Spaziergangstagebuch 9

Auf dem Hölderlinpfad von Bad Homburg nach Frankfurt.

16.06.2022

Schon seit einiger Zeit habe ich vor gehabt, diesen 22 km langen, ausgeschilderten Pfad auf den Spuren Hölderlins zu gehen. Und ich wollte ihn genau in dieser Richtung gehen, von den Hängen des Taunus nach Frankfurt, die Skyline im Blick. Es ist der erste geführte Spaziergang in diesen Tagebüchern. Das Wetter war perfekt, das Neuneuroticket ermöglichte eine preiswerte Anreise. Die geschenkte Thermostasche einer Freundin kam erstmals zum Einsatz. Sie ist gut für Picknick geeignet, Gläser und Teller (aus Kunststoff) ebenso vorhanden wie Bestecke und Servietten. Ich befüllte eine halbliter Wasserflasche mit Riesling, eine andere mit Wasser, kaufte ein Stück Fleischwurst, zwei Brötchen, packte Senf und einen Apfel dazu und los ging es. Zunächst verpasste ich die U-Bahn, musste daher eine halbe Stunde an der Konstablerwache auf die nächste S-Bahn warten. Es war Fronleichnam, dieser überflüssige Feiertag. Auf dem Plateau der Konstablerwache standen etliche Buden, Flohmarkt. Wie hässlich doch dieser Platz ist, wenn kein Markttag ist, dachte ich. Aber ich konnte mir mit diesem Flohmarkt etwas die Zeit vertreiben. Flohmärkte locken mich meist nicht.

Dann war ich endlich in Bad Homburg. Der Pfad beginnt am Bad Homburger Schloss in der Innenstadt. Darauf verzichtete ich, er führt auch unmittelbar am Bahnhof vorbei.

Schnell entdecke ich den ersten markanten, von Hans Traxler gezeichneten, Wegweiser. Zunächst wird der Spaziergänger durch ein Industriegebiet geleitet, hinter den Zweckbauten Kirch- und Schlossturm der Stadt zu sehen. Ab dem Ausfluglokal Kronenhof, es gibt hier ein gutes, selbst gebrautes Bier, geht es für die nächsten Kilometer über landwirtschaftliche Wege durch Felder und Wiesen. Rechts der Taunus, am Horizont die Frankfurter Skyline. Nirgendwo Schatten oder eine Bank, auf der es sich rasten ließe. Der Weg passiert einen Tierfriedhof. Noch nie hatte ich eine solche Ruhestätte für des Menschen beste Freunde gesehen. Er war liebevoll gepflegt.

Es war heiß, die am Vortag gekaufte Sonnenschutzcreme hatte ich vergessen, nicht jedoch den kürzlich erworbenen Schlapphut. In Kombination mit einem weißen Leinenhemd war es jedoch sehr gut zu ertragen. Der Hut war meine beste Anschaffung der letzten hundert Jahre. Ohne ihn wär´s mir nicht gut ergangen. Hölderlin trug auf seinen monatlichen Gängen nach Frankfurt sicherlich auch einen Hut. Es heißt, er hätte die Strecke in drei Stunden zurückgelegt und sei am selben Tag wieder zurück gegangen. Diese Strapazen nahm er nur in Kauf, um seine Geliebte Susette Gontard zu sehen und gegenseitig die Briefe des letzten Monats auszutauschen. Hölderlin war Ende des 18. Jahrhunderts bei der Kaufmannsfamilie Gontard als Hauslehrer beschäftigt. Als sich zwischen der Dame des Hauses, Susette (Suzette), und ihm eine Liason anbahnte, blieb das dem Hausherren nicht verborgen. Er feuerte Hölderlin umgehend. Dieser fand Aufnahme bei einem Studienfreund in Bad Homburg. Susette (Suzette) Gontard ging als Diotima in die Literaturgeschichte ein. Sicher ist, dass Hölderlin nicht den gleichen Weg nutzte, den ich jetzt ging. Damals sah die Landschaft noch völlig anders aus. Es gab keine Auto- und Eisenbahn, keine asphaltierten Wege, keinen Stadtteil Riedberg und keine Frankfurter Skyline. Der Hölderlinpfad versucht daher, den Wegen des Dichters annähernd zu folgen.

Ich hoffte auf eine Sitzgelegenheit, am besten mit einem Tisch. Aber es sollte dauern. Erst im neuen Stadteil Riedberg, von dem ich bislang viel Schreckliches gehört habe. Dort war ich hingegen noch nie. Ich fand, von Norden kommend ein einladendes Viertel, ganz offensichtssichtlich für junge, und wohlhabende, Familien mit Kindern geplant. Die Vielzahl von Spielplätzen deutete darauf hin. Außerdem viel Grün, große Insektenwiesen und ein kleiner Park mit einem Weiher, Kätcheslachpark, so der merkwürdige Namen der Grünanlage. An einem der Spielplätze fand ich eine Bank, leider nicht im Schatten und ohne Tisch. Aber egal, ich wollte etwas rasten, essen und trinken. Dort machte ich mein Picknick, aß Wurst, trank Wasser und Wein. Das tat gut. Nach einer Dreiviertelstunde gings weiter.

Zunächst verlor ich den Pfad, hatte einen Wegweiser übersehen. Das gehört dazu, Verlaufen ist ein Charakteristikum von Spaziergängen. Wer nicht geht, kann sich auch nicht verlaufen. So lernt man die Welt kennen, quasi allein auf sich gestellt. Ich fand den kleinen Umweg durch diesen Teil von Riedberg durchaus interessant und freute mich an dem schönen ruhigen Weg durch hohe Insektenwiesen. Dann kehrte ich um und begab mich wieder in die wohlbehütete Obhut von Herrn Hölderlin, bzw dem nach ihm benannten Pfad. Grün ging es weiter bis zum alten Flugplatz Bonames. Dieser, seit 30 Jahren stillgelegte Flugplatz ist Teil des Frankfurter Grüngürtels, der sich rund um die Stadt zieht. Er wurde einst von der amerikanischen Armee genutzt, bis er 1992 stillgelegt wurde. Bis vor einigen Jahren gab es dort ein schönes Restaurant, in dem sozial benachteiligte Jugendliche beschäftigt wurden und eine Ausbildung machen konnten. Jetzt ist dort nur noch ein Kiosk zu finden, mit dem entsprechenden Angebot. Getränke aus Flaschen, Eis, Bratwurst und den schlechtesten und teuersten Apfelwein Frankfurts. Ein dünnes Gesöff, mit Wasser gespritzt, kostet drei Euro. Es versteht sich, dass er nicht geschmeckt hat. Aber ich konnte an einem Tisch sitzen und ein Klo gabs auch.

