Collage von Gerhard Pauly
Oft bin ich vorbeigefahren an diesem schmucklosen Platz im Frankfurter Stadtteil Bornheim. Längst stillgelegte Straßenbahnschienen und vielbefahrene Straßen machten aus der Kreuzung Saalburg-, Heide- und Neebstraße einen ungastlichen Ort. Auch das an der Saalburgstraße gelegene Lokal erweckte nicht den Eindruck, als sei es noch bewirtet. „Gaststätte Weida – Im Blauen Bock“ stand über der Eingangstür geschrieben. Graffiti zierte die Wände und Butzenscheiben verwehrten den Blick ins Innere des Wirtshauses.
Das schöne Buch „Beim Apfelwein“ (B3 Verlag, Frankfurt, 2008) verstärkte meine Zweifel. Der Autor Michael Tetzlaff schildert dort seine fünf vergeblichen Versuche, der „Gaststätte Weida“ einen Besuch abzustatten. Und doch schien es sicher, dass die Weida tatsächlich meistens geöffnet hatte und ihre Gäste bewirtete. Gerüchte machten die Runde, Gerüchte von der eigenwilligen Wirtin, die ihre Gäste nach Sympathie behandelte und den üblichen gastronomischen Gepflogenheiten so gar nicht zu folgen bereit war. Fremde könnten es dort schon mal schwer haben. Gleichzeitig wurde die Qualität der Küche gelobt.
Eines Tages lernte ich am Tresen der unweit gelegenen Gaststätte Klabunt den Herrn K. kennen. Der Herr K. war jemand, der tatsächlich in der Weida verkehrte und dort als der „Herr Micha“ bekannt war. Er lobte die Küche überschwänglich. Ich bat ihn, mich mal mitzunehmen in das mysteriöse Lokal, allein würde ich mich nicht reintrauen. Wir beschlossen das demnächst zu tun.
Die Kreuzung war mittlerweile zu einem tristen und namenlosen Platz umgestaltet, mit viel Beton, einigen Bänken und einer Handvoll Bäume, als ich erstmals die „Gaststätte Weida – Im Blauen Bock“ betrat. Ich wähnte mich umgehend in einem Museum, einem Kneipenmuseum. Hier zeigte sich jahrzehntelange Apfelweintradition, in den Bildern an der Wand, in dem Nippes, der überall herumstand, der absurden Ansammlung von Kleiderhacken an den holzgetäfelten Wänden. Die Deckenlampen waren von rustikaler Scheußlichkeit. Zusammengehalten wurde dieses volkstümliche Sammelsurium von der Wirtin.
Frau Wolf war eine stattliche Frau in weißer Kittelschürze, das üppige, rotgefärbte Haupthaar zu einem Dutt gewölbt, auf dem bei Bedarf auch die Brille stabilen Halt fand. Der Empfang des neuen Gastes war freundlich, wohl weil der „Herr Micha“ ihn begleitete. Es wurde Apfelwein bestellt, den ich nicht vertrug. Fürderhin blieb ich beim Bier. Das ging so lange gut, bis mir Frau Wolf bei einem meiner zahlreichen späteren Besuche ungefragt einen Bembel hinstellte. Widerstand war zwecklos und seitdem vertrug ich das Weida`sche Stöffsche auch. In der Weida wurde gegessen und getrunken, was auf den Tisch kam, und das war nicht unbedingt immer das, was man bestellt hatte. Auch musste der Gast Zeit mitbringen, wenn er die Weida besuchte. Frau Wolf ließ es sich nie nehmen, auf einen Plausch bei den Gästen Platz zu nehmen und den einen oder anderen Witz zu erzählen. Da musste manche Bestellung schon mal warten.
Die Speisekarte offenbarte keine Überraschungen. Deftige Hausmannskost war im Angebot, meistens mit Fleisch oder Wurst, Grüne Soße in allen Variationen. Vegetarier hatten es hier schwer, obwohl auch für Fleischverweigerer etwas zu finden war. Ich habe mich im Laufe der Zeit durch die Speisekarte gegessen. Alles war köstlich und der Spruch „Wie bei Muttern“ sollte geändert werden in „Wie in der Weida“. Der gelernte Metzgermeister Günter Wolf stand in der Küche und bereitete diese Köstlichkeiten zu. Es hieß, früher hätte er auch noch selbst geschlachtet.
Viele Geschichten und Anekdoten ranken sich um die Weida, die des weißen Frotteebademantels etwa. In der Herrentoilette stand eine Kleiderstange mit vielen Bügeln. Auf einem dieser Bügel hing ein weißer Frotteebademantel. Auf die Frage, woher dieser stamme, bekam man die Antwort, den hätte vor vielen Jahren ein Gast vergessen. Seitdem hing dieses Relikt auf der Kleiderstange in der Weida`schen Herrentoilette, wurde auch regelmäßig gewaschen. Eines Tages jedoch, es ist noch nicht allzu lange her, hing der Bademantel nicht mehr an seinem angestammten Platz. Auf Anfrage erzählte Frau Wolf die Geschichte einer Gruppe ihr unbekannter Männer, eines Junggesellensabschieds, die über das „Innernet“ („mir habbe des ja net“) in die Weida gefunden hätte. Es wurde ordentlich gegessen und getrunken, bis jemand aus der Gruppe – es konnte nicht ausbleiben – in den Bademantel gekleidet, von der Toilette zurück kam. Er bot € 100,- für das gute Stück. Das wollte die Frau Wolf dann aber doch nicht annehmen. Schließlich hätte die Gruppe die Zeche dann auf den nächsten Hunderter aufgerundet und durfte das Frotteesouvenir mitnehmen. So ging dieses unscheinbare Stück Weida`scher Geschichte für ca. € 39,20 über den Tresen. Es war, als hätte man die Quadriga vom Brandenburger Tor geschraubt.
Vielleicht war der Verkauf des Bademantels aber auch schon ein kleiner Schritt in Richtung Abschied. Vor über fünfzig Jahren hat Brigitte Wolf erstmals in der Gaststätte ihrer Eltern mitgeholfen, später dann mit Ihrem Ehemann Günter Wolf die „Gaststätte Weida – Im Blauen Bock“ geführt und damit ein Stück Frankfurter Gastronomiegeschichte geschrieben. Manch einer der weißhaarigen Gäste hat über all diese Jahre seinen Schoppen bei den Wolfs getrunken.
Ende Juli waren die Stammgäste geladen, um an zwei Abenden Abschied von den Wirtsleuten und ihrer „Gaststätte Weida – Im blauen Bock“ zu nehmen. Für lächerliche zwölf Euro durfte man trinken und essen was die Küche noch hergab. Zum Schluss wurden Autogramme verteilt.
Der Abschied verlief ohne Wehmut. Die Wolfs haben einen Nachfolger gefunden, der den Charakter der Weida nicht verändern will. Angesichts der sich überall epidemisch ausbreitenden Läden, die kalten Fisch, gefrorenen Joghurt oder Blasentee feilbieten, hat er einen wichtigen Job zu erledigen. Viel Glück!
Und dem Ehepaar Wolf kann man nur danken für fünfzig Jahre „Gaststätte Weida – Im blauen Bock“ und noch schöne, erfüllte und stressfreie Jahre wünschen.