Nach Frankfurt

Im letzten Jahr hatte ich angefangen, ein paar kleinere Geschichten aufzuschreiben. Einige sind fertig, andere noch nicht. Wahr sind sie alle, denn ich kann mir nichts ausdenken. Gerne hätte ich sie in einem kleinen Buch versammelt gesehen, konnte den Verlag aber nicht überzeugen. Das ist nicht so tragisch, es gibt ohnehin zu viele Bücher. Da ich keine Lust habe, bei anderen Verlagen anzuklopfen, werde ich hier gelegentlich die eine oder andere Geschichte veröffentlichen. Und immerhin eine dieser Geschichten wird in diesem Buch veröffentlicht, dass im Mai 2020 erscheinen soll.

Das Vorstellungsgespräch

Das Gespräch, das mein Leben veränderte, dauerte etwa eine Viertelstunde. Ich saß lediglich dabei als ginge mich das alles nichts an und hörte zu, wie sich zwei Männer über mich unterhielten. Nur gelegentlich gab ich einen Kommentar ab.

Am Morgen war ich in Berlin am Bahnhof Zoo in einen ICE gestiegen, der mich nach Frankfurt am Main brachte. Dort fuhr ich mit der U-Bahn ins Westend, fragte mich zur Lindenstraße durch und meldete mich am Empfang des Suhrkamp Verlages. Ich möge einen Moment Platz nehmen, gleich würde mich jemand abholen. Auf dem schwarzen Uwe-Johnson-Sofa im Eingangsbereich wartete ich ein- zwei Minuten, bis mich mein künftiger Abteilungsleiter und Vorgesetzter begrüßte. Der Aufzug brachte uns in den dritten Stock. Ich war zum Vorstellungsgespräch beim damaligen kaufmännischen Geschäftsführers des Verlags geladen. Für diesen Anlass hatte ich mir den ersten Anzug meines Lebens gekauft. Nun saß ich da in meinem Anzug und wartete darauf, dass das Vorstellungsgespräch beginnen würde und ich ein paar Fragen beantworten müsste. Das blieb aus. Was der Abteilungsleiter über mich berichtet hatte, schien dem Geschäftsführer zu genügen. Nach fünfzehn Minuten durfte ich wieder gehen, mein künftiger Chef versprach, sich zu melden. Ich fuhr zurück zum Bahnhof. Am Tresen der DB-Lounge vertrieb ich mir die Zeit bis zur Abfahrt meines Zuges. Gegen 17 Uhr, ich trank mein zweites Bier, klingelt das Telefon. Ich hätte den Job, in den nächsten Tagen würde man mir den Arbeitsvertrag zuschicken, ich möge bitte am 10. Januar anfangen. Vierundzwanzig Jahre Berlin näherten sich dem Ende. In sechs Wochen musste ich umziehen. Der Kreis schließe sich, bemerkte mein Vater, ein gebürtiger Frankfurter, als ich anrief und die Neuigkeit verkündete.

Im Zug

Während mich der ICE zurück zum Bahnhof Zoo brachte, schaute ich aus dem Fenster und versuchte, mir mein künftiges Leben in „Westdeutschland“ vorzustellen. Ich kannte Frankfurt, hatte als Kind mit meinen Eltern schon einige Jahre in der Stadt gelebt und war in Sachsenhausen zur Schule gegangen. Zudem fuhr ich jährlich zur Buchmesse. Frankfurt war mir sympathisch, schön fand ich es nicht. Die Vorstellung, dort zu leben, fiel mir jedoch schwer. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass jemand freiwillig nach Frankfurt zog, etwa weil die Stadt so attraktiv ist, oder wegen des kulturellen Angebots und des hohen Freizeitwerts. Da ging man doch eher nach Berlin, Hamburg oder München. Frankfurt zählte für mich eher zu den grauen Mäusen unter den deutschen Städten, kurz vor Stuttgart und Hannover. Sicher, am Main ist es ganz schön, er wurde von der Stadt aber eher stiefmütterlich behandelt. Aber was ist der Main gegen die Wasserlandschaft Berlins mit Havel, Spree, Landwehrkanal und all den Seen? Und die Skyline war ganz hübsch anzusehen, Leben ging von diesen Gebäuden allerdings nicht aus. Wer nach Frankfurt zog, tat das eines Jobs oder vielleicht noch der Liebe wegen, nie jedoch aus freien Stücken. Dennoch, Apfelwein kannte und mochte ich und Fan der Eintracht war ich seit frühester Kindheit. Die Lage der Stadt und die Möglichkeit sehr schnell in alle Richtungen verschwinden zu können, schien mir ihr größter Vorteil zu sein. Ich fühlte mich als Berliner durch und durch, war jedoch bereit für Neues. Kurz zuvor hatte sich die lang umworbene Kölner Journalistin nach nur wenigen Monaten wieder von mir verabschiedet, und somit in einen Zustand versetzt, der wohl gemeinhin als Midlifecrisis bezeichnet wird. Bislang dachte ich immer, dieser Zustand sei eine Schimäre, aber jetzt hatte sie mich ordentlich im Griff und die Bereitschaft wachsen lassen, mein Leben zu ändern. Der Mauerfall hatte auch die Buchhandlung, in der ich elf Jahre gearbeitet hatte, in Schieflage gebracht. Längst war sie nicht mehr das erste Haus am Platze. Neue Konkurrenz hatte sich angesiedelt, die wirtschaftliche Situation der einst größten Buchhandlung Deutschlands verschlechterte sich zusehends. Mit Abfindungen sollten so viele wie möglich der ehemals einhundertvierzig Beschäftigten bewegt werden, freiwillig die Firma zu verlassen. Das traf sich gut mit meinem neuen Job bei Suhrkamp.

Die Stammkneipe

Am Abend wieder in Kreuzberg, steuerte ich umgehend meine Stammkneipe an. Sie lag auf dem Weg am Chamissoplatz, nur wenige Meter von dem Haus entfernt, in dem ich lebte. „Hansi“, sagte ich zum Wirt, „ich ziehe nach Frankfurt. Habe einen Job bei Suhrkamp, den konnte ich nicht ablehnen. In sechs Wochen bin ich weg.“ Hansi bedauerte das natürlich, beglückwünschte mich trotzdem, bemerkte aber, dass ich so einen Laden wie das Matto, so hieß die Kneipe, in Frankfurt wohl nur schwer finden würde. Er sollte recht behalten, zumindest für einige Jahre. Der letzte Tag des 20. Jahrhunderts war mein letzter Arbeitstag in Berlin.

Die ersten Monate

Zunächst kam ich bei Freunden in Offenbach unter, die ich aus gemeinsamen Berliner Tagen kannte. Ihr Gästezimmer diente mir für die ersten drei Monate als Unterkunft. Durch eine Suchanzeige in der Frankfurter Rundschau fand ich eine Wohnung in der Seckbacher Landstraße. Bornheim, so hieß es, sei ein begehrter Bezirk. Die Wohnung sagte mir zu. Ein Altbau, Parkettfußboden, Einbauküche, bezahlbar. Sie hatte die richtige Größe für mich und war ähnlich geschnitten wie meine Kreuzberger Wohnung. Der private Vermieter machte einen sympathischen Eindruck. Und doch hätte ich unter anderen Umständen diese Wohnung nicht genommen. Sie lag im ersten Stock an der Seckbacher Landstraße, einer stark befahrenen Ausfallstraße mit Busverkehr und ständigem Sirenengeheul der Rettungswagen, die Tag und Nacht das Bethanien- oder Katharinen-Krankenhaus ansteuerten. Das Rattern der U4, die unter dem Haus verkehrte, brummte durchs Haus und ließ es leicht vibrieren. An Schlaf bei offenem Fenster war nicht zu denken. Dennoch, ich brauchte eine Wohnung. An den Lärm würde ich mich schon gewöhnen, sagte ich mir. Im April zog ich ein.

Jetzt war ich schon einige Monate in Frankfurt. Ich war eingerichtet, mit den ersten Kollegen per Du, ich wusste auf welchen Wegen ich am bequemsten mit dem Rad von Bornheim ins Westend kam und wo ich einkaufen konnte. Eingelebt hatte ich mich nicht. Freundschaftliche Beziehungen zu meinen neuen Kolleginnen und Kollegen bauten sich nur zögerlich auf. Nach wie vor kannte ich nur meine alten Freunde aus Berliner Zeiten sowie einen ehemaligen Schulfreund, der in Frankfurt arbeitete und ebenfalls in Offenbach wohnte. Ich hatte in meiner Umgebung ein kleines Spanisches Lokal entdeckt, das uns zusagte. Bei José trafen wir uns wöchentlich, gelegentlich auch in Offenbach. Auf der Suche nach einer Wirtschaft, die als Stammkneipe geeignet war, besuchte ich diverse Wirtshäuser in der näheren Umgebung. Ich brauchte ein Matto. Aber ich wurde nicht fündig, keins der Lokale entsprach meinen Vorstellungen. Eine Apfelweinwirtschaft zu meiner Stammkneipe zu machen, wäre doch ein zu großer Schritt gewesen, quasi ein Kulturschock. Dem Thema musste man sich behutsam nähern. Ich verbrachte also die meisten meiner Abende zuhause, es sei denn die Offenbacher riefen. Eine Stammkneipe musste her. Aber was macht eine Kneipe zu einer Stammkneipe?

So eine Wirtschaft muss fußläufig in wenigen Minuten erreichbar sein. Das Matto war ideal, ich schaute aus dem Fenster und konnte zumindest im Sommer sehen, ob jemand draußen saß, den ich kannte. Meistens war das so. Und wenn ich niemanden kannte, war da immerhin Hansi, der Wirt, der stets ein offenes Ohr hatte. Die Einrichtung muss passen, Tischdecken und anderes Gedöns brauchte ich nicht. Ich suchte eine Kneipe, kein Restaurant. Das Angebot muss stimmen, gutes Bier, gutes Essen zu guten Preisen und natürlich ein gutes Publikum. Wenn schon Musik im Hintergrund läuft, muss mir diese gefallen. Und, ganz wichtig, der Wirt oder die Wirtsleute müssen sympathisch sein. Das ist vielleicht das Wichtigste. Dort will man sich wohlfühlen und auch mal, in Zeiten monetären Mangels, einen Deckel machen können. Zu diesem Wohlfühlen tragen der Wirt oder die Wirtin entscheidend bei, sie halten eine Kneipe zusammen.