Nach kurzem Stopp setzte ich meinen Weg fort. Zunächst sehr schön am Uferweg der Nidda bis es dann nach rechts ging in Richtung Innenstadt. Den schönsten Teil des Pfades hatte ich hinter mir. Jetzt folgte städtische Ödnis, und gelegentlich verlor ich den Weg. Die Wegweiser waren mal auf der einen Seite der Straße angebracht und dann wieder auf der anderen. Ich folgte also der Homburger Landstraße und landete irgendwann auf der Eschenheimer Landstraße. Ab hier kümmerte ich mich nicht mehr um irgendwelche Hinweise, sondern ging geradeaus bis zum Hauptfriedhof. War nicht mehr weit bis Bornheim. Der eigentliche Hölderlinpfad endet am Goethehaus, wieso auch immer. Ohne Goethe geht’s nicht in Frankfurt. Den Hauptfriedhof hatte ich schon oft gequert, freilich ohne ihn gut zu kennen. Stattete Siegfried Unseld einen Besuch ab und entdeckte das neu aufgeschüttete Grab von Emil Mangelsdorff, dem kürzlich verstorbenen Jazzmusiker. Anschließend zum Hauptfriedhof geht’s durch die Grüne Lunge, dieser grünen Oase am Rande des Günthersburgparks. Die einst geplante Bebauung dieses Areals liegt nach dem Wahlsieg der Grünen bei der letzten Kommunalwahl glücklicherweise auf Eis. Durch den Günthersburgpark mit seinen vertrockneten, braunen Wiesen gehe ich weiter nach Bornheim. In der Gaststätte Weida schmeckt das kalte Bier besser als sonst.

Spaziergangstagebuch 6

21.01.22

Von Ost nach West.

Schon seit einiger Zeit habe ich vor, das abseits aller meiner Wege gelegene, sogenannte „Europaviertel“ im Frankfurter Westen zu erkunden. Der konkrete Anlass war ein neues Hochhaus an der Messe, das fast fertig ist. Mehr dazu später. Gutes Spaziergangswetter an diesem Freitag. Sonne-Wolken-Gemisch, kühl und trocken. Die Platanen warfen lange Schatten auf die erfreulich breiten Gehwege an der Wittelsbacher Allee. Selbst die Autohölle zeigte sich freundlich. Bei Camino stärkte ich mich mit einem Cappucchino. Dann zunächst durch die mir sehr vertraute Gegend, vorbei an einem kämpferischen und auch amüsanten Graffitti, Richtung Nordend spaziert. Der Aufforderung von Peng kann ich leider nicht nachkommen. Wie so oft gibt es auch hier in manchen Höfen Kleinode zu entdecken.

Die Balkonbrüstungen am Grünen Haus an der vierspurigen Nibelungenallee erinnern mich an Frontscheiben von DDR-Bussen. Keine Ahnung weshalb. An der dort gelegenen Fußgängerampel wartete ich neben einer jungen Frau bei Rot. Es war nicht nötig, kein Auto in Sicht. Ich hatte es nicht eilig. Ein Passant kümmerte sich nicht um die Ampel und querte von der anderen Seite. Auf unserer Höhe raunte er „Lasst euch nicht impfen, geht bei Rot!“. Er muss sich sehr rebellisch gefühlt haben. In der Egenolfstraße warten eine ausgesetzte kleine Vase und ein Kerzenständer auf neue Besitzer. Ich hatte kein Interesse, aber durchaus gelegentlich von derartig freigelassenen Dingen am Wegesrand profitiert. Erst unlängst kam so ein kleiner Klapphocker in meinen Besitz, der jetzt im Bad eine sinnvolle Verwendung gefunden hat.

Ich werde etwas wehmütig, bin ich doch durch Nordendstraßen unterwegs, die ich gerne auf meinen Gängen zur Nationalbibliothek genutzt habe. Nichts vermisse ich mehr, als die spontanen, jederzeit möglichen Besuche in der Bibliothek, und die Spaziergänge dorthin. Das war vor Corona. Heutzutage muss man sich ein Woche vorher anmelden und dann auch noch ein Zeitfenster wählen. Das passt überhaupt nicht in mein Leben. Ein verlassener Balkon im Erdgeschoss, bunte Abdrücke von Kinderhänden neben toten Fenstern erinnern an Leben.

Bereits im Westend. Bin jetzt auf Straßen unterwegs, auf denen ich damals zum Suhrkamp Verlag geradelt bin. Die Wehmut steigt. Damit hatte ich nicht gerechnet. So vieles ist mir vertraut. An der Straße Im Trutz weisen zwei merkwürdig geformte Sitzmöbel auf im Gebäude dahinter arbeitende „Design Offices“. Ein Stück am Grüneburgweg, kurzer Stopp für einen Blick in das Schaufenster der guten Buchhandlung Marx & Co. Die Straße soll im Laufe des Jahres zu einer fahrradfreundlichen Nebenstraße umgestaltet werden, wie auch einige andere. Im Hintergrund das ehemalige IG Farbenhaus. In Frankfurt noch immer der meist genannte Namen für das Gebäude. Nicht etwa Goethe Universität, die dort seit einigen Jahren untergebracht ist. Erbaut wurde dieses mächtige Gebäude von Hans Poelzig in den Jahren 1928 – 31. Sicherlich ein Vorbild für die Nazis und ihre Vorstellung von Architektur, der Flughafen Tempelhof ist dafür ein gutes Beispiel. Ich mag es, aber ich mag auch den Flughafen Tempelhof.

In der großbürgerlichen Friedrichstraße empört ein offensichtlich schon länger dort stehendes Auto andere Autofahrer. Er blockiert wohl zwei Parkplätze. Das ist es, was Autos gemeinhin so tun, Plätze blockieren. Am Palmengarten vorbei, war lange nicht da. In der Siesmeyerstraße linkerhand die Villa Bonn. Ende des 19. Jahrhunderts für den Bankier Wilhelm Bernhard Bonn gebaut. In meinen Anfangszeiten bei Suhrkamp Anfang der zweitausender Jahre fanden dort Empfänge und Buchhändlerabende statt. Das hörte zum Glück bald auf, ich habe das Gebäude gehasst. Erdrückend, bombastisch, es fehlten noch einige Hirschgeweihe an der Wand oder gar exotischere Trophäen. Schließlich die Mendelssohnstraße, ich nähere mich der Messe, Hochhäuser weisen den Weg. Gegenüber der Festhalle fristet ein stattliches aber totes Gebäude ein tristes Dasein. Das Dach war saniert, sonst nichts. Keine Anzeichen davon, es wieder zum Leben zu erwecken, nirgends. Der Hammering Man tut zuverlässig, was er tun muss. In der Festhalle holte ich im April 2021 meine erste Impfung ab, Astra.

Dann das neue Hochhaus. Es gefällt mir. Die Fassade interessant gerastert, und natürlich der kesse Überhang oben. Kleinigkeiten, die so viel bewirken. Es hat alle Chancen mein Liebling in der Skyline zu werden. Das Europaviertel ist nahe. Vorher Skyline Plaza angesteuert, erstmals. Im Hintergrund lauert Halle 3 der Messe, in der sich im letzten Jahr das Messegeschehen hauptsächlich abgespielt hat. Im Einkaufszentrum Cappucchino und Muffin zur Stärkung. Hat geschmeckt, die Bedienung war freundlich. Viel los war dort ansonsten nicht. Dann der Schock. Ich wusste ja, was mich erwartet, aber mitten drin zu sein ist schon was anderes. Die Europallee, im Volksmund längst „Stalinallee“ genannt. Sehr treffend. Der Begriff stammt wahrscheinlich von Dieter Bartetzko, dem leider viel zu früh verstorbenen Architekturtheoretiker, Kritiker und Autor der FAZ. In seinem Buch „Architekturstadt Frankfurt“ von 2014 hat er ihn für diese „Allee“ verwendet, zurecht. Ich denke nur, wie kann man so etwas bauen? Eine 60 Meter breite Straße, gesäumt von gleichförmigen und leblosen Kästen, leblos wie das ganze Viertel. Wenn die U-Bahn fertig ist, wird es wahrscheinlich mehr Grün geben, viel wird das nicht ausrichten. Ein Boulevard wird das nicht werden. Im Hintergrund überragt Halle 3 wie ein gigantisches Raumschiff oder ein Kreuzfahrtriese das Grauen.

