Das besoffene Schwein oder Meine Berlinale

Die Berlinale ist zu Ende. Das freut, nein, erleichtert mich etwas. Die ausführliche Berichterstattung auf Radio Eins weckte wehmütige Erinnerungen an Zeiten, die ich selbst bei der Berlinale verbracht habe. Über Jahre war ich dabei, nahm eine Woche frei und ging ins Kino. Auch schon zu Zeiten, als das Festival rund um den Zoopalast und das Delphi-Kino in West-Berlin angesiedelt war. Um Karten habe ich mich nie im Vorverkauf bemüht. Für Filme aus den Panorama- oder Forum-Reihen bekam man meistens noch Tickets an der Kasse, ebenso für Wettbewerbs-Wiederholungen. Es genügte eine halbe Stunde vor Filmbeginn dort zu sein. Hin und wieder bekam ich dann auch mal eine Karte geschenkt von Leuten, die sie selbst nicht nutzen konnten. Eine Freundin war Kamerafrau und bei der Berlinale akkreditiert. Sie versorgte mich ebenfalls gelegentlich mit Freikarten. Das lief nach dem Zufallsprinzip. Sie bekam nur jeweils eine Karte pro Film und auch nur eine für zeitgleich laufende Vorführungen. Ich mußte mich also danach richten, was sie sehen wollte und wußte daher oft nicht, was mich erwartete. Auf diese Weise habe ich Filme gesehen, die niemals den Weg zu einem deutschen Verleih gefunden haben. Die meisten davon habe ich vergessen aber einige sind mir im Gedächtnis haften geblieben.

Am eindringlichsten erinnere ich mich aber an einen Dokumentarfilm, dessen Titel mir mittlerweile entfallen ist und den ich mir ohne die Berlinale sicher niemals angesehen hätte. Der Film stammte, so ich mich richtig erinnere, von zwei französischen Regisseurinnen, vielleicht waren es auch Engländerinnen. Er behandelte ein japanisches Internat, nicht irgendeins, sondern ein Internat, in dem Catcherinnen ausgebildet werden. In Japan scheint Frauencatchen eine angesagte Sache zu sein, bei der viel Geld im Spiel ist. Der Film begleitete die Frauen in ihrem Alltag, einem Alltag der geprägt war von Disziplin, Training und militärischen Drill. Sie wurden angebrüllt und gedemütigt, wie man es sich nur auf einem Kasernenhof vorstellen kann. Die Aufseherin, anders kann man es nicht sagen, war eine kräftige Frau mit kurzgeschorenen Haaren, die versuchte die künftigen Catcherinnen zu Kampfmaschinen zu erziehen. Die Dokumentation folgte einer jungen Kämpferin, die etwas zierlicher war als ihre Kolleginnen. Ihr Schicksal war exemplarisch. Dadurch, daß die Kamera immer sehr nah am Geschehen war, entwickelte der Film eine ungeheure Intensität, was unter anderem dazu führte, daß ich ihn auch nach Jahren noch sehr deutlich vor Augen habe. Die Ausbildung der Frauen, während der es kein Privatleben gibt, dauert ein Jahr. Nur eine Frau hat aufgegeben in der Zeit, alle anderen haben durchgehalten. Nach diesem Jahr werden die Frauen in ihre ersten Profikämpfe geschickt. Ich ertappte mich wie ich die Fäuste ballte, mit der Protagonistin mitfieberte und sie innerlich anfeuerte als sie erstmals im Ring stand: „Mach sie fertig, hau sie um, laß dich nicht unterkriegen, wehr dich…“. So in etwa lautete mein innerer Monolog. Sie hat den Kampf verloren.

Mein schönstes Kinoerlebnis habe ich ebenfalls der Berlinale zu verdanken. Es war das Jahr, in dem Detlev Bucks Film Wir können auch anders im Wettbewerb lief. Der Film bedeutete den Durchbruch für Joachim Król als Schauspieler. Meine damalige Nachbarin und gute Freundin kannte Król aus gemeinsamen Schulzeiten in Herne. Sie waren Jugendfreunde. Król besuchte sie als er mit dem Film bei der Berlinale war. Am nächsten Tag gab es für einige Freunde und Bekannte eine Privatvorführung von Wir können auch anders im Delphi-Kino. Ich durfte dabei sein. Es saßen vielleicht 17 Leute in dem riesigen Kinosaal, dabei auch Sophie Rois. Anschließend gingen wir mit einer kleiner Gruppe irgendwo was trinken, leider ohne Sophie Rois. Joachim Król plauderte ein bißchen aus dem Nähkästchen über die Entstehungsgeschichte des Films, zum Beispiel, wie sie versucht haben, das Schwein mit in Bier getränktem Brot ruhig zu stellen. Das sind die unvergesslichen Geschichten, die das Kino schreibt. Der Film ist bis heute eine meiner liebsten Komödien und der Satz „Gelder sind vorhanden“ gehört seither zu meinem aktiven Wortschatz.

Natürlich kann man das ganze Jahr ins Kino gehen, aber es ist die besondere Atmosphäre, die ein Festival wie die Berlinale zu etwas Besonderem macht. Morgens um neun sitzt man normalerweise nicht im Kino, bei der Berlinale schon. Und drei Filme schaut man auch nicht an einem Tag, bei der Berlinale schon (ich weiß, es gibt Leute, die schaffen fünf). Im Kinosaal herrscht eine besondere Spannung, die noch geschürt wird vom Festival-Trailer und der Musik. Und dann geht es los. Die Filme werden immer in Originalfassung mit englischen Untertiteln gezeigt und anschließend gibt es Applaus oder eben auch Pfiffe. Nach dem Abspann stehen Regisseure und Darsteller für Fragen zur Verfügung. In den Pausen zwischen zwei Filmen versucht man irgendwo einen Platz zu finden, wo man in Ruhe einen Kaffee trinken, oder was essen kann. Und dauernd begegnen einem Menschen, die man sonst nur im Kino oder im Fernsehen sieht. Nach drei Filmen, mehr hab ich nie geschafft, brauchte ich abends immer eine ganze Weile um mich wieder im Alltag zurecht zu finden. Die Berlinale, das war immer eine Woche in einem Paralleluniversum, ein Ausflug ins Ungewisse und Andere. Und das muß ich unbedingt mal wieder haben, vielleicht nächstes Jahr