Zwischen Berlin und Frankfurt

Meine Wohnung am Kreuzberger Chamissoplatz hatte ich behalten, sie war preiswert. In den ersten Monaten fuhr ich alle vierzehn Tage übers Wochenende nach Berlin und ging unter anderem ins Matto. Und da gab es noch meinen Lieblingsitaliener, Zagato, in der Bergmannstraße, gegenüber der Markthalle. Benannt war der Laden nach dem Konstrukteur der Alfa-Romeo-Sportwagen. Photos dieser Autos zierten dann auch die Wände des Lokals. Daneben Bilder von Rennmotorrädern, Inter Mailand und Radrennfahrern, Fausto Coppi und anderen. Die Decke tapeziert mit italienischen Sportzeitungen, die an die Triumphe des italienischen Fußballs erinnerten. Der Rest der Einrichtung war schlicht gehalten, Papiertischdecken, einfache Weingläser, keine aufgetürmten Servietten. Im nur selten genutzten Nebenraum stand ein altes Motorrad. Auf dem Heizkörper unter der großen Fensterfront ein Zettel: Füße runter von der Heizung, ZAKI ZAKI! An der Wand befahl ein weiterer Hinweis: Keine Zigarren! ZAKI ZAKI! Im Hintergrund erklang dezent italienische Schlagermusik der Fünfziger Jahre. Ein kleiner Raum, sieben Tische. Im Sommer zusätzlich fünf vor der Tür. Die Speisekarte änderte sich nie, Pizza suchte man vergebens. Gelegentlich gab es ein bis zwei wechselnde Tagesgerichte. Alles schmeckte köstlich. Die Weinkarte war überschaubar. Hier gab es von nichts zuviel, selbst die gespielte und übertriebene Freundlichkeit manch italienischer Kellnerdarsteller mit einem geträllerten Buona Sera Dottore und Ciao Bella hatte hier keinen Platz. Die Gäste wurden mit der gebotenen Zurückhaltung sehr freundlich begrüßt, bedient und verabschiedet, Smalltalk über Fußball und das eigene Befinden in angemessener Dosierung. Zum Abschluss gab`s einen Grappa aufs Haus. Zagato war ein Familienbetrieb, der Vater stand in der Küche, der Sohn, Mario, kümmerte sich um den Service. Das machten sie seit vielen Jahren so, täglich bis auf Sonntag. Mario war Eintrachtfan. Die Trikots erinnerten ihn an die von Inter Mailand. Wenn ich von Frankfurt aus anrief, um zu reservieren, lag dann auf dem jeweiligen Tisch ein Zettel, auf dem stand „Eintracht Stefan“. Als ich einige Jahre später bei einem weiteren Berlinbesuch mit einem befreundeten Buchhändler ins Zagato wollte, sagte dieser, der Laden sei zu, sie hätten vor einer hundertprozentigen Mieterhöhung kapituliert. Ich war geschockt und fühlte mich heimatlos. Nach einem solchen italienischen Lokal habe ich in Frankfurt bislang vergebens gesucht. In Berlin dann auch.

Sonntags kam der unausweichliche Zeitpunkt der Rückreise. Nach einem letzten Blick aus dem Fenster verließ ich wehmütig mein Gründerzeitviertel und stieg am Platz der Luftbrücke in die U-Bahn, die mich zum Hauptbahnhof brachte. Aus dem ICE heraus beobachtete ich wie mir Berlin unaufhaltsam entglitt. Vier Stunden später stieg ich fast vor meiner Haustür aus dem Schacht und fand mich auf der Seckbacher Landstraße, verloren und am falschen Ort. Autos rauschten vorbei und Passanten eilten zur U-Bahn. Was hatte ich hier zu suchen? Ob es so eine gute Idee war, aus Berlin wegzugehen? Diese Frage stellte ich mir über Jahre.

Nach zwei Jahren lernte ich die Nichte einer Kollegin kennen. Sie arbeitete im Eichborn Verlag als Lektorin. Wir wurden ein Paar, bis wir anderthalb Jahre später übereinstimmend feststellten, dass die Beziehung ein Irrtum war und wir uns wieder trennten. Aber durch sie lernte ich andere Menschen und Orte kennen, und kam somit etwas mehr in Frankfurt an. Am schönsten war es aber immer, wenn wir zusammen in Berlin waren. Sie ging leidenschaftlich gerne ins Matto und mochte Hansi, den Wirt, sehr.

Das Klabunt

Nach etwa fünf Jahren, ich war immer noch nicht richtig in Frankfurt angekommen, geschah etwas, dessen Tragweite ich noch nicht absehen konnte. In der oberen Berger Straße eröffnete in einem kleinen Fachwerkhäuschen, das zuvor einen Thai-Imbiss beherbergt hatte, ein Lokal. Klabunt stand draußen dran, sowie Satire und Schnaps. Es war Sommer und auf dem Gehweg davor standen zahlreiche Biergarnituren. Das war einladend, aber ich brauchte einige Wochen, um dort erstmals einzukehren. Mit meinem alten Schulfreund, der immer noch in Offenbach wohnte, verabredete ich ein Treffen in eben jenem Lokal. Es war ein sonniger Tag und wir setzten uns nach draußen. Ein großer, schwarz gekleideter und bleichgesichtiger Mann bediente uns. Später stellte sich heraus, dass es der Wirt war. Die Speisekarte bot Ungewöhnliches auf hessischer Basis. Wir bestellten beide ein Frankfurter Schnitzel. Es war köstlich und reichhaltig. Wohlgesättigt verlangten wir zum Abschluss nach Wodka. Den gab`s nicht, dafür aber einen herrlichen Obstbrand aus heimischen Gefilden. Wir waren überzeugt. Fortan ging ich öfter ins Klabunt, auch alleine. Der Name war ein Wortspiel aus Klabund, dem satirischen Dichter der zwanziger Jahre und der hessischen Fassung von klein und bunt, klaa un bunt. Ich setzte mich an einen ovalen Tisch neben dem Tresen, trank anfangs dunkles Bier und las. Irgendwann kam ich ich mit den Wirtsleuten ins Gespräch und das Bier wurde mir ungefragt hingestellt. Zu Fuß brauchte ich von der Seckbacher Landstraße etwa zehn Minuten. Das Klabunt veränderte mein Leben. Ich hatte eine Stammkneipe, auch wieder mit einem literarischen Namen.

Die Kneipe gehörte zum Umfeld der Titanic. Davon zeugten zahlreiche Cartoons, die die Wände zierten. Regelmäßig wurden Lesungen, vorwiegend aus dem humoristischen Genre, veranstaltet. Namhafte Satiriker, Autorinnen und Autoren fanden den Weg in den „Satirelandgasthof“ Klabunt. Längst war ich Stammgast, kannte die anderen Stammgäste und organisierte selbst drei Lesungen mit Autoren des Suhrkamp Verlags.

Trotz aller kulinarischen Raffinesse ist das Klabunt eine Kneipe geblieben. Am langen Tresen traf man auch noch nachts um zwei irgendwelche bekannten Gesichter. Vieles von dem, was mein jetziges Leben in Frankfurt ausmacht, hat seinen Ursprung in diesem Wirtshaus.

Ein langer Abschied

Meine Wochenendfahrten nach Berlin wurden weniger. Trotzdem wäre ich noch immer sofort wieder zurückgegangen, wenn sich eine Gelegenheit ergeben hätte. Als der Verlag in einer herrschaftlichen zweihundert Quadratmeter großen Wohnung in der Berliner Fasanenstraße eine Repräsentanz eröffnete, erkundigte ich mich, ob geplant sei, dort ein Büro zu eröffnen. Dem war nicht so, ich blieb.

Es schien, als sei erst jetzt, nach etwa sieben Jahren der Moment gekommen, mich endgültig in Frankfurt einzurichten. Meine Berlinfahrten wurden noch weniger. Im Jahr 2008 räumte ich die Wohnung in der Kopischstraße, in der ich seit 1985 gelebt hatte. Es war die schönste Wohnung, in der ich jemals gewohnt habe, in einer der schönsten Gegenden Berlins. Dennoch verließ ich sie ohne Wehmut. Für die endgültige Fahrt nach Frankfurt gönnte ich mir ein 1.Klasse Ticket. Good Bye Berlin.

Der Umzug

An einem Vormittag im Februar 2009 wurden den Suhrkamp-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Umzug des Verlags nach Berlin im Januar 2010 verkündet. Das hatte niemanden mehr überrascht, Gerüchte gab es schon länger. Außerdem stand die Meldung bereits eine Viertelstunde vor der Versammlung im Internet. Es ging sehr lebhaft zu im Sitzungszimmer. Für den Rest des Tages wurde nicht mehr viel gearbeitet. Wäre die Entscheidung drei Jahre früher gefallen, ich wäre mit wehenden Fahnen zurück nach Berlin gezogen. Jetzt hingegen war ich auf dem besten Weg, Frankfurter zu werden. Aber es blieb noch fast ein Jahr Zeit, da würde mir noch irgendwas einfallen. Es gab ja noch andere Verlage in Frankfurt. Aber meine Versuche, woanders unterzukommen, scheiterten. Es wurde Dezember, ich brauchte eine Wohnung in Berlin. In Prenzlauer Berg wurde ich dank Internet fündig. Ich schickte einen Kollegen zur Besichtigung, besuchte an diesem Tag einen alten Freund in Stuttgart. Dem Kollegen sagte die Wohnung zu, die Bilder, die ich gesehen, hatten mir gefallen. Die Miete hielt sich auch im Rahmen. Ich bekam die Wohnung, wurde bevorzugt, weil ich bei Suhrkamp arbeitete. Es gab unzählige weitere Bewerber. Der Umzugstermin kam bedrohlich näher und mir wurde immer mulmiger zu Mute. Grundsätzlich entschied ich lieber selbst, wenn ich umziehe. Meine umzugsfreudigen Eltern haben mir in Kinderjahren mit ihren vielen Ortswechseln keine Freude gemacht.

In den Büros wurde geräumt und gepackt. Auf den letzten Drücker suchte ich nach einem Ausweg. Der bot sich durch die Kooperation mit einem kleinen Frankfurter Verlag und Regionaliaproduzenten. Dass das keine gute Idee war, ist eine andere Geschichte.