Dann ein erlösender Blick nach links. Dort ist Leben, im Europaviertel nicht. Das Gallus, direkt nebenan. Vergleichbar mit Neukölln in früheren Jahren, jetzt die Verlockung. Das Kölner Eck ein Hoffnungspunkt. Ich gehe weiter. Hinter der Eisenbahnbrücke drehe ich um und fliehe. Ins Gallus. Gegensätze wie zwischen Ost und West. Mein Sympathien sind klar verteilt. Ich fühle mich regelrecht befreit, atme freier. Ein wenig Eisenbahnromatik tröstet das Auge. In einem unscheinbaren, nicht sehr gepflegten Gebäude, direkt an der „Mauer“ wie damals in Berlin gesagt wurde, verbirgt sich ein unvermuteter Galvanikbetrieb. Vor dem Kölner Eck freut sich ein einsamer Zecher an seinem Bier. Wieder unter Menschen.

In der Frankenallee ein gelber Gitterkäfig, ein Bolzplatz. Vor vielen Jahren habe ich dort auch mal gekickt, für etwa zwei Minuten. Länger hat mich die Trainerin nicht eingewechselt. Es ging gegen eine Kneipenmannschaft. Aber Fußball war da eher nebensächlich. Hauptsächlich wurde Bier getrunken und gelacht. Das nahe gelegene Wasserhäuschen freute sich über den Umsatz. Organisiert hatten das Ganze Jürgen Roth, der in der Nähe wohnt, und der Wirt einer griechischen Kneipe. Es war ein schöner und sehr lustiger Nachmittag. Roth hat über dieses „Spiel“ einen Artikel auf der Wahrheitsseite der TAZ untergebracht.

Ich bin auf dem Rückweg durch das Westend und mache einen Abstecher in die Lindenstraße. Die gigantische Gründerzeitvilla beherbergte in der Nazizeit Frankfurts Gestapozentrale. Eine Gedenktafel erinnert daran. Heute dient die Villa einer Bank als Geschäftssitz. Direkt daneben stand einst das Suhrkamphaus. Ein, wie ich fand, ganz schöner sechziger Jahre-Bau. Durchaus sanierungsbedürftig, aber gelungen. Ich habe in dem Gebäude einige gute Jahre verbracht. Ein Investor hat sich für Abriss und Neubau entschieden. Seit dem steht dort ein Gebäude mit Tiefgarage und teuren Eigentumswohnungen. Den Abriss des Suhrkamp-Gebäudes habe ich damals einen Monat lang zweimal täglich dokumentiert Einen Schwung Wehmut nehme ich noch mit, dann geht’s weiter durch den Kettenhofweg. Adorno wohnte hier einst. Soll auch in diesem Jahr in eine fahrradfreundlich Fahrradstraße umgestaltet werden.

Auf dem Opernplatz, dem Ort, an dem Frankfurt versucht, wie Paris auszusehen, erfreut ein Seifenblasenjongleur einige Kinder. Es ist Freitag, auf der Schillerstraße ist Wochenmarkt. Ich gönne mir ein Kochschinkenbrötchen von Schinken Becker und trinke bei Schoppe Otto heißen Apfelwein dazu. Es war besser als das Photo. Füllhalter Haizmann leider auch Vergangenheit, leere Fenster und auch kein überdimensionierter Montblanc Füller mehr, der zu Werbezwecken die Fassade zierte. Ich bin froh, ihn noch photographiert zu haben. Bald bin ich wieder in Bornheim.

Spaziergangstagebuch 5

29.12.21

Verregnete Nachtwanderung nach Offenbach.

Lange habe ich überlegt, ob ich losgehen soll. Das Wetter zeigte sich unfreundlich, immer wieder Regen. Es sind gute sieben Kilometer nach Offenbach. Stell dich nicht so an, sagte ich mir, schließlich hast du schon mal bei strömendem Regen mit dem Rad einen Alpenpass erklommen und dich dabei sehr gut, sogar euphorisch, gefühlt. Derart motiviert zog ich die Timberlands an (ich müsste sie dringend mal einfetten). Mit Regenjacke, Schal und Mütze konnte nichts passieren, zumal der Regen auch vor Kurzem aufgehört hatte. Kaum war ich aus dem Haus, später als geplant, das Telefon verlangte nach einer Ladung, fing es an zu regnen, aber nicht sehr stark. Mütze auf und los ging`s.

Ich hatte mich seit Tagen auf diesen Spaziergang gefreut, endlich war es soweit. Und gefreut habe ich mich besonders auf das Wiedersehen mit M, die in OF wohnt und kürzlich Geburtstag hatte. Meiner ist auch noch nicht so lange her. Darauf wollten wir anstoßen und Bescherung machen. Geschenke hatte ich wasserdicht verstaut.

Auf dem Festplatz tanzte ein Kran über dem Zirkus, der dort sein mächtiges Zelt aufgeschlagen hatte. Typische Musik drang nach außen. Wann war ich zum letzten Mal im Zirkus? Ich kann mich nicht erinnern. Am Röderbergweg oberhalb des Ostparks begegnete mir das Glück des Spaziergängers, und zwar in Gestalt eines Umzugkartons voller Schallplatten. Daran komm ich nicht vorbei. Der Inhalt war nicht allzu nass geworden und der Ertrag erfreulich. Zwei Alben von Police, eines von Prince, sowie eines von Spliff.* Die Achtziger grüßten. Neben dem Karton ein alter, kleiner Fernseher, bunt bemalt. Eine Hippieglotze. Hier wurde ein Jugendzimmer entrümpelt. Was andere wegschmeißen, erfreut wiederum manches Herz. Die Nacht (genau genommen war es früher Abend) hat ihren eigenen Reiz. Straßen und Hauseingänge verwandeln sich in geheimnisvolle Orte, das Leben hat sich in die Häuser zurückgezogen. Ich denke an Harry Potter, obwohl ich das nie gelesen habe. Aber ich stelle mir vor dass es bei Potters ähnlich aussieht. Am Ostbahnhof wird der Regen stärker, ich überlege die U-Bahn zu nehmen, denke an den Alpenpass und gehe weiter.

