. Am Röderbergweg eine Reihe solider Häuser. Von dort schweift der Blick, besonders im Herbst und Winter über den Ostpark, weiter nach Offenbach und Hanau, bei klarer Sicht bis Spessart und Odenwald. Im Süden ragt der Goetheturm aus dem Stadtwald. Mein Ziel. Eine sehr schöne Straße, Platanengesäumt und still. Grzymek soll hier irgendwo gewohnt haben. Am Wegesrand ein in den Farben des FSV angepinselter Verteilerkasten. Wieder wechsle ich wegen eines Hundes die Straßenseite. Die Sonne scheint mir ins Gesicht, vor mir der mächtige Bau der EZB. Derzeit werden die Altglascontainer in Frankfurt wohl nur schleppend geleert. Fahrzeugmangel ist zu lesen.

Die Wagenburg am Ostbahnhof muss bis Januar einem Hotelneubau weichen. Es ist zu hoffen, dass bis dahin ein Ersatzstandort gefunden wird, sonst gäbe es auf einen Schlag eine Menge neuer Obdachloser in der Stadt. Die Gedenkstätte an der EZB. Von hier wurden Frankfurts Juden nach Auschwitz deportiert, nachdem sie in langen Kolonnen durch die Stadt getrieben wurden und oft stundenlang ohne Toiletten in der Großmarkthalle stehen mussten. Den Transport mussten sie bezahlen. Die Gleise sind noch zu sehen. Das Honseldreieck zwischen Honsel und Osthafenbrücke soll tatsächlich bebaut werden mit einem Hotel. Der Glaskasten wird dann allen, die aus Richtung Offenbach kommen, den Blick auf die Skyline verwehren. Frankfurt will halt auch seine Elbphilharmonie, wenn auch etwas kleiner. Im Schatten der Honselbrücke haben sich einige Obdachlose mit Zelten eingerichtet. Rauch steigt auf. Wird gekocht? Im schönen Club und Café Familie Montez hätte ich gerne einen Kaffee getrunken, aber die Zeit drängte, es wird früh dunkel. Ein leeres Frachtschiff tuckert rückwärts in den Osthafen. Über die Osthafenbrücke wechsle ich auf die andere Mainseite, den Goetheturm im Blick. Auf dem Mainweg rollert ein alter Mann auf einem Fahrrad des Weges, einige Habseligkeiten im Gepäckkorb. Er inspiziert Mülleimer, ein Flaschensammler. Ich wandle auf Goethes Spuren und passiere die Gerbermühle, wo er einst Geburtstag feierte.

Dort verlasse ich den Mainuferweg und biege ab in Richtung Oberrad. Von den Oberräder Feldern stammen die Kräuter für die echte Frankfurter Grüne Soße. Jede Grüne Soße, die in den Wintermonaten angeboten wird, wird aus importierten Kräutern zubereitet und darf auch nicht „Frankfurter Grüne Soße“ genannt werden. Der Ortskern von Oberrad, eine Haltestelle. „Das Wirtshaus in Frankfurt“ hat geschlossen. Wohin jetzt? „An der Mannsfaust“, der liebste Straßenname meiner besten Freundin. Man grüßt sich in Oberrad am Rande des Stadtwalds. Der Wald in herbstlichem Gewand. Ich hätte mir ein zweites Paar Socken anziehen sollen. Bin mir nicht so ganz sicher, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Aber schnell habe ich wieder Empfang und weiß, dass ich richtig bin. Geheimnisvolles Zeichen an einem Baum, an Brüste erinnernd. Ich grüße die wenigen Spaziergänger, die mir entgegen kommen. Meist stifte ich damit Verwirrung. Zwei Joggerinnen überholen mich, sich unterhaltend. Ich wollte beim Joggen nie reden. „Wie lange will die denn noch leben“, meine ich aufzuschnappen. Vielleicht habe ich mich aber auch verhört. Ein Buntspecht begrüßt mich fröhlich. Der Maunzenweiher läge still und ruhig, würden nicht im Minutentakt Flugzeuge im Landeanflug auf den nahen Flughafen die Stille zerschneiden. Der Wendelsweg führt schnurstracks hinein nach Sachsenhausen. Ein Polizeiwagen kommt mir entgegen. Einige Minuten später nochmals mit höherem Tempo. Zwei junge Frauen, vielleicht auch Mädchen, rennen in Alltagskleidung in den Wald hinein. Es sah nicht nach Joggen aus. Vielleicht ein Spiel im Sinne von, wer zuerst da ist, hat gewonnen. Immer wieder Hinweise darauf, wie krank dieser Wald ist. Und wieder dieses Zeichen. Vielleicht ein Code der Waldarbeiter.