Am 10. Januar 2010, genau zehn Jahre nach meinem ersten Arbeitstag im Suhrkamp Verlag, schrieb ich meine Kündigung zu Ende Februar. Die Wohnung in Prenzlauer Berg sagte ich ab. Ich war angekommen im „Weltkaff“ (Eva Demski), ich war Frankfurter.

Die Vergangenheit

In der Vergangenheit war mir die Zukunft egal. Selbst die nähere Zukunft. Wollen wir im September in Urlaub fahren? Es ist Februar, woher soll ich wissen was im September ist! Rente? Darum kümmere ich mich, wenn`s soweit ist. Sparen? Was denn? Heiraten, Kinder? Nichts für mich. Ich war nie vorsorgend, daher hamstere ich jetzt auch nicht in dieser Corona-Krise. Dafür konnte niemand vorsorgen. Vor allem, wann fängt Zukunft an? In der nächsten Stunde, am nächsten Tag, nächste Woche? Es galt nur das Jetzt.

Vielleicht liegt es ja am fortschreitenden Alter, dass die Vergangenheit jetzt immer näher rückt. Wer kennt es nicht, man erinnert sich im Laufe seines mittlerweile schon längeren Lebens gelegentlich an andere Menschen, die dieses eigene Leben für eine Weile begleitet haben. Meist sind es angenehme Erinnerungen, die unangenehmen werden verdrängt. So denkt man zurück an Schulfreunde, andere Freunde, Freundinnen, Kollegen, Kolleginnen und Geliebte. Sie alle haben ihren Anteil daran, dass man zu dem geworden ist, der man jetzt ist. Und man bemüht eine Suchmaschine, um den einen oder die andere ausfindig zu machen. Manche werden gefunden, andere nicht. Wieder andere hat man seit vielen Jahren aus den Augen verloren, weil sich die Lebenswege so komplett unterschiedlich, oft auch an anderen, entfernten Orten, entwickelt haben. Die Mailadresse hat man aber trotzdem noch. Es wäre also ein Einfaches, sich mal zu melden. Wie oft habe ich gedacht, das einfach mal zu tun. Es blieb beim Gedanken.

Glücklicherweise sind nicht alle so wie ich. Bei mir standen in den letzten Monaten drei Menschen aus unterschiedlichen Phasen meines Lebens vor der virtuellen Tür, zwei Männer und eine Frau. Ich kenne sie seit 30, 40 und 50 Jahren, mindestens. Mit dem einem teilte ich die Schulbank in Schwäbisch Gmünd, der andere war mein Nachbar in Berlin und mit der Frau verband mich eine wunderbare Liebschaft, die 1979 in Mainz ihren nicht allzu langen Lauf nahm.

Hase

Den Anfang machte „Hase“. „Hase“ ist ein anonymer Twitteraccount, der mir folgte, neben drei weiteren. Kein Photo, keine Beschreibung, kein Name. Nichts, das nackte Rätsel. Mann oder Frau? Völlig ungeklärt. Aber Hase schien mich zu kennen, reagierte regelmäßig auf meine Tweets, nannte auch Details aus meinem Leben, zum Beispiel wusste Hase, wo ich in Berlin gewohnt hatte. Ich habe nie reagiert. Bis auf eine Ausnahme. Als Hase schrieb, er/sie sei von einem Autofahrer vom Rad geholt worden und läge jetzt eine Woche im Krankenhaus, habe ich „unbekannterweise“ gute Besserung gewünscht. Auch daraufhin hat sich Hase nicht vorgestellt. Ich überlegte lange, den anonymen Account einfach zu blocken, fand es sehr unhöflich, mit jemandem kommunizieren zu wollen, ohne sich vorzustellen. Auch twitterte ich eines Tages, dass ich anonymen Accounts nicht folgen würde. Keine Reaktion. Dann erwähnte ich Hase explizit in einem Tweet. Ich machte meinem Unmut Luft und schrieb, ich würde den Account blocken, wenn die Person sich nicht zu erkennen gäbe. Aber Stefan, begann die schnelle Reaktion, ich dachte, du weißt wer ich bin, ich bin W. Da war ich erstaunt. W war in Berlin mein Nachbar. Er wohnte im Hinterhaus, ich vorne. Wir lernten uns kennen, wie genau weiß ich nicht mehr, und freundeten uns an, nicht zuletzt wegen einiger gemeinsamer Interessen. Fußball, Bier, Musik, da vor allem Frank Zappa. Natürlich war das Spektrum, das uns beschäftigte, wesentlich weiter gefasst. Aber das war die Basis. Er war auch ein großer Leser. Auch das passte. Als 1998 Schröder, Lafontaine und Fischer die Bundestagswahl gewannen, haben wir den Abend in unserer Stammkneipe, der „Volkskammer“ in Kreuzberg, verfolgt. Als der Abend beendet war und die Ergebnisse fest standen, waren wir volltrunken. Dabei hatte W eigentlich nichts für SPD oder Grüne übrig, er war Marxist.

Irgendwann ging er nach Edinburgh, hatte einen Job in der Uni. Und auch eine Freundin. Ich bedauere, dass ich ihn nie dort besucht habe. Aber wir haben regelmäßig telefoniert. Seit über zwanzig Jahren ist W nun schon Prof. an der Uni von York. Dort habe ich ihn auch einmal besucht. Auf irgendeinem Kongress lernte er eines Tages eine Frau aus Argentinien kennen und lieben. Sie heirateten in Buenos Aires. Ich durfte Trauzeuge ein. W lud mich ein und bezahlte den Flug. C, die direkte Nachbarin aus Ws Hinterhaus kam auch mit. Wir wohnten bei Verwandtschaft der Braut in Palermo, einem Stadtteil von Buenos Aires, dem Jorge Louis Borges ein literarisches Denkmal gesetzt hat, und blieben zwei Wochen. Auch als ich nach Frankfurt zog, hielten wir den Kontakt aufrecht. Meist telefonierten wir am Sonntag, sie besuchten mich auch mal in Frankfurt. Dann verloren wir uns aus den Augen. Wie`s halt manchmal so geht. Er gehört zu denen, deren Mailadresse ich noch hatte. Gemeldet habe ich mich nicht, dran gedacht aber schon. Es ist also W, alias „Hase“ zu verdanken, dass wir wieder Kontakt haben. Auch wenn wir noch keine Zeit gefunden haben, miteinander zu telefonieren.

Canada calling

Jetzt bringe ich die Chronologie ein wenig durcheinander. Vor einigen Wochen erreichte mich eine Freundschaftsanfrage über Facebook. Sie kam aus Kanada und war nicht hinter einem Pseudonym versteckt. Der Name war mir wohlbekannt. Ich hatte auch schon nach ihm gesucht. Der Mann heißt Arnim mit Vornamen, ich war aber völlig sicher, dass er Armin heißt. Ich habe ihn nicht gefunden. Wir waren Schulfreunde in den Sechziger Jahren in Schwäbisch Gmünd. Ich bin 1976 nach Berlin gegangen, er 1977 nach Kanada. Seit dem hatten wir keinen Kontakt mehr. Eine Tante von ihm lebte in Toronto. Schon damals träumte er von dieser Möglichkeit. Ich hatte vergessen, dass er einen Bruder hat. Aber zu dem hat auch er keinen Kontakt mehr, weiß nicht mal, wo er lebt. Selbstverständlich nahm ich diese Facebook-Anfrage an. Wir schrieben uns über Messanger und einmal telefonierten wir 15 Minuten lang. Er hatte mich auf dem Handy angerufen. „Kanada war gut zu mir“, sagte er. Es ist seinen Fotos, die er regelmäßig postet, anzusehen. Auch ist er unter anderem ein hervorragender Naturfotograf. Seine Aufnahmen der örtlichen Tierwelt sind beeindruckend. Grisslys, Adler, Robben und allerhand anderes Getier kommt ihm vor die Linse. Hier kann man seine Photos ansehen. Mal sehen, was sich aus diesem Kontakt noch weiter entwickelt. Wiedererkannt hätte ich ihn natürlich nicht.

Eine unerwartete Mail

Der sicher aufregendste Ruf aus der Vergangenheit erreichte mich Anfang Januar. K aus Hannover schrieb mir eine Mail. Ob ich der sei, von dem sie annahm, dass er es sei. Ich freute mich sehr über diese überraschende Meldung aus der Vergangenheit, schließlich kannten wir uns seit einundvierzig Jahren. Im März wollten wir uns wiedersehen, aber dann kam Corona. Die ganze Geschichte habe ich ins Coronarchiv geschrieben.

Und jetzt ist mir die Vergangenheit präsenter als es die Zukunft jemals war.

Nachts an einer Kreuzung

Das Thema Warten beschäftigt mich momentan besonders und in diesem Zusammenhang musste ich an eine kleine Begebenheit denken, die mir irgendwann im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts widerfahren ist..

Ich fuhr gegen zwei, drei Uhr in einer Sommernacht mit dem Fahrrad von Prenzlauer Berg zurück nach Hause in Kreuzberg. Die Ampel an der Kreuzung Friedrichstraße / Unter den Linden zeigte Rot. Weit und breit war kein Auto unterwegs und jeder andere Radfahrer hätte die Kreuzung trotz roter Ampel überquert. Ich blieb stehen. Anders als die meisten Radfahrer bleibe ich oft stehen, wenn eine Ampel Rot zeigt, selbst wenn ein völlig gefahrloses Weiterfahren möglich wäre. So eilig habe ich es meist nicht und genieße diesen Moment des Innehaltens und der Entschleunigung. Ich schau mir die Gegend an oder die Gesichter in den Autos um mich herum.

In dieser Nacht an der Kreuzung in Berlin-Mitte hielt dann ein Polizeiauto neben mir. Die Polizistin auf dem Beifahrersitz sprach mich an und sagte: „Eigentlich müssten wir Ihnen jetzt zehn Euro geben.“ Ich schaute verdutzt und sie fuhr fort: „Sie bleiben mitten in der Nacht an einer roten Ampel stehen und das Licht geht auch. Sowas sehen wir nicht oft.“ Zehn Euro wären wohl der Tarif, wenn ich die Ampel regelwidrig überfahren hätte. Ich erwähnte noch, dass ich viel Wert auf ein funktionierendes Fahrrad legen würde. Der männliche Kollege am Steuer ergänzte abschließend: „Wahrscheinlich ist das Rad geklaut.“ Irgendein Haar in der Suppe musste doch zu finden sein.