Selbst die Skyline versteckt sich im Dunst. Gefällt mir gut. Ohnehin schätze ich Photos der Skyline am meisten, wenn diese gar nicht zu sehen ist. Auch Familie Montez, Café, Club und Kunstort, wirkt verzaubert und verlockend. Ich habe Lust einzutreten, aber M wartet. Ein anderes Mal. Auch Honsel- und Osthafenbrücke zeigen sich festlich. Über die mächtige Deutschherrnbrücke rollt ein ICE stadtauswärts ins Nirgendwo. Es ist sehr dunkel am Mainweg, der Fluss flimmert. Ich gehe ganz rechts, bin dunkel gekleidet. Das kenne ich von manch nächtlicher Fahrt mit dem Rad. Oft sind andere erst im letzten Moment zu sehen. Aber es ist nicht viel Verkehr auf dem Uferweg, die Lage ist entspannt. Alle paar Meter bleibe ich stehen, um zu photographieren.

Die Nacht lässt mich nicht los. Einige Photos werden unscharf, haben aber wegen des Lichts trotzdem ihren Reiz. Ein Hotelschiff schwebt in die Kammer der Staustufe Offenbach. Die Gerbermühle in weihnachtlichem Gewand. Kurz darauf das Tor zu Offenbach, die Kaiserleibrücke. Sie wäre die kürzeste Verbindung von mir zur Nachbarstadt (Nein, ich schreibe nicht Verbotene Stadt. Offenbach-Bashing mache ich nicht mit.), aber ich hasse diese Brücke. Eine Autobahnbrücke, die zwar beidseitig einen Weg für Leute mit Rad oder Füßen bereithält, der ist aber gräßlich, ich habe es ein paar Mal versucht. Mittlerweile nehme ich gerne den Umweg über die Osthafenbrücke in Kauf, auch wenn mich das viel Zeit kostet. Gleich hinter dieser Brücke findet sich linkerhand am Mainufer ein grauer, unförmiger Klotz. Nichts deutet darauf hin, was sich hinter diesen Mauern verbergen könnte. Es ist nichts anderen als einer der berühmtesten Technoclubs der Welt, das Robert Johnson. Ein solcher Club braucht keine Transparente oder Leuchtschriften. Ich war nie drin, aber das liegt daran, dass ich ein alter Sack bin und Techno nicht meine Musik ist. Ein paar Meter weiter am Ufer der Hafen 2, ein städtischer Kulturort, gefördert von der Stadt. Konzertsaal, Kino, Café, Kneipe, Biergarten, Open-Air-Bühne, ein Lieblingsort. Viele junge Leute, die anderswo keinen Job finden, bekommen hier eine Aufgabe. Die Lichtkunst am Kohlekran, der noch in Betrieb ist, erleuchtet das Ensemble. Nachts haben sogar die einfallslosen Eigentumskisten am neuen Offenbacher Hafen ihren Reiz. An der Treppe, im Sommer ein beliebter Treffpunkt, schreibe ich M eine Nachricht, dass ich bald da bin. Vorbildlich dann ein kurzes Stück weiter die getrennten Wege für Radler und Fußgänger, auch wenn sich nicht alle dran halten. Am Mainstrand versammelten sich etliche Graugänse und Schwäne zu einem abendlichen, lauten und vielstimmigen Konzert. Kurz darauf heißt mich Offenbach willkommen.

Auf dem Wilhelmsplatz ein Grüppchen von etwa 15 Leuten, sie stehen rum, reden miteinander, keine Transparente, keine Fahnen. Aus dem Lautsprecher schallt leise „We Shall Overcome“, Querschläger. Sie dürfen hier nirgendwo rein, überall 2G. Ich gehe zu Beau d`Eau, zeige Nach- und Ausweis, bestelle ein Bier und rufe M an. Kurz darauf kommt sie, trinkt ein kleines Pils.

Sie hat für uns das Tarantino`s ausgesucht. Einverstanden. Ein etwas edlerer Italiener, weiße Tischdecken, Stoffservietten zu Alpengipfeln getürmt. Normalerweise nicht mein Fall, aber es wurde ein schöner und kulinarisch durchaus befriedigender Abend. Er begann mit einem Martini als Aperitif, dann Vor- und Hauptspeise, Lugana dazu. Später, nachdem auch dieser Gipfel bezwungen war, einen Espresso nebst Grappa. Ein weiterer folgte beim Bezahlen. Zwischendrin Bescherung zu beiderseitigem Vergnügen und Gefallen. Alles gut. Der Abend endete in Willy`s Bar. Kurz nach Mitternacht brachte mich der 103er zuverlässig und schnell fast vor die Haustür.

Spaziergangsbeute

* Die Platten mittlerweile gehört. Sie wurden pfleglich behandelt und sind in einem erstaunlich guten Zustand.

Spaziergangstagebuch 4

03.12.21

Vom Ernst-May-Platz zum Schillermarkt und zurück.

Der Wind hat schlechte Laune

Ein grau-kühler Herbsttag, sehr windig aber trocken. Warm anziehen, dann los. Die Wittelsbacher Allee ist Teil der Ernst-May-Siedlung in Bornheim Ost, gleich am Bornheimer Hang. Es gibt über Frankfurt verteilt mehrere dieser Siedlungen, alle nach deren Baumeister Ernst May, dem damaligen Stadtbaudirektor der Stadt, benannt. Entstanden sind sie in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Bekannt sind diese Siedlungen unter dem Begriff „Das neue Frankfurt“. Ich wohne in einem solchen Haus und weiß es zu schätzen, auch wenn meine Wohnung von May nicht als eine solche geplant wurde, sondern als Mansarde.

Wie immer ist die Kreuzung Freiligrathstraße / Fechenheimer Straße zugeparkt. Das ist hier immer so in der Autohölle Freiligrathstraße. Kein Baum, aber alles voll mit parkenden Autos. Menschen mit Rollstuhl, Kinderwagen oder Rollator haben hier große Probleme, die Straße zu queren. Vor einigen Jahren gab es eine Nachbarschaftsinitiative, die versuchte, etwas Grün in die Straße zu bringen. Das wäre nur auf Kosten von Parkplätzen gegangen. Das Geschrei war groß, die Leute wollten lieber parken statt wohnen. Der einzige Lichtblick in dieser öden Straße ist die Jazz- und Chansonbar Mosaik mit ihrem wunderbaren, liebenswerten Wirt. Sie liegt an dieser Kreuzung.

In der Fechenheimer Straße wurde im Juni 1927, also jenem Jahrzehnt, in dem das Neue Frankfurt entstand, der Gangsterboss und Bestsellerautor Henry Jaeger geboren. Er war der Chef der berüchtigten Jaeger-Bande, die in den frühen Fünfziger Jahren mit Einbrüchen und Raubüberfällen die Stadt in Atem hielt. Im Dezember 1954 überfiel die Bande eine Rentenzahlstelle der Post im Oeder Weg. Damals wurden die Renten in bar ausbezahlt. Sie erbeuteten 80000 Mark, eine riesige Summe. Allerdings hatten sie nichts von ihrer Beute, denn die Bande wurde geschnappt und die Mitglieder später zu jeweils 12 Jahre Gefängnis verurteilt. Im Knast fing Jaeger an mit Bleistift auf Klopapier einen Roman zu schreiben. Der Gefängnispfarrer schmuggelte das Manuskript nach draußen und fand tatsächlich einen Verlag. Außerdem besorgte er eine Praktikumsstelle für Jaeger bei der Frankfurter Rundschau. Aufgrund dieser positiven Sozialisierungsprognose wurde er von Bundeskanzler Adenauer begnadigt. Der Roman erschien 1962 unter dem Titel „Die Festung“ und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Die Verfilmung unter dem Titel „Verdammt zur Sünde“ mit Hildegard Knef und Martin Held in den Hauptrollen, war ebenfalls sehr erfolgreich,. Jaeger wurde berühmt und reich, diesmal auf legale Weise. Seinen Reichtum kostete er in einer Künstlerkolonie in Ascona aus und feierte ausschweifend mit schönen Autos und schnellen Frauen. Weitere Bücher waren weniger erfolgreich. Jaeger starb verarmt im Dezember 2000 in einem Frankfurter Armenhospiz.