Raste in der Goetheruh, trinke einen Cappucchino und esse dazu ein gigantisches Stück Kirschstreusel, leider ziemlich trocken. Außer mir ein älteres Paar zwei Tische entfernt. Er ist mindestens Mitte, Ende 70, die Dame an seiner Seite etwas jünger. „Ich will dich jetzt mal in die Familie einführen“, sagt er zu ihr „damit die wissen, wer du bist.“ Sie zeigt sich nur mäßig begeistert. Ansonsten verliere ich mich in Kindheitserinnerungen. Oft war ich damals mit den Eltern hier. Der Goetheturm war mein wahres Wahrzeichen von Frankfurt. Wer aus dem Norden auf die Stadt zufährt sieht ihn schon von Weitem aus dem Stadtwald ragen. Noch heute habe ich seinen Geruch in der Nase. Ich war erschüttert als er 2017 abgefackelt wurde und der charakteristische Duft Brandgeruch wich. Irgendjemand mit Brandbeschleuniger und Feuerzeug hatte es in diesem Jahr auf etliche Holzbauwerke in der Stadt abgesehen, Schaden 5 Mio. Euro. Dieser Turm war das prominenteste Opfer seiner, oder ihrer, Brandlust. Bis heute ist niemand gefasst. Als Kind war dieser Ort am Goetheturm mein Lieblingsplatz. Den Spielplatz von damals gibt es heute noch. Nach dem Spielen gab es Kakao und Apfelstrudel in der Goetheruh. Seit zwei Jahren steht jetzt die Rekonstruktion des Turms. Er ist, anders als der alte, hell und er riecht nicht. Ich war auch noch nicht oben.

Über den Wendelsweg geht`s zügig abwärts, vorbei an verwunschenen Kleingärten. Am Himmel rätselhafte Wolkenformation, wahrscheinlich Kondenzstreifen eines Flugzeugs in Warteschleife. Ein ebenso verwunschenes Wasserhäuschen am Wendelsweg. Sachsenhausen empfängt mich rotgetränkt. The world is on fire. Ich kehre an der Darmstädter Landstraße bei Kaliko ein, einem angenehmen, ruhigen Lokal mit guter Küche und guten Getränken zu einem sehr vernünftigen Preis. Vom lärmenden Alt-Sachsenhausen gleich nebenan ist hier nichts zu merken. Seit Corona war ich nicht mehr dort, wurde aber wiedererkannt. Ich esse Königsberger Klopse, trinke Riesling und zum Abschluss einen Espresso und einen Brandy. Dann gehe ich weiter über den Eisernen Steg, durch die Innenstadt zurück nach Bornheim. 18 Kilometer habe ich hinter mir und mir geht es blendend.

Spaziergangstagebuch 1

An dieser Stelle möchte ich künftig gelegentlich eine Art Tagebuch meiner Spaziergänge veröffentlichen. Notizen und Skizzen, nichts Ausformuliertes. Einige Fotos zur Illustration. Mit einem besonderen Blick auf Details, die nur Fußgänger wahrnehmen, alle anderen fahren dran vorbei. Versuche das Flüchtige festzuhalten. Auch das ist Stadt.

29.10.21

Vom Ernst-May-Platz zum Markt an der Schillerstraße.