Wir lachten, die Ampel schaltete auf Grün und ich fuhr weiter Richtung Kreuzberg.

Für Sibylle Jud

Am 12. Februar 2016 starb meine gute Freundin Sibylle Jud. Sie wurde nur 50 Jahre alt. Diesen Brief wollte ich schon kurz nach ihrem Tod schreiben. Aber über mehr als einen Satz bin ich nicht hinaus gekommen. Jetzt ein zweiter Versuch. Ich bin es ihr schuldig, auch wenn ich ihr mit meinen unzulänglichen Worten nicht gerecht werden kann.

Liebe Sibylle,

an deinem Todestag, dem 12. Februar 2016, habe ich den Mietvertrag für meine neue Wohnung unterschrieben. Eine Wohnung, die ich sehr mag und die du nie sehen wirst. Dabei bin ich jetzt für Gäste ganz gut eingerichtet. Du müsstest nicht mehr auf der Luftmatraze schlafen, wie in meiner vorherigen Bleibe, die du gut kanntest. Auch wenn du nie hier warst, lebt die Erinnerung an dich auch in dieser Wohnung weiter. Es vergeht seit deinem Tod kein Tag, an dem ich nicht an dich denke. Und das liegt auch an einer bunten, psychedelischen Glühbirne, die du mir für meine erste Wohnung in Frankfurt mitbrachtest. Dort habe ich sie kaum genutzt und wahrgenommen. Merkwürdigerweise hat sie den Umzug überlebt, hängt jetzt in meiner neuen Wohnung in der Küche und leuchtet jeden Tag für eine gewisse Zeit. Es ist dein Licht. gluhbirne

Wir kannten uns seit 20 Jahren. Im Jahr 1996 arbeitete ich in der Buchhandlung Kiepert in Berlin. Dort betreute ich unter anderem die detebe Taschenbuchreihe des Diogenes Verlags. Der Umsatz in der größten Buchhandlung Deutschlands war entsprechend. Das brachte mir in diesem Jahr eine Einladung des Verlags nach Zürich ein. Ich war einer von fünf Buchhändlerinnnen und Buchhändlern aus Deutschland, die zu einem Wochenend-Workshop nach Zürich geladen wurden. Flug, 4-Sterne-Hotel, alles dabei. Das größte Ereignis meines Buchhändlerlebens.

Silke und du waren für unsere Betreuung da. Mit mir hattet ihr am meisten zu tun. Ich war immer der Letzte, der ins Hotel wollte. Es war ein unvergessliches Wochenende. Nach den vier Tagen waren wir Freunde.

Du warst erst kurz zuvor aus Frankfurt zu Diogenes nach Zürich gekommen. In Frankfurt hast du in der berühmten Huss`schen Buchhandlung gearbeitet. Natürlich hatten wir auch gemeinsame Bekannte. Aber wer hätte damals gedacht, dass ich in wenigen Jahren selbst nach Frankfurt ziehen würde und zwar unter tätiger Mithilfe deinerseits? Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass ich ohne dich niemals nach Frankfurt zum Suhrkamp Verlag gekommen wäre.

Man begegnet nur selten Menschen, die das eigene Leben in eine andere Richtung lenken. Für mich bist du so ein Mensch. Das war an diesem Wochenende in Zürich allerdings noch nicht absehbar. Wir blieben in Kontakt. Du hattest Freunde in Berlin, von denen ich seitdem einige auch zu meinen Freunden zähle, und kamst gelegentlich nach Berlin. Wir telefonierten ab und zu und trafen uns. Ich habe dich auch immer wieder gerne in Zürich besucht.

Bei einem dieser Besuche wollten wir mit einem deiner Freunde vom Haffmans Verlag einen „Spaziergang“ in den Zürcher Bergen machen. Er sollte etwa drei Stunden dauern, eine überschaubare Zeit. Das Wetter war schön, K., deinen Freund fand ich nett. Also sind wir frohgemut mit K.s Auto ein Stück weit ins Gebirg gefahren. Zu Beginn des „Spaziergangs“ tranken wir Weizenbier auf einer Alm am Sessellift und genossen die Aussicht. Anschließend stiefelten wir guter Dinge los. Ich trug stabile Turnschuhe, heute würde man wohl „Sneaker“ sagen, ihr wart professionell mit Wanderschuhwerk ausgestattet. An einer Weggabelung hast du entschieden, nach links zu gehen statt nach rechts. So wurde aus drei Stunden „Spaziergang“ eine veritable Wanderung von acht Stunden und etwa 1500 Höhenmetern. Ohne Proviant versteht sich, braucht man für drei Stunden auch nicht. Und doch blieb die Stimmung, bei aller Anstrengung, gut. Niemand hat gejammert oder geflucht. Wasser gab`s aus Bächen und irgendwelche Beeren am Wegesrand sorgten für eine rudimentäre Verpflegung. Das Naturerlebnis war dennoch überwältigend. Du gabst der Wandergruppe stets optimistische Prognosen. „Wir sind gleich da“, „Es dauert nicht mehr lang“, „Nur noch über diesen Kamm und dann kommt ein Wirtshaus nahe am Parkplatz“ und so weiter. Wir haben dir geglaubt, das hielt uns bei Laune, bei positiver Laune. Aber dann kam noch ein Kamm, noch ein Hügel, noch ein paar Höhenmeter. Es zog sich, doch unsere Stimmung kippte nicht. Aber irgendwann, nach acht Stunden, als wir die letzte Steigung erklommen hatten, erspähten wir unten im Tal das versprochene Wirthaus. Alles war gut und das Bier wahrscheinlich das beste, das ich jemals getrunken habe. Zu Essen gab es auch was. Wir bestellten. Als ich von der Toilette zurückkam, fand ich euch schallend lachend am Tisch. Der von mir bestellte Wurstsalat hatte sich als ein großer Salatteller entpuppt, in dessen Mitte eine rote Wurst ruhte wie ein junger Hund im Körbchen. Es war ein der Erschöpfung geschuldetes, befreiendes Lachen, das der kleinste Anlass auslösen kann. Dieser achtstündige „Spaziergang“ hat uns verbunden. Es war eine intensive Erfahrung, von der ich bis heute zehre.

Du warst Fußballfan. Der SC Freiburg war dein Verein (haben heute 2:1 gegen Köln gewonnen). Am 28. Mai 1997 bestritten Juventus Turin und Borussia Dortmund das Championsleague-Finale in München. Juve (dein Freund und Kollege Walter war glühender Juve-Fan, ist es wahrscheinlich heute noch) war Tabellenführer in Italien. Der BVB kämpfte gegen den Abstieg. Klar, wer Favorit war. Wir wetteten, du auf Juve, ich auf den BVB. Es ging um zwei Flaschen Champagner. Meine Gewinnaussichten waren eher gering. Es war das Spiel, in dem Lars Ricken zehn Sekunden nach seiner Einwechslung, nach Vorarbeit von Andi Möller, das sensationelle Tor aus 40 Metern schoss, das für immer in die Fußballgeschichte eingegangen ist. Dortmund hat 3:1 gewonnen und du zwei Flaschen Champagner verloren. Du hast mich später gerügt, dass ich dich an diesem Abend nicht angerufen habe. Den Champagner tranken wir bei mir zuhause in Berlin. Anderthalb Flaschen haben wir geschafft, dann begleitete ich dich durch die Nacht zu deinem Gastgeber ein paar Straßen weiter. Bei mir bleiben wolltest du nicht.

Im Oktober 1999 hatte eine gemeinsame Freundin, K.,die ich selbstverständlich durch dich kennengelernt hatte, Geburtstag. Sie war erst kurz vorher mit ihrem Mann H., von Berlin nach Offenbach gezogen. Wir waren durch dich Freunde geworden und sahen uns in Berlin regelmäßig. Ich fuhr nach Frankfurt. Es war kurz nach der Buchmesse, auf der ich erfuhr, dass der Suhrkamp Verlag Verstärkung für die Verkaufsabteilung suchte. Ich habe mich nicht um den Job bemüht, weil ich bei Suhrkamp niemanden kannte. Wechselwillig war ich aber durchaus. Bei dieser Geburtstagsparty im Oktober 99 war dann auch der Verkaufsleiter von Suhrkamp anwesend, ein Freund und Kollege des Geburtstagskindes, den du selbstverständlich auch kanntest. Du sprachst ihn darauf an, ob die Stelle noch vakant sei. Sie war es, er wolle aber an diesem Abend nicht darüber reden, weil er auch schon was getrunken hätte. Ich solle mich aber schriftlich bewerben, er würde sich daran erinnern. Das tat ich dann auch. Das Geburtstagskind K. legte ebenfalls ein gutes Wort für mich ein. An meinem Geburtstag im Jahre 1999 rief mich der Verkaufsleiter in der Buchhandlung an und lud mich zu einem Vorstellungsgespräch nach Frankfurt ein. Wenige Tage später fuhr ich hin. Das Gespräch mit dem damaligen kaufmännischen Geschäftsführer dauerte zehn Minuten. Am Abend hatte ich den Job. Heute ist U., der damalige Verkaufsleiter, ein Freund von mir.

Du hast vor einigen Jahren das Zürcher Büro gegen das Vertreterdasein eingetauscht und warst seither für Diogenes als Vertreterin in NRW unterwegs. Als Wohnsitz hast du Düsseldorf gewählt und dort sehr schnell eine wunderbare Wohnung gefunden. Ich habe dich zwei-dreimal besucht. Dass du Anfang 2014 die Altstadt-Buchhandlung in Ratingen übernommen hast, die von deinem Lebenspartner Sven geführt wurde und noch immer wird, habe ich nicht mitgekriegt. Ratingen, mein Geburtsort.

Im Jahre 2008 trafen wir uns zufällig in Bochum zu einem Konzert der Ruhrtrienale. In der Jahrhunderthalle spielten zum Abschluss Joe Henry, Billy Bragg und Rosanne Cash. Als ich bei der Halle ankam, standen plötzlich du und Sven vor mir. Das war ein wundervolles zufälliges Zusammentreffen. Hätte ich das vorher geahnt, hätte ich kein Hotel gebucht, sondern wäre mit euch nach Düsseldorf gefahren. So waren wir nach dem Konzert nur noch zusammen was essen. Dennoch, das war ein sehr schöner Abend.