Gleich nebenan hat die Gaststätte Henscheid, Nachfolger des legendären Wirtshauses Klabunt in der Berger Straße, an diesem frühen Nachmittag ihre Pforten noch geschlossen.

Die Roßdorfer Straße ist im Vergleich mit der Freiligrath ein Paradies. Wenig Durchgangsverkehr, einige Bäume auf einer Seite und recht ruhig. Alles ok für eine städtische Straße und doch mag ich sie nicht. Bis heute habe ich nicht ergründen können weshalb. Aber auch hier gibt`s interessante Einblicke hinter die Kulissen. Diese Höfe, noch dazu wenn sie nicht zugänglich sind, machen neugierig, sie bergen Geheimnisse und Geschichten.

Im Sandweg sagt ein kleiner Junge, bevor er in das Lastenrad klettert, zu seinem Vater: Der Wind hat schlechte Laune. Das klingt vielleicht absurder als es ist. Tatsächlich hat der Wind sehr viele Eigenschaften. Bei Jimi Hendrix kann er einen Namen flüstern, schreien und kreischen, Mary. Und bei Ruiz Zafon hat er sogar einen Schatten. Ich gehe durch eine enge, unansehnliche Straße, in der ein einsames Bäumchen vergeblich gegen die Tristesse anzukämpfen versucht. Es ist die Seumestraße. Ich hätte dem großen Spaziergänger und Schriftsteller eine repräsentativere Adresse gewünscht. Vor dem Testzentrum am Merianplatz warten drei Leute auf ihren Schnelltest.

Ich komme in die Stephanstraße, zwischen Zeil und Bleichstraße gelegen. Dort gehe ich gerne, breite Gehwege, viel Grün und keine Parkplätze. Ein Obdachloser zieht seines Weges, den Kopf gesenkt, über der Schulter eine große, gefüllte IKEA Tasche. Er brummelt vor sich hin, vielleicht seinen Welthass. Auf dem angrenzenden Peterskirchhof, städtische Begräbnisstelle seit dem 15. Jahrhundert, haben Goethes Eltern ihren letzten Ort gefunden, getrennt für alle Ewigkeit. Wobei Goethes Mutter „umgezogen“ ist, und inzwischen auf dem Hof der benachbarten Schule liegt. Und dann gibt es direkt nebenan ein ausgesprochen schönes neues Gebäude mit einer Backsteinfassade zu entdecken. Ist ja nicht allzu oft so zu finden in Frankfurt.

Auf dem nahe gelegenen Markt an der Schillerstraße bei Schinken Becker ein Brötchen mit Kochschinken erstanden. Wollte bei Schoppe Otto einen heißen Apfelwein dazu trinken, aber sein angestammter Standort war an diesem Tag verwaist. Schade. An der benachbarten Hauptwache standen einige Buden des diesjährigen Weihnachtsmarktes, der sich über die halbe Innenstadt zieht. Dort würde ich einen heißen Schuppen bekommen. Es galt Maskenpflicht, nicht aber am Schillermarkt. Weshalb entzieht sich der Logik. Zunächst aber in das Schuhgeschäft hinter der Katharinenkirche. Ich brauchte dringend gute Schuhe für den Winter. Es war klar, ich musste nicht überlegen, es sollten wieder (Achtung Reklame) die bewährten Timberlands sein. Fünf Minuten später war ich wieder draußen, die begehrten Schuhe ohne Karton im Stoffbeutel. Jetzt also heißer Apfelwein. Nach einer Weile entdeckte ich in einer Ecke einen Stand der Kelterei Possmann. Ich hatte es befürchtet. Aber was anderes gab`s nicht, also dort einen quitschsüßen, aber immerhin heißen Schoppen, getrunken. Das Schinkenbrötchen dazu verzehrt. Wenigstens gewärmt ging es zurück.

Immer wieder ein Lichtblick, das Wasserhäuschen Fein in den Wallanlagen an der Petersstraße. Ein stets gern angesteuerter Rastpunkt. Dort bestellte ich einen Cappuchino und zog meine neuen Schuhe an. (Achtung Reklame) Timberlands sind perfekte Schuhe für alle, die viel zu Fuß unterwegs sind. Total uncool, aber sehr bequem, stabil und haltbar. Sie passen sich an und mit der Zeit entwickeln sie so etwas wie einen eigenen Charakter. Anziehen, wohlfühlen und losgehen. Sie sind natürlich nicht ganz billig, aber ich bin zu arm, um billige Schuhe zu kaufen. Mit warmen Füßen geht`s zurück nach Bornheim. In der Scheffelstraße erinnern Stolpersteine an die Familie Strauss, der es gelungen ist 1937 nach Uruguay zu fliehen. Das hat was tröstliches. Am Merianplatz schaue ich in ein erleuchtetes Zimmer im Erdgeschoss. Platten, viele CDs, Bücher und Musikinstrumente, ein Keyboard und zwei Harfen, zieren die Wände.

Die Füße sind warm, der Rest nicht. Überall zieht es rein, ich friere. Der Wind hat schlechte Laune.

Spaziergangstagebuch 3

10.11.

Vom Ernst-May-Platz zum Goetheturm und zurück

Ein Tag wie ihn nur der Herbst zustande bringt. Herbstlaub raschelt unter den Füßen. Ein Jogger in kurzen Hosen kämpft sich den Anstieg am Bornheimer Hang hoch. Am Röderbergweg eine Reihe solider Häuser. Von dort schweift der Blick, besonders im Herbst und Winter über den Ostpark, weiter nach Offenbach und Hanau, bei klarer Sicht bis Spessart und Odenwald. Im Süden ragt der Goetheturm aus dem Stadtwald. Mein Ziel. Eine sehr schöne Straße, Platanengesäumt und still. Grzymek soll hier irgendwo gewohnt haben. Am Wegesrand ein in den Farben des FSV angepinselter Verteilerkasten. Wieder wechsle ich wegen eines Hundes die Straßenseite. Die Sonne scheint mir ins Gesicht, vor mir der mächtige Bau der EZB. Derzeit werden die Altglascontainer in Frankfurt wohl nur schleppend geleert. Fahrzeugmangel ist zu lesen.