An der Wand Sprüche von Peng: 24 Schritte pro Sekunde (Heidestraße). Ein Bett lehnt an der Wand: Unbenutzt. Zu verschenken. In der Heidestraße wurden einige Kreuzungen verkehrssicher gestaltet. Wieso nicht überall? Vor dem Bäcker Kronberger in der Vogelsbergstraße hat sich eine kleine Schlange gebildet. Das kennt man von dort. Vogelsberg/ Ecke Rotlintstraße, ein an einem Verkehrsschild angeschlossener bunter, drehbarer Holzstuhl mit vier Beinen, Lehne und Armstützen. Auf der Rückseite der Lehne steht: Ok Bloomer. In der Straße mit dem seltsamen Namen Eiserne Hand lehnen an der Wand einige Wahlplakate der Linken, sinnlos geworden und bereit zur Entsorgung. Doppelter Espresso beim Wasserhäuschen Fein. Auf der Theke, an der früher die Bindingtrinker standen, Gläser mit buntem Zuckerkram, das auch heute noch für große Kinderaugen sorgt. Der Anlagenring zeigt sich herbstlich in der letzten Oktobersonne. Die U-Bahnstation Eschersheimer Tor dient wieder als warmer Schlafplatz für Obdachlose. Puffer und Schobbe bei Schoppe Otto auf dem Schillermarkt. Schinkenbrötchen waren schon wieder ausverkauft. Am Nebentisch ein Mann vor einem Laptop. Er pafft eine Zigarre. Der Geruch zieht zu mir, nicht unangenehm. An einem weiteren Tisch zwei Männer und zwei Frauen. Schobbe vor sich, Wurst und Käse auf dem Tisch ausgebreitet. Alle greifen zu. Einer der vier hat eine Ähnlichkeit mit Keith Richards, mit Tuch im weißen, längeren Haar. Er schneidet die Wurst mit einem Opinel. Auf der anderen Seite vor einer Coffee Bar eine schöne farbige Frau. Neben ihr zwei prall gefüllte Papiertaschen der Modegruppe Zara. Sie unterhält sich mit einem älteren Mann mit Hut und Schal und einer Frau, die mir den Rücken zuwendet. Von der Hauptwache drängen die typischen Geräusche einer Demo herüber. Eine Megaphonstimme spricht von Gewerkschaften. Laut, nah und unsichtbar. Am Friedberger Platz ist Wochenmarkt. Bald wird hier wieder die freitägliche Party steigen. Einige junge Leute sind schon da. Andere sitzen auf der Bank, halten das Gesicht in die Oktobersonne und trinken Wein. In einem Hinterhof in der Vogelsbergstraße prangt die Venus von Botticcelli, flankiert von Micky Maus, Donald Duck und Goofy an einer Tür.

Herbstlicher Spaziergang durch die Riederwaldsiedlung

In vergangenen Zeiten verband ich den Begriff Riederwald vor allem mit Eintracht Frankfurt. Der Verein spielt allerdings schon lange nicht mehr in diesem Stadion, das nicht mal im Stadtteil Riederwald liegt, sondern im benachbarten Seckbach. Schon seit Start der Bundesliga bestreitet die Eintracht ihre Spiele im größeren Stadion im Stadtwald, das Fans noch heute Waldstadion nennen, obwohl der Name längst verkauft wurde und einer großen Bank gehört. Hier sind auch die Trainingsplätze der Fußballer und vor kurzem wurde auch die neue Geschäftsstelle im Stadtwald eröffnet, die bis dahin tatsächlich noch am Riederwald beheimatet war. Heute dient das Stadion am Riederwald noch als Trainingsgelände für den Eintracht-Nachwuchs.