Bei der Buchmesse 2014 warst du nicht dabei. Es hieß, du seiest krank. Gut, dachte ich mir, sie hat eine Grippe. Ich schrieb dir eine SMS, die unbeantwortet blieb. Im Folgejahr blieb Diogenes der Messe fern. Aber ich erfuhr, dass deine Krankheit wesentlich ernster war als eine Grippe. Ich weiß nicht, wie du die zwei Jahre nach der Diagnose verlebt hast. Wir hatten keinen Kontakt mehr und ein Leben nach einer solchen Diagnose übersteigt mein Vorstellungsvermögen.

Seit 2014 blieben dann auch die liebevollen Weihnachts- und Neujahrswünsche aus, mit denen du jahrelang deine Freundinnen und Freunde erfreut hast. Es bleibt so vieles aus seitdem.

neujahrsgrus

Liebe Sibylle, ohne dich wäre mein Leben anders verlaufen. Die Welt ist ärmer geworden durch deinen Tod. Du fehlst schmerzlich. Danke für alles.

Stefan

So kam das

friesenbuchhandlung

An diesem Ort in Berlin-Kreuzberg, damals noch 1000 Berlin 61, begann 1980 mein Leben in der Buchbranche. Das Geschäft mit den geschlossenen Rollläden wurde zu der Zeit von einem türkischen Gemüsehändler betrieben. Der Laden auf der linken Seite beherbergte eine kleine Buchhandlung. Sie hieß Friesenbuchhandlung, benannt nach der Straße, in der sie beheimatet war. Die Aufschrift über der Markise ist noch zu entziffern. Eher zufällig kam ich Ahnungsloser zu dem Vergnügen, in einer Buchhandlung arbeiten zu dürfen. Meine einzige Qualifikation: Ich las gerne. Der Gründer und Inhaber der Friesenbuchhandlung war Stammgast in der Kneipe, in der ich seinerzeit arbeitete. Er fragte mich eines Tages am Tresen, ob ich nicht jemand für seine Buchhandlung wüsste, sein Kompagnon sei ausgestiegen. „Frag doch mal mich“, antwortete ich. So kam das. Mal wieder zeigte sich, wie wichtig „Vitamin B“ ist.

Nach drei Jahren trennten sich unsere Wege wieder. In dieser Zeit ist das Wandgemälde, nach eine Idee von mir, entstanden. Es heißt Unter dem Pflaster liegt der Strand, gemäß eines zu dieser Zeit sehr beliebten Sponti-Spruchs. Gemalt hat es Bärbel Rothhaar, eine befreundete Künstlerin, die, nachdem das besetzte Haus, in dem sie lebte, geräumt worden war, bei mir wohnte.

Ich bin sehr froh, dass das Wandbild noch heute zu sehen ist. Die Gegend ist mittlerweile vollkommen durchsaniert und gentrifiziert. Dieses Haus ist ein Relikt aus jener Zeit. Ansonsten prägen aufpolierte Fassaden, Cafés, Gastronomie, Fahrradläden und erlesene Einzelhandelsgeschäfte das Bild. Am Straßenrand parken SUV.

Nach den drei Jahren folgte ein Jahr Arbeitslosigkeit, die durch eine, vom Arbeitsamt gesponserte, Ausbildung zum Buchhändler beendet wurde. Umschulung von Nix auf Buchhändler. Die Vorstellung, irgendwann einmal im Suhrkamp Verlag zu arbeiten und später auch selbst Bücher zu machen, wäre mir damals so absurd erschienen wie ein Fall der Mauer.

Das besoffene Schwein oder Meine Berlinale

Die Berlinale ist zu Ende. Das freut, nein, erleichtert mich etwas. Die ausführliche Berichterstattung auf Radio Eins weckte wehmütige Erinnerungen an Zeiten, die ich selbst bei der Berlinale verbracht habe. Über Jahre war ich dabei, nahm eine Woche frei und ging ins Kino. Auch schon zu Zeiten, als das Festival rund um den Zoopalast und das Delphi-Kino in West-Berlin angesiedelt war. Um Karten habe ich mich nie im Vorverkauf bemüht. Für Filme aus den Panorama- oder Forum-Reihen bekam man meistens noch Tickets an der Kasse, ebenso für Wettbewerbs-Wiederholungen. Es genügte eine halbe Stunde vor Filmbeginn dort zu sein. Hin und wieder bekam ich dann auch mal eine Karte geschenkt von Leuten, die sie selbst nicht nutzen konnten. Eine Freundin war Kamerafrau und bei der Berlinale akkreditiert. Sie versorgte mich ebenfalls gelegentlich mit Freikarten. Das lief nach dem Zufallsprinzip. Sie bekam nur jeweils eine Karte pro Film und auch nur eine für zeitgleich laufende Vorführungen. Ich mußte mich also danach richten, was sie sehen wollte und wußte daher oft nicht, was mich erwartete. Auf diese Weise habe ich Filme gesehen, die niemals den Weg zu einem deutschen Verleih gefunden haben. Die meisten davon habe ich vergessen aber einige sind mir im Gedächtnis haften geblieben.

Am eindringlichsten erinnere ich mich aber an einen Dokumentarfilm, dessen Titel mir mittlerweile entfallen ist und den ich mir ohne die Berlinale sicher niemals angesehen hätte. Der Film stammte, so ich mich richtig erinnere, von zwei französischen Regisseurinnen, vielleicht waren es auch Engländerinnen. Er behandelte ein japanisches Internat, nicht irgendeins, sondern ein Internat, in dem Catcherinnen ausgebildet werden. In Japan scheint Frauencatchen eine angesagte Sache zu sein, bei der viel Geld im Spiel ist. Der Film begleitete die Frauen in ihrem Alltag, einem Alltag der geprägt war von Disziplin, Training und militärischen Drill. Sie wurden angebrüllt und gedemütigt, wie man es sich nur auf einem Kasernenhof vorstellen kann. Die Aufseherin, anders kann man es nicht sagen, war eine kräftige Frau mit kurzgeschorenen Haaren, die versuchte die künftigen Catcherinnen zu Kampfmaschinen zu erziehen. Die Dokumentation folgte einer jungen Kämpferin, die etwas zierlicher war als ihre Kolleginnen. Ihr Schicksal war exemplarisch. Dadurch, daß die Kamera immer sehr nah am Geschehen war, entwickelte der Film eine ungeheure Intensität, was unter anderem dazu führte, daß ich ihn auch nach Jahren noch sehr deutlich vor Augen habe. Die Ausbildung der Frauen, während der es kein Privatleben gibt, dauert ein Jahr. Nur eine Frau hat aufgegeben in der Zeit, alle anderen haben durchgehalten. Nach diesem Jahr werden die Frauen in ihre ersten Profikämpfe geschickt. Ich ertappte mich wie ich die Fäuste ballte, mit der Protagonistin mitfieberte und sie innerlich anfeuerte als sie erstmals im Ring stand: „Mach sie fertig, hau sie um, laß dich nicht unterkriegen, wehr dich…“. So in etwa lautete mein innerer Monolog. Sie hat den Kampf verloren.

Mein schönstes Kinoerlebnis habe ich ebenfalls der Berlinale zu verdanken. Es war das Jahr, in dem Detlev Bucks Film Wir können auch anders im Wettbewerb lief. Der Film bedeutete den Durchbruch für Joachim Król als Schauspieler. Meine damalige Nachbarin und gute Freundin kannte Król aus gemeinsamen Schulzeiten in Herne. Sie waren Jugendfreunde. Król besuchte sie als er mit dem Film bei der Berlinale war. Am nächsten Tag gab es für einige Freunde und Bekannte eine Privatvorführung von Wir können auch anders im Delphi-Kino. Ich durfte dabei sein. Es saßen vielleicht 17 Leute in dem riesigen Kinosaal, dabei auch Sophie Rois. Anschließend gingen wir mit einer kleiner Gruppe irgendwo was trinken, leider ohne Sophie Rois. Joachim Król plauderte ein bißchen aus dem Nähkästchen über die Entstehungsgeschichte des Films, zum Beispiel, wie sie versucht haben, das Schwein mit in Bier getränktem Brot ruhig zu stellen. Das sind die unvergesslichen Geschichten, die das Kino schreibt. Der Film ist bis heute eine meiner liebsten Komödien und der Satz „Gelder sind vorhanden“ gehört seither zu meinem aktiven Wortschatz.

Natürlich kann man das ganze Jahr ins Kino gehen, aber es ist die besondere Atmosphäre, die ein Festival wie die Berlinale zu etwas Besonderem macht. Morgens um neun sitzt man normalerweise nicht im Kino, bei der Berlinale schon. Und drei Filme schaut man auch nicht an einem Tag, bei der Berlinale schon (ich weiß, es gibt Leute, die schaffen fünf). Im Kinosaal herrscht eine besondere Spannung, die noch geschürt wird vom Festival-Trailer und der Musik. Und dann geht es los. Die Filme werden immer in Originalfassung mit englischen Untertiteln gezeigt und anschließend gibt es Applaus oder eben auch Pfiffe. Nach dem Abspann stehen Regisseure und Darsteller für Fragen zur Verfügung. In den Pausen zwischen zwei Filmen versucht man irgendwo einen Platz zu finden, wo man in Ruhe einen Kaffee trinken, oder was essen kann. Und dauernd begegnen einem Menschen, die man sonst nur im Kino oder im Fernsehen sieht. Nach drei Filmen, mehr hab ich nie geschafft, brauchte ich abends immer eine ganze Weile um mich wieder im Alltag zurecht zu finden. Die Berlinale, das war immer eine Woche in einem Paralleluniversum, ein Ausflug ins Ungewisse und Andere. Und das muß ich unbedingt mal wieder haben, vielleicht nächstes Jahr

Mein 9. November 1989

Ein ganz normaler Tag

Wie jeden Tag fuhr ich am Morgen mit dem Rad zum Ernst-Reuter-Platz in Charlottenburg um in der dort gelegenen Buchhandlung Kiepert meinem Tagwerk nachzugehen. Niemand hat geahnt, daß am nächsten Tag alles anders sein würde.
Nach Feierabend fuhr ich wieder heim, durch den Tiergarten und über die Brache des Potsdamer Platzes, ein Stück weit an der Mauer entlang. Es war dunkel, die Grenzanlage beleuchtet, wie immer. Es war ein ganz normaler Tag. Zuhause tat ich, was ich meistens tat. Ich machte das Radio an und kochte irgendwas. Nach dem Abwasch gab es eine Kanne Tee, ich machte das Radio aus und setzte mich, wie so oft, auf das Sofa um zu lesen. Gegen 20 Uhr 30 rief mein Bruder an, der damals noch am Bodensee lebte. Er wollte wissen was in Berlin los sei, er hätte gehört, die Mauer sei offen. Ich schaute aus dem Fenster, alles war wie jeden Tag am beschaulichen Chamissoplatz. Nichts, antwortete ich, alles sei wie immer. Mein Wissenstand zu dieser Zeit war, daß DDR-Bürger Reisepässe beantragen und damit dann frei reisen könnten. Es gab täglich neue Nachrichten über die Entwicklung in der DDR. Eine Öffnung der Mauer konnte sich trotzdem kaum jemand vorstellen.
Nach dem kurzen Gespräch mit meinem Bruder widmete ich mich wieder dem Buch, später hörte ich wahrscheinlich Musik und trank Rotwein. Gegen 24 Uhr machte ich mich bettfertig und schaltete das Radio ein. Die Mauer sei offen, erfuhr ich.