Die Wagenburg am Ostbahnhof muss bis Januar einem Hotelneubau weichen. Es ist zu hoffen, dass bis dahin ein Ersatzstandort gefunden wird, sonst gäbe es auf einen Schlag eine Menge neuer Obdachloser in der Stadt. Die Gedenkstätte an der EZB. Von hier wurden Frankfurts Juden nach Auschwitz deportiert, nachdem sie in langen Kolonnen durch die Stadt getrieben wurden und oft stundenlang ohne Toiletten in der Großmarkthalle stehen mussten. Den Transport mussten sie bezahlen. Die Gleise sind noch zu sehen. Das Honseldreieck zwischen Honsel und Osthafenbrücke soll tatsächlich bebaut werden mit einem Hotel. Der Glaskasten wird dann allen, die aus Richtung Offenbach kommen, den Blick auf die Skyline verwehren. Frankfurt will halt auch seine Elbphilharmonie, wenn auch etwas kleiner. Im Schatten der Honselbrücke haben sich einige Obdachlose mit Zelten eingerichtet. Rauch steigt auf. Wird gekocht? Im schönen Club und Café Familie Montez hätte ich gerne einen Kaffee getrunken, aber die Zeit drängte, es wird früh dunkel. Ein leeres Frachtschiff tuckert rückwärts in den Osthafen. Über die Osthafenbrücke wechsle ich auf die andere Mainseite, den Goetheturm im Blick. Auf dem Mainweg rollert ein alter Mann auf einem Fahrrad des Weges, einige Habseligkeiten im Gepäckkorb. Er inspiziert Mülleimer, ein Flaschensammler. Ich wandle auf Goethes Spuren und passiere die Gerbermühle, wo er einst Geburtstag feierte.

Dort verlasse ich den Mainuferweg und biege ab in Richtung Oberrad. Von den Oberräder Feldern stammen die Kräuter für die echte Frankfurter Grüne Soße. Jede Grüne Soße, die in den Wintermonaten angeboten wird, wird aus importierten Kräutern zubereitet und darf auch nicht „Frankfurter Grüne Soße“ genannt werden. Der Ortskern von Oberrad, eine Haltestelle. „Das Wirtshaus in Frankfurt“ hat geschlossen. Wohin jetzt? „An der Mannsfaust“, der liebste Straßenname meiner besten Freundin. Man grüßt sich in Oberrad am Rande des Stadtwalds. Der Wald in herbstlichem Gewand. Ich hätte mir ein zweites Paar Socken anziehen sollen. Bin mir nicht so ganz sicher, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Aber schnell habe ich wieder Empfang und weiß, dass ich richtig bin. Geheimnisvolles Zeichen an einem Baum, an Brüste erinnernd. Ich grüße die wenigen Spaziergänger, die mir entgegen kommen. Meist stifte ich damit Verwirrung. Zwei Joggerinnen überholen mich, sich unterhaltend. Ich wollte beim Joggen nie reden. „Wie lange will die denn noch leben“, meine ich aufzuschnappen. Vielleicht habe ich mich aber auch verhört. Ein Buntspecht begrüßt mich fröhlich. Der Maunzenweiher läge still und ruhig, würden nicht im Minutentakt Flugzeuge im Landeanflug auf den nahen Flughafen die Stille zerschneiden. Der Wendelsweg führt schnurstracks hinein nach Sachsenhausen. Ein Polizeiwagen kommt mir entgegen. Einige Minuten später nochmals mit höherem Tempo. Zwei junge Frauen, vielleicht auch Mädchen, rennen in Alltagskleidung in den Wald hinein. Es sah nicht nach Joggen aus. Vielleicht ein Spiel im Sinne von, wer zuerst da ist, hat gewonnen. Immer wieder Hinweise darauf, wie krank dieser Wald ist. Und wieder dieses Zeichen. Vielleicht ein Code der Waldarbeiter.

Raste in der Goetheruh, trinke einen Cappucchino und esse dazu ein gigantisches Stück Kirschstreusel, leider ziemlich trocken. Außer mir ein älteres Paar zwei Tische entfernt. Er ist mindestens Mitte, Ende 70, die Dame an seiner Seite etwas jünger. „Ich will dich jetzt mal in die Familie einführen“, sagt er zu ihr „damit die wissen, wer du bist.“ Sie zeigt sich nur mäßig begeistert. Ansonsten verliere ich mich in Kindheitserinnerungen. Oft war ich damals mit den Eltern hier. Der Goetheturm war mein wahres Wahrzeichen von Frankfurt. Wer aus dem Norden auf die Stadt zufährt sieht ihn schon von Weitem aus dem Stadtwald ragen. Noch heute habe ich seinen Geruch in der Nase. Ich war erschüttert als er 2017 abgefackelt wurde und der charakteristische Duft Brandgeruch wich. Irgendjemand mit Brandbeschleuniger und Feuerzeug hatte es in diesem Jahr auf etliche Holzbauwerke in der Stadt abgesehen, Schaden 5 Mio. Euro. Dieser Turm war das prominenteste Opfer seiner, oder ihrer, Brandlust. Bis heute ist niemand gefasst. Als Kind war dieser Ort am Goetheturm mein Lieblingsplatz. Den Spielplatz von damals gibt es heute noch. Nach dem Spielen gab es Kakao und Apfelstrudel in der Goetheruh. Seit zwei Jahren steht jetzt die Rekonstruktion des Turms. Er ist, anders als der alte, hell und er riecht nicht. Ich war auch noch nicht oben.

Über den Wendelsweg geht`s zügig abwärts, vorbei an verwunschenen Kleingärten. Am Himmel rätselhafte Wolkenformation, wahrscheinlich Kondenzstreifen eines Flugzeugs in Warteschleife. Ein ebenso verwunschenes Wasserhäuschen am Wendelsweg. Sachsenhausen empfängt mich rotgetränkt. The world is on fire. Ich kehre an der Darmstädter Landstraße bei Kaliko ein, einem angenehmen, ruhigen Lokal mit guter Küche und guten Getränken zu einem sehr vernünftigen Preis. Vom lärmenden Alt-Sachsenhausen gleich nebenan ist hier nichts zu merken. Seit Corona war ich nicht mehr dort, wurde aber wiedererkannt. Ich esse Königsberger Klopse, trinke Riesling und zum Abschluss einen Espresso und einen Brandy. Dann gehe ich weiter über den Eisernen Steg, durch die Innenstadt zurück nach Bornheim. 18 Kilometer habe ich hinter mir und mir geht es blendend.

Spaziergangstagebuch 2

03.11.2021

Vom Waschsalon am Sandweg durch die Wallanlagen zum Literaturhaus und zurück.

Es war nur ein kurzer Spaziergang, gerade lange genug, um die 40 Minuten zu überbrücken, die Maschine Nr. 6 benötigt meine Wäsche zu waschen. Ein herbstlicher Tag mit leichtem Nieselregen. Nichts was mich davon abhalten könnte, ein wenig herumzugehen. Nach Kurzem komme ich am schönen Wirtshaus Mosebach vorbei. Ich müsste mal wieder hingehen, denke ich. Es ist lange her seit meinem letzten Besuch dort, die Qualität war immer gut. Ein kleines, auf Holz gemaltes Bild wurde freigelassen und dient jetzt an der Wand als Streetart. In einer Einfahrt beseitigt eine Frau mittels eines Bläsers das feuchte Laub. Das Café Maingold an der Zeil 1 hat wieder geöffnet. Wegen akuten Personalmangels in allen Bereichen hatte es einige Wochen geschlossen.