Es dauerte dann auch eine lange Zeit, bis ich zum ersten Mal durch die Riederwaldsiedlung spaziert bin, obwohl ich seit Jahren quasi in der Nachbarschaft wohne. Beim ersten Mal hielt ich auch vergeblich nach dem legendären Stadion Ausschau und war enttäuscht, es nicht zu finden. Dennoch war ich beeindruckt, hatte das, was sich mir bot, nicht erwartet. Ich nahm mir vor diesen Weg künftig häufiger zu gehen. Das habe ich durchaus getan, aber immer in Begleitung. Jetzt war es wieder soweit, diesmal alleine. Es war ein perfekter Herbsttag, einer dieser Tage, die gemeint sind wenn vom Goldenen Oktober die Rede ist. Ohnehin mein Lieblingsmonat, der Oktober. Also schnürte ich nach dem, wie immer späten Frühstück, meine Schuhe und spazierte los. Es ist nicht weit. Zum Ernst-May-Platz, dann zum Bornheimer Hang, vorbei am FSV Stadion und an der U-Bahn Station Johanna-Tesch-Platz über die Straße. Schon bin ich im Riederwald.

Die 1875 in Frankfurt geborene Johanna Tesch war Sozialistin, Frauenrechtlerin und Reichstagsabgeordnete der SPD. Seit 1933 lebte sie mit ihrem Mann, auch er SPD Mitglied, zurückgezogen in der Riederwaldsiedlung. 1944 wurde sie verhaftet und im KZ Ravensbrück interniert. Dort starb sie, kurz vor ihrem 70. Geburtstag, im März 1945 an den Folgen der Haft.*

Dass ich so viele Jahre brauchte, um erstmals die Riederwaldsiedlung zu erkunden hat wohl auch damit zu tun, dass sich die Siedlung hinter der viel befahrenen und lauten Straße mit dem idyllischen Namen Am Erlenbruch gleichsam versteckt. Die Fassaden zur Straße hin grau und rußig, die Fenster blind. Man möchte dort nicht wohnen. Ein unendlicher Strom von Autos, dazu die U-Bahnen der Linien 4 und 7 , sorgen für entsprechend schlechte Luft und Krach. Aber wer sich davon nicht abhalten lässt und dieses fast schon abgeschottete Gebiet dennoch betritt, findet sich in einer unerwarteten Welt. Als erstes fällt auf, dass sich die Rückseiten dieser grauen Häuser zu einem großen und begrünten Hof wenden, Balkone überall. Das relativiert den ersten Eindruck schnell. Schon während der ersten Schritte durch die Siedlung wird deutlich, wie ungeheuer grün dieses Gebiet ist. Bäume und Wiesen überall, immer wieder kleine grüne Plätze und ein großer Spielplatz. Nicht umsonst wird auch von der Gartensiedlung Riederwald gesprochen. Gegründet wurde sie 1910 als Arbeitersiedlung. Etliche der Bewohner arbeiteten beim nahe gelegenen Güterbahnhof. *

Bald fällt auch das erste typische Siedlungshaus auf mit seinem markanten Mansardendach. Eine Dachform, die sich durchzieht. Robuste, charaktervolle Häuser, ohne Balkone aber immer umgeben von Wiesen, Gärten, Wäschespinnen und mächtigen Bäumen. Nach ein paar Minuten fällt ein weiteres Charakteristikum dieser Siedlung auf, die Stille. Zunächst hatte ich sie „überhört“ aber dann wurde sie auffallend und natürlich sehr angenehm. Es gibt keinen Durchgangsverkehr, auch aus den Häusern dringt kein Laut nach draußen, als wollten diese Gebäude ihre Geheimnisse für sich bewahren, wie dem ersten Eindruck nach der gesamte Stadtteil. In der Schäfflestraße öffnet sich diese ruhige Wohngegend durch ein Torhaus der Umgebung. Das Kerngebiet der Siedlung, das von diesen Bauten dominiert wird, steht heute unter Denkmalschutz. Die Siedlung in der Friedrich-Liszt-Straße weiter östlich wurde Mitte der zehner Jahre von Christoph Mäckler saniert und umgebaut. Hier nun Balkone und Terrassen und natürlich auch wieder Gärten. Das Ensemble fügt sich gut in die Umgebung und ist mit einigen Reihenhäusern von Ernst May in bester Gesellschaft. Am östlichen Ende des Gebiets überspannt seit kurzem eine Fahrrad- und Fußgängerbrücke die Gleise des Güterbahnhofs. Sie endet an der Hanauer Landstraße. Dort mündet die Carl-Benz-Straße, die ausgeschilderte Radverbindung nach Offenbach. Für mich der direkteste und schnellste Weg in die Nachbarstadt. Eine sehr angenehme Wohngegend also, allerdings hat auch sie ihre Nachteile. Wer ein Bier trinken gehen will oder einkaufen muss, muss woanders hinfahren, ins Ostend oder nach Bornheim. Beides ist nicht weit.