Heinrich-Heine-Straße und Oberbaumbrücke

Ich zog mich wieder an, schleppte mein Rad runter und fuhr zum Übergang Heinrich-Heine-Straße am Moritzplatz.
Dort war es wie die Bilder es zeigten; eine unendliche Reihe Trabis und Wartburgs drängte sich durch den Übergang, es wurde auf Autodächer getrommelt und Sekt verspritzt, Deutschlandfähnchen wurden geschwenkt. Der Gestank von Zweitaktergemisch lag in der Luft. An diesem Tag für viele der Geruch der Freiheit. Tausende Menschen in marmorierten Jeansjacken blickten ungläubig gen Westen.
Ich fuhr weiter zur Oberbaumbrücke. Hier das selbe Bild, nur daß die Menschen zu Fuß kamen. Es war berührend, wildfremde Menschen lagen sich in den Armen, nicht wenige hatten Tränen in den Augen. Umarmt hatte ich niemanden, auch keinen Sekt getrunken.
In dem Bewußtsein, einen historischen Moment zu erleben, setzte ich mich nach zirka zwei Stunden wieder aufs Rad und fuhr von Kreuzberg 36 nach Kreuzberg 61. In meiner Stammkneipe Malheur, Gneisenau- Ecke Solmsstraße, trank ich noch ein Bier, vielleicht auch zwei. Dort war nichts zu merken von der Maueröffnung, DDRler hatten sich dorthin nicht verirrt. Die zog es Richtung Ku-Damm. Gegen halbvier legte ich mich für einem kurzen Schlaf ins Bett.

Der nächste Tag

Am Morgen fuhr ich wie immer mit dem Rad zur Arbeit, wieder am Potsdamer Platz vorbei. Dort war dann nichts mehr wie immer. Die ersten sogenannten Mauerspechte machten sich mit Hammer und Meißel an der Mauer zu schaffen, die bis gestern noch das Hammer und Sichel-Paradies einschloss. Einige Meter weiter in Richtung Esplanade und Tiergarten standen zwei schwarze Limousinen, umringt von einigen Neugierigen. Ich blieb auch kurz stehen und sah wie der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker durch eine Lücke in der Mauer ging und die VoPos auf der anderen Seite mit Handschlag begrüßte. Ich fuhr weiter durch den Tiergarten. Am Ernst-Reuter-Platz dann der erste Unfall zwischen einem Mercedes und einem Trabi. Es war nichts Schlimmes, aber der Trabi war eindeutig der Verlierer. Die Buchhandlung wurde voll an diesem Tag, wie an vielen folgenden Tagen auch, sehr voll. Viele Menschen aus dem Osten nutzten ihr Begrüßungsgeld um sich mit Lektüre zu versorgen, die sie in der DDR nicht lesen durften oder nicht bekamen: Stefan Heym, George Orwell und viele andere. Es gab große staunende Augen angesichts des Angebots der Buchhandlung – ein bißchen wie Kindergeburtstag mit vielen Oohs und Aaahs. Nicht nur die Buchhandlung war voll, alles war voll, die Straßen, die U-Bahnen, die Geschäfte. Bei Beate Uhse mussten die Leute geduldig sein, neue Besucher wurden nur noch eingelassen, wenn andere den Laden verließen. Die Schlange war sehr lang. Manche Aldi-Filiale schloss alle Stunde die Pforten um die Regale zu füllen. Das lag aber eher an den vielen Polen, die im Ford Transit anreisten und die Läden leerkauften um mit der Billigware zuhause einen guten Schnitt zu machen.
Am Abend kam es zum wohl legendärsten Auftritt eines deutschen Männerchors. Bei einer „Freudenfeier“ vor dem Rathaus Schöneberg stimmten Helmut Kohl, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher und Walter Momper vor einer vieltausendköpfigen Menge die Nationalhymne an. Begleitet wurden sie von einem gellenden Pfeifkonzert, ob aus ideologischen oder musikalischen Gründen sei dahingestellt. Beides wäre möglich. Die TAZ hat die berühmte Aufnahme auf eine billige Plastik-Single pressen lassen und einer ihre nächsten Ausgaben beigelegt. Schade, daß ich die nicht mehr finde.

Adieu Westberlin

Am 10. Nov. kam mein Freund, der Journalist Joe Bauer, aus Stuttgart angereist. Er hatte einen der letzten Plätze im Flieger ergattert. Wir hatten schon öfter versucht, uns den Mauerfall vorzustellen. „Joe“, sagte ich dann immer, „wenn die Mauer fällt musst du kommen. Das müssen wir verhindern.“ Denn es ging uns ein bißchen wie Herrn Lehmann aus Sven Regeners gleichnamigem Roman.
„Die Mauer ist offen.“
„Was ist?“
„Die Mauer ist offen.“
„Ach du Scheiße.“
Der Fall der Mauer bedeutete nicht nur den Untergang der DDR, er bedeutete auch den Untergang des Biotops Westberlin. Und welche Ausmaße das annehmen würde, konnte damals noch niemand ahnen.

Eine Radtour

Einige Tage später fuhr ich mit ein paar Freunden mit dem Rad durch Ostberlin. Das klingt banal, war aber was Besonderes. Zu Mauerzeiten war es verboten mit dem Rad nach Ostberlin einzureisen. Man durfte zwar auf dem Autodach ein Rad mitbringen und 50 Meter hinter der Grenze mit dem Fahrrad weiterfahren, aber mit dem Rad die Grenze passieren, das ging nicht, wieso auch immer. Aber jetzt ging das. In den letzten Tagen waren einige provisorische Grenzübergänge eingerichtet worden, am Brandenburger Tor etwa und am Potsdamer Platz. Dort reisten wir ein, tauschten Geld, denn den Zwangsumtausch gab es noch, allerdings zu einem deutlich besseren Kurs als 1:1. Vopos wurden mit Blumen beschenkt, Zäune mit Nelken und Rosen verziert. Jetzt radelten wir durch die Hauptstadt der DDR. Wir kreuzten den Alexanderplatz und fuhren immer weiter Richtung Osten. Ich weiß nicht mehr wo wir überall waren. Irgendwo sind wir in einem einfachen Lokal eingekehrt, haben Würstchen gegessen und Bier für vermutlich 57 Pfennige getrunken. Nach vier oder fünf Stunden war unser Ausflug beendet. Ich hatte Eisbeine, denn es war schweinekalt. Aber die Mühen haben sich gelohnt. Die Stadt, die wir damals gesehen haben, gibt es mittlerweile so nicht mehr.

Hamlet/Maschine

Im November wurde im Deutschen Theater in Ostberlin die siebeneinhalbstündige Heiner Müller-Inszenierung Hamlet/Maschine uraufgeführt. Das letzte große Theaterstück der DDR, mit Ulrich Mühe in der Hauptrolle. Die Proben begannen im August und die Premiere fand in einem anderen Land statt und das Stück bekam eine völlig andere Bedeutung. Es gelang mir für eine der folgenden Aufführungen eine Karte zu ergattern. Sie kostete 16 Mark der DDR, nach dem damaligen Kurs waren das ungefähr drei West-Mark. Ein beeindruckendes und trotz der Länge, kurzweiliges Theatererlebnis. Der Regisseur Christoph Rüter hat das Stück und die Arbeit daran in seinem sehr sehenswerten Film Die Zeit ist aus den Fugen trefflich dokumentiert.

Die Zeit danach

Die Wochen und Monate nach dem Mauerfall waren aufregend – vieles war möglich, es gab Freiräume. Ein Freund feierte Geburtstag im sogenannten Kaisersaal des ehemaligen Hotels Esplanade; im Sommer 90 verbrachte ich mit meiner damaligen Freundin ein Wochenende in Rheinsberg. Wir wohnten im Schloss, damals noch ein Sanatorium für Diabetiker. Sie hatten nicht genug Patienten und vermieteten einige Räume an Gäste. Das Doppelzimmer, zirka 40 qm groß, kostete 30 Mark. Gefrühstückt wurde mit den Diabetikern.

Der Kaisersaal wurde inzwischen um 50 Meter verschoben und ist jetzt in das Sony-Center genannte Glas- und Stahlensemble neben dem Potsdamer Platz integriert. Heiner Müller und Ulrich Mühe sind verstorben, im Rheinsberger Schloss kann man mittlerweile nicht mehr übernachten, die Buchhandlung Kiepert hat den Mauerfall um 13 Jahre überlebt, dann mußte sie sich den veränderten Umständen geschlagen geben und ich wohne schon lange nicht mehr in Berlin.

Heimat – was ist das?

HeimatSo eine Blogparade erinnert ein wenig an einen Schulaufsatz. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen etwas zum Thema Heimat zu schreiben. Dabei ist es sehr interessant.