An einer Hauswand am Allerheiligentor prangt formatfüllend der riesige Schriftzug „WIR SIND ALLES FRANKFURTER“. Was soll das „S“ da, frage ich mich. Das gleichnamige Innenstadtviertel, das bislang durch Dönerläden neben Pornobuden, Gewalt, Drogen und Autoposern geprägt ist, soll so „aufgewertet“ werden. Gleichwohl wohnen viele Alteingesessene gerne in ihrem Viertel. Das „Main Yard“ genannte Projekt soll die altbekannte Mischung aus Wohnen, Gastronomie und Shopping bieten und die etwas verrufene Gegend „aufwerten“. Es ist die beginnende Gentrifizierung auch dieses Quartiers. In den Wallanlagen, – sie folgen dem Verlauf der früheren Stadtmauer, auf dem Stadtplan lässt sich das gut sehen – liegt nasses Laub auf den Wegen. Alles hier ist Herbst. Ich liebe es. Der Spielplatz verwaist. Zwei Jungs spielen mit einem Einkaufswagen. Als das Interesse erlischt lassen sie ihn zurück und ziehen weiter. Alles unter dem strengen Blick Lessings. Einige Gänse mit schwarzem Hals spreizen merkwürdig das Gefieder. Zuhause schau ich nach, es waren Kanadagänse. Der Brunnen im Rechneigraben genannten Teich schießt weiterhin fröhlich Fontänen in die Höhe. Vor über 200 Jahren diente dieses Gewässer als Löschwasserreservoire. Ein unsichtbares Rotkehlchen trällert aus dem Nest.

Am Literaturhaus kehre ich um. Wie lange schon bin ich dort nicht mehr gewesen. Ein kleiner weißer Hund trollt über die Wiese und Wege. Er schnüffelt am Wegesrand. Seit einem Biss in der Kindheit habe ich einen gewissen Respekt vor Hunden und spaziere über die feuchte Wiese um auf der anderen Seite weiterzugegehen. Dann entdeckt der kleine Hund einen Dackel und findet den interessanter. Ich kehre zurück auf meinen ursprünglichen Weg. Auf einer Bank sitzt ein Mann und füttert Enten, Gänse und Tauben. Nach 45 Minuten bin ich zurück. Die Wäsche ist fertig.

Herbstlicher Spaziergang durch die Riederwaldsiedlung

In vergangenen Zeiten verband ich den Begriff Riederwald vor allem mit Eintracht Frankfurt. Der Verein spielt allerdings schon lange nicht mehr in diesem Stadion, das nicht mal im Stadtteil Riederwald liegt, sondern im benachbarten Seckbach. Schon seit Start der Bundesliga bestreitet die Eintracht ihre Spiele im größeren Stadion im Stadtwald, das Fans noch heute Waldstadion nennen, obwohl der Name längst verkauft wurde und einer großen Bank gehört. Hier sind auch die Trainingsplätze der Fußballer und vor kurzem wurde auch die neue Geschäftsstelle im Stadtwald eröffnet, die bis dahin tatsächlich noch am Riederwald beheimatet war. Heute dient das Stadion am Riederwald noch als Trainingsgelände für den Eintracht-Nachwuchs.

Es dauerte dann auch eine lange Zeit, bis ich zum ersten Mal durch die Riederwaldsiedlung spaziert bin, obwohl ich seit Jahren quasi in der Nachbarschaft wohne. Beim ersten Mal hielt ich auch vergeblich nach dem legendären Stadion Ausschau und war enttäuscht, es nicht zu finden. Dennoch war ich beeindruckt, hatte das, was sich mir bot, nicht erwartet. Ich nahm mir vor diesen Weg künftig häufiger zu gehen. Das habe ich durchaus getan, aber immer in Begleitung. Jetzt war es wieder soweit, diesmal alleine. Es war ein perfekter Herbsttag, einer dieser Tage, die gemeint sind wenn vom Goldenen Oktober die Rede ist. Ohnehin mein Lieblingsmonat, der Oktober. Also schnürte ich nach dem, wie immer späten Frühstück, meine Schuhe und spazierte los. Es ist nicht weit. Zum Ernst-May-Platz, dann zum Bornheimer Hang, vorbei am FSV Stadion und an der U-Bahn Station Johanna-Tesch-Platz über die Straße. Schon bin ich im Riederwald.

Die 1875 in Frankfurt geborene Johanna Tesch war Sozialistin, Frauenrechtlerin und Reichstagsabgeordnete der SPD. Seit 1933 lebte sie mit ihrem Mann, auch er SPD Mitglied, zurückgezogen in der Riederwaldsiedlung. 1944 wurde sie verhaftet und im KZ Ravensbrück interniert. Dort starb sie, kurz vor ihrem 70. Geburtstag, im März 1945 an den Folgen der Haft.*

Dass ich so viele Jahre brauchte, um erstmals die Riederwaldsiedlung zu erkunden hat wohl auch damit zu tun, dass sich die Siedlung hinter der viel befahrenen und lauten Straße mit dem idyllischen Namen Am Erlenbruch gleichsam versteckt. Die Fassaden zur Straße hin grau und rußig, die Fenster blind. Man möchte dort nicht wohnen. Ein unendlicher Strom von Autos, dazu die U-Bahnen der Linien 4 und 7 , sorgen für entsprechend schlechte Luft und Krach. Aber wer sich davon nicht abhalten lässt und dieses fast schon abgeschottete Gebiet dennoch betritt, findet sich in einer unerwarteten Welt. Als erstes fällt auf, dass sich die Rückseiten dieser grauen Häuser zu einem großen und begrünten Hof wenden, Balkone überall. Das relativiert den ersten Eindruck schnell. Schon während der ersten Schritte durch die Siedlung wird deutlich, wie ungeheuer grün dieses Gebiet ist. Bäume und Wiesen überall, immer wieder kleine grüne Plätze und ein großer Spielplatz. Nicht umsonst wird auch von der Gartensiedlung Riederwald gesprochen. Gegründet wurde sie 1910 als Arbeitersiedlung. Etliche der Bewohner arbeiteten beim nahe gelegenen Güterbahnhof. *

Bald fällt auch das erste typische Siedlungshaus auf mit seinem markanten Mansardendach. Eine Dachform, die sich durchzieht. Robuste, charaktervolle Häuser, ohne Balkone aber immer umgeben von Wiesen, Gärten, Wäschespinnen und mächtigen Bäumen. Nach ein paar Minuten fällt ein weiteres Charakteristikum dieser Siedlung auf, die Stille. Zunächst hatte ich sie „überhört“ aber dann wurde sie auffallend und natürlich sehr angenehm. Es gibt keinen Durchgangsverkehr, auch aus den Häusern dringt kein Laut nach draußen, als wollten diese Gebäude ihre Geheimnisse für sich bewahren, wie dem ersten Eindruck nach der gesamte Stadtteil. In der Schäfflestraße öffnet sich diese ruhige Wohngegend durch ein Torhaus der Umgebung. Das Kerngebiet der Siedlung, das von diesen Bauten dominiert wird, steht heute unter Denkmalschutz. Die Siedlung in der Friedrich-Liszt-Straße weiter östlich wurde Mitte der zehner Jahre von Christoph Mäckler saniert und umgebaut. Hier nun Balkone und Terrassen und natürlich auch wieder Gärten. Das Ensemble fügt sich gut in die Umgebung und ist mit einigen Reihenhäusern von Ernst May in bester Gesellschaft. Am östlichen Ende des Gebiets überspannt seit kurzem eine Fahrrad- und Fußgängerbrücke die Gleise des Güterbahnhofs. Sie endet an der Hanauer Landstraße. Dort mündet die Carl-Benz-Straße, die ausgeschilderte Radverbindung nach Offenbach. Für mich der direkteste und schnellste Weg in die Nachbarstadt. Eine sehr angenehme Wohngegend also, allerdings hat auch sie ihre Nachteile. Wer ein Bier trinken gehen will oder einkaufen muss, muss woanders hinfahren, ins Ostend oder nach Bornheim. Beides ist nicht weit.