Ich verlasse die Riederwaldsiedlung, vorbei am Gelände eines Geflügelzuchtvereins, einem türkischen Kulturverein sowie einer Kleingartensiedlung. Ein stolzer Hahn begrüßt mich. Der Wald, der so heißt wie die Siedlung, zeigt sich in herbstlicher Vielfalt. Ich folge dem ausgeschilderten, teilweise abenteuerlichen Radweg in Richtung Ostbahnhof, immer wieder erstaunt, wie die Radverbindungen in Frankfurt mittlerweile ausgeschildert sind, und lande, nach der Unterquerung der Autobahnbrücke, im Ostpark. Ich drehe noch eine halbe Runde. Bis vor einigen Jahren herrschte in diesem Park noch eine regelrechte Plage mit Nilgänsen. Wege und Wiesen waren verdreckt, es waren einfach viel zu viele. Irgendwie wurde es geschafft, die Tiere von hier zu vertreiben, so dass heute nur Graugänse zu sehen sind. Voller Eindrücke schlendere ich durch das Ostend nach Bornheim, quere vorher jedoch das Viertel rund um den Parlamentsplatz oberhalb des Ostparks. Grzimek soll hier irgendwo gewohnt haben. Nach 7.5 km war ich wieder zuhause. Ein schöner Spaziergang, vielleicht auch, weil die Eintracht am Vortag mit 1:2 bei Bayern München gewonnen hatte.

*alle Informationen aus dem Internet.

Spazieren an einem herrlichen Herbsttag

Jahrelang habe ich das Quartier zwischen Ostpark und Wittelsbacherallee, rund um den Parlamentsplatz, im Frankfurter Ostend buchstäblich links liegen gelassen, obwohl es zu meiner unmittelbaren Nachbarschaft zählt. Meine regelmäßigen und häufigen Wege führten mich immer in die andere Richtung, zum Günthersburgpark oder in das Nordend, gelegentlich auch durch die Berger Straße, aber immer Richtung Innenstadt. Bis ich vor einigen Monaten erstmals durch diese bisherige Terra Incognita spazierte. Es gefiel mir, unspektakulär, eine ruhige Wohngegend mit dem einen oder anderen interessanten Gebäude. Mein Frankfurt ist durch diesen Spaziergang etwas größer geworden.

Eigentlich hatte ich Lust auf einen faulen Tag zuhause, mit Lesen, Musik hören, Kochen. Das Wetter machte mir jedoch einen Strich durch die Rechnung. Der Tag empfing mich mit herrlichstem Herbstwetter, Sonne, strahlend blauer Himmel, klare Luft, recht kühl. Das lies mir keine Wahl, Schuhe schnüren, herumgehen, Kopf lüften. Nach wenigen Minuten spazierte ich zum zweiten Mal in diesem Jahr durch die Gagernstraße im Ostend. Auffallend die breiten Gehwege, ist in Fankfurt ja nicht allzu oft anzutreffen. Es waren nur sehr wenige Passanten unterwegs, ich konnte problemlos auf die Maske verzichten. Auch Autos störten kaum die Ruhe. Ich genoss die Stille und betrachtete die teilweise recht schmucken Häuser. Hinter dem unscheinbaren Parlamentsplatz wandte ich mich nach links, bei nächster Gelegenheit wieder nach rechts. Wenn ich irgendwo gerne wohnen würde, dann am Röderbergweg im Frankfurter Ostend und zwar in vorderster Reihe. Grzimek soll hier irgendwo gewohnt haben. Der Blick ist sensationell.