Nomaden

Zu dem, was gemeinhin als „Heimat“ bezeichnet wird, habe ich ein extrem distanziertes Verhältnis. Das hat verschiedene Gründe. Meine Eltern haben viel dazu beigetragen, dass ich kein Heimatgefühl entwickeln konnte. Sie waren nie sesshaft und sind alle paar Jahre umgezogen und so zog es mich in Kindheits- und Jugendjahren von Nordrhein-Westfalen, über Hessen und Baden-Württemberg nach Bayern. Diese Umzüge waren jedesmal schmerzhafte Erfahrungen, Freunde und gewohnte Umgebungen verlassen zu müssen sind für einen jungen Menschen keine schönen Erlebnisse. Mit 19 Jahren habe ich die Notbremse gezogen und meinen Auszug erzwungen (damals wurde man erst mit 21 volljährig). Wo meine Eltern nach meinem Auszug überall gewohnt haben, weiss ich jetzt nicht mehr zu benennen.

Home is where the heart is

Ein weiterer Grund, weshalb ich den Begriff Heimat abgelehnt habe, ist die deutsche Geschichte. Heimat strömte für mich den penetranten Gestank von Blut und Boden aus. Das klang nach Volksgemeinschaft, Knobelbechern und schlechter Musik, damit wollte ich nichts zu tun haben.

Aber dann kamen Frank Zappa und Edgar Reitz. Die sensationelle TV-Serie „Heimat“ von Edgar Reitz aus den achtziger Jahren hat mich etwas mit dem Begriff versöhnt, auch wenn ich für mich keine Heimat hatte. Aber bei diesem Fernsehereigniss habe ich mich nach etwas Ähnlichem gesehnt.

Dies hat mir dann Frank Zappa beschert: „Home is where the heart is“. Damit konnte ich was anfangen. Das war wie „Heimat to go“, eine Heimat, die man immer bei sich trägt, die an keinen Ort gebunden ist. Und diese Heimat konnte auch in Dingen bestehen, in Büchern und Platten beispielsweise. In vielen Romanen und Musik habe ich mich meist heimischer gefühlt als im ständig wechselnden Wohnzimmer meiner Eltern. Literatur und Musik sind bis heute meine größte Heimat, der „Ort“ an dem ich mich geborgen fühle und gut auskenne, egal wo ich bin. Natürlich sind auch Menschen Heimat, gute Freunde, wo immer sie auch sind. Allerdings können auch Freunde flüchtig sein. Wie man Orte verlieren kann, kann man auch Menschen verlieren. Jeder kennt das.

Die verlässlichste Heimat finde ich also in der Literatur und in der Musik. Und seit einigen Jahren ist auch das Internet ein Stück Heimat. Wo immer man auch ist, das Internet ist in der Regel auch da und somit auch Menschen, die ich oft gar nicht persönlich kenne, die aber zu meinen täglichen Kontakten gehören und die ich nicht missen möchte.

Kreuzberg

Wollte ich aber einen realen Ort zu meiner Heimat erklären, so ist es wohl Berlin. Mehr als die Hälfte meines Lebens habe ich in Berlin verbracht und wenn mich jemand fragt, woher ich komme, sage ich der Einfachheit halber „Aus Berlin“, obwohl ich in NRW geboren bin. An meinen Geburtsort habe ich keinerlei Erinnerung. Berlin ist allerdings zu groß um als Heimat dienen zu können. Wann war ich schon mal in Spandau oder in Rudow? Über 30 Jahre habe ich in Kreuzberg gelebt und ich war sehr sesshaft. Ganze zwei Wohnungen habe ich in all den Jahren bewohnt. Und wenn ich heute nach Kreuzberg komme, spüre ich tatsächlich so etwas wie Heimatgefühle.

Dabei wohne ich schon seit 13 Jahren in Frankfurt am Main, einer Stadt, in der ich schon in der Kindheit gelebt habe. Frankfurt könnte so auch als Heimat taugen, tut es aber nicht, obwohl ich mich hier wohl fühle.

Heimat ist für mich daher etwas Trügerisches, nichts auf das man sich verlassen sollte. Alles was zählt ist also: Home is where the Heart is!

Was mache ich eigentlich den ganzen Tag?

Als Wibke Ladwig die Blogparade zum Thema „Und was machen Sie so beruflich?“ ins Leben rief, fühlte ich mich sofort angesprochen. Je älter ich werde, desto schwerer fällt es mir nämlich, zu erklären, was ich den ganzen Tag so mache.

Ich habe schon viele verschiedene Dinge gemacht in meinem Leben, in Kneipen gearbeitet, Fenster geputzt, ohne Erfolg Design studiert, einen Radwanderführer über das Rhônetal geschrieben… Und dennoch bin ich kein Wirt geworden, Fensterputzer auch nicht, Designer erst recht nicht und ein Reiseschriftsteller ist aus mir – leider – auch nicht geworden.

Buchhändler

Meine erste „richtige“ Ausbildung wurde mir vom Arbeitsamt in einem Alter spendiert, in dem andere schon zweimal den Job gewechselt haben. Ich wurde Buchhändler. Nichts besonders Aufregendes, aber ich wollte das schon lange und es hat Spaß gemacht. Dem Sortiment blieb ich dann für zwanzig Jahre treu.

Nachdem ich bis dahin die Frage, was ich denn so machte, immer mit „dies und das“ beantwortete, konnte ich jetzt mit einem richtigen Beruf aufwarten. Der Glamourfaktor war gleich null, aber wenigstens konnten sich die meisten darunter etwas vorstellen, auch wenn sie mit Büchern nichts am Hut hatten.

Suhrkamp

Schwerer wurde es, als ich zu Suhrkamp ins Verlagsgeschäft wechselte. Dann lautete die Frage ob ich Lektor sei. Dass es in einem Verlag auch noch andere Abteilungen gab, war nur den Wenigsten bewusst. Auf meine Antwort, ich sei in der Verkaufsabteilung und hätte viel mit Buchhändlern zu tun, erntete ich meist ein „Aha“. Die Verkaufsabteilung strahlte offensichtlich nicht soviel Glanz aus wie das Lektorat. Einer fragte mal, welche Druckmaschinen wir verwendeten und war enttäuscht zu erfahren, dass Verlage in der Regel nicht selbst druckten.

Aber immerhin konnten einige mit dem Namen Suhrkamp etwas anfangen. Das war nicht selbstverständlich.

Bei Menschen, für die Bücher etwas waren, das irgendwo im Regal stand und Staub fing, erntete ich bei dem Namen Suhrkamp meist ein ungläubiges Kopfschütteln. Dann halfen nur noch die Hausheiligen, Brecht, Hesse, Frisch – an diese Namen aus der Schulzeit erinnerten sich noch einige.

Nicht zuletzt deshalb habe ich es immer genossen, mit Menschen aus der Branche oder Literaturliebhabern zu tun zu haben – man wusste wovon man sprach und verstand sich in der Regel.

Social-Web

Während meiner Zeit bei Suhrkamp kam ich erstmals mit dem sog. Social-Web in Berührung. Eine Freundin hatte mir eine Einladung zu Xing geschickt. Irgendwann versuchte ich mich anzumelden, war aber schnell genervt von der Anmeldeprozedur und brach die Formalität ab. Das hatte zur Folge, dass mich Xing ständig darauf hinwies, meine Anmeldung sei noch nicht vollständig, ich möge sie doch abschließen. Um endlich meine Ruhe zu haben, tat ich Xing den Gefallen. Schnell fand ich Freude an dieser Art der Kommunikation und trieb mich in Musik- und Literaturforen rum. Es hat viel Spaß gemacht. Bevor Suhrkamp selbst in den sozialen Netzwerken aktiv wurde, habe ich über Xing Social-Media-Marketing für den einen oder anderen Suhrkamp-Titel betrieben.

Am wichtigsten aber war, dass ich über Xing Menschen mit ähnlichen Interessen kennengelernt habe. Mit manchen bin ich heute befreundet. Es war mir immer wichtig, dass sich das virtuelle Leben im realen wiederfindet. Lange Zeit war Xing das einzige Netzwerk, dass ich nutzte. Ich vermisste nichts und als ich erstmals von Twitter hörte, musste ich mir erklären lassen, was das sei. Nun gut, irgendwann folgte dann auch Facebook.

Berlin – Frankfurt – Berlin

Als der Suhrkamp Verlag ankündigte im Januar 2010 nach Berlin umzuziehen, war meine Begeisterung gedämpft. Ich war zehn Jahre vorher von Berlin nach Frankfurt gezogen und hatte mich langsam mit der Stadt am Main angefreundet. Außerdem war ich mittlerweile in Frankfurt viel besser vernetzt als in Berlin. Dennoch, ich war nicht mehr der Jüngste, suchte ich eine Wohnung in Berlin und fand sie im Prenzlauer Berg. Es war vermutlich die schönste und größte Wohnung, die ich jemals hatte und doch habe ich sie nie gesehen.

Je näher der Umzugstermin rückte desto größer wurde mein Unbehagen. Ich brauchte eine Alternative. Eine Bewerbung bei einem Frankfurter Verlag hat nicht geklappt. Das war schade, aber wenn man sich bewirbt, muss man auch damit rechnen, abgelehnt zu werden.

Die Alternative fand sich dann im Dezember 2009, kurz vor dem Umzug des Suhrkamp Verlags. Ich traf mich mit einem befreundeten Verleger eines Regionalverlags in Frankfurt. Er spielte schon lange mit dem Gedanken, ein Geschäft für lokale Produkte in Frankfurt zu eröffnen. Wir einigten uns, das zusammen zu machen. Alles klang ganz wunderbar und realistisch. Ich erwartete eine Abfindung, die ich investieren wollte, einen Teil jedenfalls.

Selbstständigkeit

Am zehnten Jahrestag meines Einstiegs bei Suhrkamp kündigte ich und machte mich, nach dreimonatiger Arbeitslosigkeit, selbsständig.

Seit dem habe ich ein Problem zu erklären, was ich denn eigentlich mache.

Vielleicht sollte ich mich Bauarbeiter nennen, in einem übertragenen Sinne natürlich. Ich bin auf vielen Baustellen unterwegs und bei manchen ist noch eine Menge Sand im Getriebe.

Die Idee, einen Laden für regionale Produkte zu eröffnen, ließen wir schnell fallen. Statt dessen entschieden wir, diese Produkte selbst zu entwickeln und herzustellen und andere sie verkaufen zu lassen. Das haben wir getan. Aber diese Firma ist auch noch eine Baustelle, die Website ist z. B. noch nicht fertig und es gibt noch nicht genügend Produkte.