Blick nach Nord-Westen

Nach Süd-Osten schweift der Blick, über Offenbach und Hanau, bis zum Odenwald. Im Nord-Westen ist am Horizont der Stadtwald auszumachen und dort ragt tatsächlich der neue Goetheturm aus den Wipfeln. Dieses wahre Frankfurter Wahrzeichen, das von Idioten abgefackelt wurde und jetzt endlich wieder nachgebaut ist. Mein Frankfurt ist wieder komplett. Und an den alten Turm habe ich noch reichlich Kindheitserinnerungen, die kann mir niemand abfackeln. Selbst den Geruch nach Harz und Holz habe ich noch im olfaktorischen Gedächtnis. Das allerdings wird der neue nicht können, noch nicht. Ich muss ihn mir auf jeden Fall bald aus der Nähe ansehen. Und dort, am Röderbergweg, habe ich ihn erstmals wieder gesehen. Mein Herz hüpfte vor Freude.

Immer der Nase nach, durch bislang unbekanntes Gebiet, vorbei an der schönen, mir bislang aber unbekannten Luxemburgerallee, landete ich bald am Ostbahnhof.

Luxemburgerallee

Und dort, ich hatte davon gelesen und natürlich wieder vergessen, eine Wagenburg. Alte Camping- und Bauwagen standen dicht gedrängt am Bahndamm. Unmittelbar fühlte ich mich nach Berlin und Kreuzberg zurückversetzt. Das wurde verstärkt durch Transparente mit dem Besetzerzeichen und vertrauten Forderungen „Frankfurt besetzen“. Außerdem „Ihr baut Mist“ (o.s.ä.). Angesichts der benachbarten Neubauten eine nachvollziehbare Bemerkung. Ich war begeistert von meinem Spaziergang, hatte so viel Neues gesehen in kurzer Zeit.

Wagenburg

Weiter zum Main. An der Osthafenbrücke wieder der Goetheturm, jetzt etwas größer.

Osthafenbrücke mit Goetheturm

Auch am Mainufer war es kein Problem auf die Maske zu verzichten, es waren nur wenige Leute unterwegs. Ich spazierte der untergehenden Sonne entgegen und konnte mich nicht satt sehen am Licht und den herbstlich leuchtenden Bäumen.

Mainufer

Auf der gegenüberliegenden Mainseite das Literaturhaus Frankfurt, dahinter der Schwesternwohnturm des Hospitals zum Heiligen Geist, der das Literaturhaus fast erdrückt. Dieses, tatsächlich unansehnliche, Gebäude hat mich dazu gebracht, über Hässlichkeit in der Stadt nachzudenken. Meinen früheren, spontanen Gedanken ABREISSEN! überdenke ich mittlerweile. Ich habe gelernt, dass auch diesen Gebäuden mit Respekt begegnet werden muss. Stadt braucht Hässlichkeit. Vielleicht irgendwann mehr dazu.

Literaturhaus mit Turm des Hl. Geist Hospitals

Weiter am Main, die Skyline bestimmt das Bild. Ich wechsle jedoch über die Alte Brücke auf die andere Seite, von Dribbdebach nach Hibbdebach. Dort steht sie wieder, am angestammten Platz, die Statue Karls des Großen, in Sandstein. Es handelt sich um eine Kopie, das Original befindet ich im wunderbaren Historischen Museum. Der Original-Karl ist wohl auch noch im Besitz eines Schwerts, was der Doppelgänger nicht von sich behaupten kann. Das Schwert, das Karl auf der Brücke stolz und auch durchaus Respekt fordernd, himmelwärts richtete, war wohl ein beliebtes Souvenir. Daher wurde der Kaiser regelmäßig entwaffnet, letztmals im August 2020. Und so steht er da, der stolze Kaiser, ähnlich dem Ritter der Traurigen Gestalt, als „Karl ohne Schwert“ (Michael Quast).

Karl ohne Schwert

Durch die Wallanlagen spaziere ich zurück gen Bornheim, den Kopf voller Bilder und Gedanken, und erstmals in den zwanzig Jahren, die ich jetzt hier lebe, denke ich, wie interessant, abwechslungsreich, spannend und durchaus aufregend diese kleine Stadt doch sein kann.

Wallanlage

In Bornheim ging ich in meiner Kneipe ein Bier trinken (ich darf das, ich arbeite da und habe einen Schlüssel) und blickte auf einen wundervollen Tag zurück.

Das Krisen-Photo zum Donnerstag

Eines meiner liebsten wöchentlichen Rituale ist der donnerstägliche Gang zum Erzeugermarkt an der Konstablerwache. Dort trinke ich ein-zwei Schobbe und esse irgendwas. Dann kaufe ich ein. Ich habe schon gelegentlich darüber geschrieben. Wann ich angefangen habe, mein Schobbeglas mit dem Deggelsche zu photographieren und auf Facebook zu veröffentlichen, weiß ich nicht mehr, bin auch zu faul, um zu recherchieren. Jedenfalls hat sich daraus eine kleine harmlose Spielerei ergeben und einige Leute haben Gefallen gefunden an diesen „Photos zum Donnerstag“, wie ich sie immer nenne. Die Bilder sahen meist so ähnlich aus wie dieses hier unten.

Photo zum Donnerstag

Mit den Corona-Schutzmaßnahmen, die ab Mitte März 2020 griffen, war das Photo zum Donnerstag in dieser Form nicht mehr möglich, denn der Ausschank auf dem Markt an der Konstablerwache wurde eingestellt. Es durfte dort nichts mehr verzehrt werden. Na gut, dachte ich mir, trinke ich meinen Schobbe halt zuhause und mache das Photo dort auf meinem Balkönsche. Das erste, das ich dann „Das Krisen-Photo zum Donnerstag“ nannte, war das vom 19. März. Ohne dass ich es beabsichtigt hatte, war das Glas unscharf dargestellt, nur der Baum im Hintergrund war scharf. Erst wollte ich es löschen, dann aber gefiel es mir. Ich hatte den Eindruck, das unscharfe Glas würde die Krise vielleicht ganz treffend illustrieren. Und ich hatte die Idee, mit dem Motiv zu spielen, auszubrechen aus der gewohnten Form. Dabei versuchte ich, eine gewisse Dramaturgie einzuhalten.

Spätestens als ich für das Photo vom 23. April ein Geripptes (so heißen diese Gläser) aus dem Nachlass meiner Eltern zerdepperte, wurde es völlig beliebig. Aber es hat sehr viel Spaß gemacht, mit dem „Photo zum Donnerstag“ auf diese Art zu spielen. Auch freute ich mich immer auf die, für meine Verhältnisse, zahlreichen Reaktionen und Kommentare. Sogar in Kanada wurden die Donnerstagsphotos wahrgenommen. Das erfolgreichste dieser Krisenphotos war das vom 02. April, das mit der Luftpolsterfolie. Das Bild vom 25. Juni war dann das erste, dass ich wieder auf dem Markt machte. Ich nannte es immer noch Krisen-Photo. Das Glas traut sich nicht so recht ins Bild, verharrt am Rand, mir war die Sache nicht geheuer. Eine Facebook-Freundin, die schon lange Gefallen an diesen Photos gefunden hatte, fand die Krisen-Photos dann allerdings recht deprimierend und schenkte mir zur Aufheiterung dieses schöne Halbliter-Gerippte mit Goldrand und Schleifchen. Eine Geste, über die ich mich sehr gefreut habe. Das Bild postete ich außerhalb der Reihe am 18. Juli unter dem Titel „Freude-Photo zum Samstag“. Seit dem 02. Juli geht es wieder gewohnt weiter mit den „Photos zum Donnerstag“, bis Corona wieder verstärkt zuschlägt und auf dem Markt wieder jeder Verzehr untersagt wird.

Das Freude-Photo zum Samstag