Irgendwann erreichte mich eine Anfrage des Fischer-Taschenbuchverlags. Es wurde jemand gesucht, der in der Klassiker-Reihe eine Anthologie zum Thema „Spaziergang“ herausgab. Diesen Auftrag habe ich sehr gerne angenommen. Bereits im folgenden Jahr stellte ich wieder für den Fischer-Taschenbuchverlag eine weitere Anthologie zusammen, diesesmal lautete das Thema „Eisenbahn“. Ich hatte es vorgeschlagen und der Verlag war einverstanden. Leider wurde die Reihe mittlerweile sehr reduziert und es blieb bei diesen zwei Büchern.

In der letzten Woche habe ich, wieder als Herausgeber, ein Lesebuch für den B3 Verlag in Frankfurt fertig gestellt. Es wird Mitte März erscheinen.

Dieser B3 Verlag ist in Frankfurt Bockenheim beheimatet. Dort habe ich auch mein Büro. Für den Verlag betreue ich die Website, die dringend renovierungsbedürftig ist, und bespiele Twitter und Facebook. Neue Bücher stelle ich bei Book2Look ein und wenn`s ein E-Book werden soll, erledige ich das über Bookwire. Im Tagesgeschäft kümmere ich mich um die Aufträge und erledige hin und wieder Marketingaktionen, wie Mailings etc.

Die ursprüngliche Idee, ein Geschäft für regionale Produkte zu eröffnen, wurde dann doch verwirklicht, wenn auch ohne mich. Den Hessen Shop gibt es mittlerweile dreimal in Frankfurt sowie als Shop in Shop System in allen sechs Hugendubel-Filialen im Rhein-Main-Gebiet. Für den Hessen Shop betreue ich die Facebook und Twitter-Accounts. Außerdem habe ich eine Pinterest-Seite eingerichtet. Seit Anfang März pflege ich auch die Website des Hessen Shops, technisch und inhaltlich. Das ist eine weitere, große Baustelle, die mich viel Zeit kosten wird. In der nächsten Zeit werde ich mich also in das Redaktionssystem der Seite einarbeiten.

Social-Media-Anwendungen nutze ich täglich, privat und beruflich. Insgesamt betreue ich je fünf Facebook und Twitter-Accounts. Demnächst werden es noch mehr werden. Manche dieser Accounts, z. B. die Facebook-Seite des kulturellen Online-Magazins Faust-Kultur, betreue ich ehrenamtlich, aus Idealismus. Da wird kein Geld verdient, jedenfalls zur Zeit noch nicht, und mir gefällt die Seite sehr. Für so ein wunderbares Projekt investiere ich gerne etwas von meiner Zeit.

Als Social-Media-Profi würde ich mich aber niemals bezeichnen, da gibt es andere, die mit dem Thema wesentlich vertrauter sind als ich. Auch beschränke ich mich auf Twitter, Facebook und Pinterest. Mit Google+ zum Beispiel habe ich mich noch nicht beschäftigt. Ich weiß auch noch nicht, worin der Nutzen einer weiteren Plattform besteht. Nicht zuletzt ist es auch ein Zeitproblem.

Obwohl ich recht „amateurhaft“ mit Social-Media umgehe, halten mich manche doch für einen „Profi“, gemessen an ihren eigenen Fähigkeiten und Ängsten. Also helfe ich hin und wieder anderen bei ihren ersten Schritten in das soziale Netz.

Zu guter Letzt bin ich mit ehemaligen Verlagskolleginnen und Kollegen in den Vorbereitungen für die Gründung einer weiteren Firma. Wir brauchen aber noch ein paar Wochen und vorher wird nichts verraten.

Für Aussenstehende klingt das alles sicher recht verwirrend. Aber hinter all diesen Aktivitäten steht ein Netzwerk von nur wenigen Personen. Intern ist alles also recht überschaubar und die Wege sind kurz – und Bauarbeiter schätzen kurze Wege.

Nachtrag vom Januar 2014

Als Selbsständiger bewegt man sich auf dünnem Eis. Ich habe das jetzt zu spüren bekommen. Sollte ich jetzt diesen Beitrag schreiben müssen, er würde vollkommen anders aussehen, denn 90% der oben geschilderten Umstände sind mittlerweile hinfällig. Ich orientiere mich jetzt neu.

Ein Verlag feiert sich selbst – 60 Jahre Suhrkamp

Der Ehrengast zum 50. Jubiläum des Suhrkamp Verlags im Jahre 2000, das damals im Frankfurter Schauspiel begangen wurde, war der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, ein Freund der Künste und des Verlags. Reich-Ranicki war auch da, Petra Roth ebenso, selbstverständlich. Beide mussten sich mit vielen Anderen einem dreistündigen Lesemarathon unterwerfen, ohne Pause und ohne Verpflegung. Siegfried Unseld wollte es so. Das war Suhrkamp. Einer der damaligen Vortragenden war Martin Walser. Zwei Jahre später erschien dessen Roman Der Tod eines Kritikers. Dann war`s vorbei mit der Verbindung zwischen Walser und Suhrkamp. Siegfried Unseld starb einige Wochen nach dem Erscheinen des Romans. Dieses Buch spaltete den Verlag, Lektoren und Geschäftsführer verließen das Haus in der Frankfurter Lindenstraße. Und Walser wechselte zu Rowohlt. Es ging stets turbulent zu in den sog. Nullerjahren im Hause Suhrkamp.

Seit Anfang diesen Jahres residiert der Verlag in der Berliner Pappelallee. Die Witwe Unselds, Ulla Unseld Berkéwicz, wollte es so. Der Umzug spaltete den Verlag abermals, die Hälfte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verließ das Haus, fand andernorts eine neue Beschäftigung, wählte das Risiko der Selbstständigkeit oder begab sich in die Unwägbarkeit des Arbeitslosendaseins.

Viele derjenigen, die den Umzug mitmachten, fanden sich am Samstag, den 28.08.2010 im Literarischen Colloquium Berlin ein, das sechzigjährige Jubiläum des Verlags zu feiern. Einen Ehrengast gab es dieses Mal nicht. Berlins Regierender hatte was anderes vor an diesem Tag, vielleicht wollte man aber auch bewusst den Ball flach halten. Schließlich ist das Sommerfest eine traditionelle, öffentliche Veranstaltung des LCB. Suhrkamp war hier „nur“ zu Gast. In ihrer Begrüßungsrede stellte die Verlegerin dann auch fest, dass ein 60-jähriges Jubiläum, anders als ein 50-jähriges, kein Anlaß sei für große Reden und große Gesten. Man sei vielmehr in der Sommerfrische. Nun, frisch war es.
Als die eigentlichen Jubiläumsveranstaltungen dürfen wohl das Eröffnungsfest Ende Januar in der Pappelallee, sowie die Verleihung des Siegfried-Unseld-Preises gelten.
Neben der Berliner Politprominenz fanden sich zu Jahresanfang, bei eisiger Kälte, natürlich auch die berühmten Autoren des Verlages zur Begrüßung in der Pappelallee ein, unter ihnen überraschenderweise auch Martin Walser.
Der im Zweijahresrythmus vergebene Siegfried-Unseld-Preis wird am Geburtstag des Verlegers, dem 28.09., verliehen. Ort der Preisverleihung ist der Amtssitz des Regierenden Bürgermeisters, das Rote Rathaus. Macht und Kultur verbinden sich hier also auf das Trefflichste. Da ist man dann wieder unter sich und die lokale Politprominenz wird sicher auch anwesend sein. Die Preisträger in diesem ersten Berliner Jahr des Verlages sind der palästinensische Autor Sari Nusseibeh und Amos Oz aus Israel.

Der Termin für das Sommerfest hätte besser nicht gewählt werden können. Der 28.8. ist Goethes Geburtstag, am 28.8.1990 hat Unseld die Autorin Ulla Berkéwicz geheiratet, Unselds Jaguar, sein bevorzugtes Fahrzeug, hatte das Kennzeichen F.SU.288. Ein Motorschaden soll diese legendäre Limousine mittlerweile stillgelegt haben.
Am Wannsee wurde die Berliner Politik von Kulturstaatssekretär André Schmitz vertreten, dem Mann, der dem Umzug des Verlags beharrlich den Weg bereitet hatte. Der Kurzzeitwirtschaftssenator Berlins, Gregor Gysi, war geladen, ein Gespräch zu führen mit Dietmar Dath, dem Metalfan, Vielschreiber, bekennendem Sozialisten und FAZ Autor. Der allerdings wurde angeblich von einem Unwetter an der Anreise nach Berlin gehindert. Geschäftsführer Thomas Sparr sprang ein, das Interesse war groß. Man hätte es gerne gehört, das Gespräch zwischen Gysi und Dath.


Das Wetter zeigte sich gnädig, es regnete nur selten, dann aber heftig. Stephan Thome sah bei seinem Vortrag nur die Regenschirme der verbliebenen Zuhörer.
Und der einsame Leser im Ruderboot erinnerte, bei Regen unter seinem Schirm, an Spitzwegs „Der arme Poet“.


Stephan Thome wollte nicht viel verraten über seinen neuen Roman, an dem er gerade arbeitet. Nur, dass er die mittelhessische Provinz dieses Mal verlassen wird. Und Detlef Kuhlbrodt zündete sich eine an und versuchte zu erklären, weshalb sein, schon lange in der edition suhrkamp angekündigtes, Buch Als ich einmal zwei Wochen nicht rauchte noch immer nicht erschienen ist.


Das Programm war dicht gedrängt an diesem Nachmittag am Wannsee. Cheflektor Raimund Fellinger stellte das ambitionierteste Projekt des Verlags vor, die Suhrkamp-Chronik, verfasst von Siegfried Unseld, angelegt auf 30 Bände.


Des Weiteren lasen Lutz Seiler, Doron Rabinovici, Judith Schalansky (von der bislang noch kein gedrucktes Wort bei Suhrkamp vorliegt), Ann Cotten und viele andere. Gegen 17 Uhr waren die Bratwürste alle und gegen 18 Uhr ließ sich die Suhrkampchefin, im schwarzen Geländewagen mit Frankfurter Kennzeichen, nach hause chauffieren. Das Fest ging weiter, Angela Winkler sang Brecht und als Abschluß legte Spiegelredakteur Tobias Rapp zum Tanz auf.
Es ist wieder Ruhe eingekehrt bei Suhrkamp. Das war die Botschaft dieses Tages. Man darf gespannt sein, wie lange.