Ich verlasse die Riederwaldsiedlung, vorbei am Gelände eines Geflügelzuchtvereins, einem türkischen Kulturverein sowie einer Kleingartensiedlung. Ein stolzer Hahn begrüßt mich. Der Wald, der so heißt wie die Siedlung, zeigt sich in herbstlicher Vielfalt. Ich folge dem ausgeschilderten, teilweise abenteuerlichen Radweg in Richtung Ostbahnhof, immer wieder erstaunt, wie die Radverbindungen in Frankfurt mittlerweile ausgeschildert sind, und lande, nach der Unterquerung der Autobahnbrücke, im Ostpark. Ich drehe noch eine halbe Runde. Bis vor einigen Jahren herrschte in diesem Park noch eine regelrechte Plage mit Nilgänsen. Wege und Wiesen waren verdreckt, es waren einfach viel zu viele. Irgendwie wurde es geschafft, die Tiere von hier zu vertreiben, so dass heute nur Graugänse zu sehen sind. Voller Eindrücke schlendere ich durch das Ostend nach Bornheim, quere vorher jedoch das Viertel rund um den Parlamentsplatz oberhalb des Ostparks. Grzimek soll hier irgendwo gewohnt haben. Nach 7.5 km war ich wieder zuhause. Ein schöner Spaziergang, vielleicht auch, weil die Eintracht am Vortag mit 1:2 bei Bayern München gewonnen hatte.

*alle Informationen aus dem Internet.

Spazieren an einem herrlichen Herbsttag

Jahrelang habe ich das Quartier zwischen Ostpark und Wittelsbacherallee, rund um den Parlamentsplatz, im Frankfurter Ostend buchstäblich links liegen gelassen, obwohl es zu meiner unmittelbaren Nachbarschaft zählt. Meine regelmäßigen und häufigen Wege führten mich immer in die andere Richtung, zum Günthersburgpark oder in das Nordend, gelegentlich auch durch die Berger Straße, aber immer Richtung Innenstadt. Bis ich vor einigen Monaten erstmals durch diese bisherige Terra Incognita spazierte. Es gefiel mir, unspektakulär, eine ruhige Wohngegend mit dem einen oder anderen interessanten Gebäude. Mein Frankfurt ist durch diesen Spaziergang etwas größer geworden.

Eigentlich hatte ich Lust auf einen faulen Tag zuhause, mit Lesen, Musik hören, Kochen. Das Wetter machte mir jedoch einen Strich durch die Rechnung. Der Tag empfing mich mit herrlichstem Herbstwetter, Sonne, strahlend blauer Himmel, klare Luft, recht kühl. Das lies mir keine Wahl, Schuhe schnüren, herumgehen, Kopf lüften. Nach wenigen Minuten spazierte ich zum zweiten Mal in diesem Jahr durch die Gagernstraße im Ostend. Auffallend die breiten Gehwege, ist in Fankfurt ja nicht allzu oft anzutreffen. Es waren nur sehr wenige Passanten unterwegs, ich konnte problemlos auf die Maske verzichten. Auch Autos störten kaum die Ruhe. Ich genoss die Stille und betrachtete die teilweise recht schmucken Häuser. Hinter dem unscheinbaren Parlamentsplatz wandte ich mich nach links, bei nächster Gelegenheit wieder nach rechts. Wenn ich irgendwo gerne wohnen würde, dann am Röderbergweg im Frankfurter Ostend und zwar in vorderster Reihe. Grzimek soll hier irgendwo gewohnt haben. Der Blick ist sensationell.

Blick nach Nord-Westen

Nach Süd-Osten schweift der Blick, über Offenbach und Hanau, bis zum Odenwald. Im Nord-Westen ist am Horizont der Stadtwald auszumachen und dort ragt tatsächlich der neue Goetheturm aus den Wipfeln. Dieses wahre Frankfurter Wahrzeichen, das von Idioten abgefackelt wurde und jetzt endlich wieder nachgebaut ist. Mein Frankfurt ist wieder komplett. Und an den alten Turm habe ich noch reichlich Kindheitserinnerungen, die kann mir niemand abfackeln. Selbst den Geruch nach Harz und Holz habe ich noch im olfaktorischen Gedächtnis. Das allerdings wird der neue nicht können, noch nicht. Ich muss ihn mir auf jeden Fall bald aus der Nähe ansehen. Und dort, am Röderbergweg, habe ich ihn erstmals wieder gesehen. Mein Herz hüpfte vor Freude.

Immer der Nase nach, durch bislang unbekanntes Gebiet, vorbei an der schönen, mir bislang aber unbekannten Luxemburgerallee, landete ich bald am Ostbahnhof.

Luxemburgerallee

Und dort, ich hatte davon gelesen und natürlich wieder vergessen, eine Wagenburg. Alte Camping- und Bauwagen standen dicht gedrängt am Bahndamm. Unmittelbar fühlte ich mich nach Berlin und Kreuzberg zurückversetzt. Das wurde verstärkt durch Transparente mit dem Besetzerzeichen und vertrauten Forderungen „Frankfurt besetzen“. Außerdem „Ihr baut Mist“ (o.s.ä.). Angesichts der benachbarten Neubauten eine nachvollziehbare Bemerkung. Ich war begeistert von meinem Spaziergang, hatte so viel Neues gesehen in kurzer Zeit.

Wagenburg

Weiter zum Main. An der Osthafenbrücke wieder der Goetheturm, jetzt etwas größer.

Osthafenbrücke mit Goetheturm

Auch am Mainufer war es kein Problem auf die Maske zu verzichten, es waren nur wenige Leute unterwegs. Ich spazierte der untergehenden Sonne entgegen und konnte mich nicht satt sehen am Licht und den herbstlich leuchtenden Bäumen.

Mainufer

Auf der gegenüberliegenden Mainseite das Literaturhaus Frankfurt, dahinter der Schwesternwohnturm des Hospitals zum Heiligen Geist, der das Literaturhaus fast erdrückt. Dieses, tatsächlich unansehnliche, Gebäude hat mich dazu gebracht, über Hässlichkeit in der Stadt nachzudenken. Meinen früheren, spontanen Gedanken ABREISSEN! überdenke ich mittlerweile. Ich habe gelernt, dass auch diesen Gebäuden mit Respekt begegnet werden muss. Stadt braucht Hässlichkeit. Vielleicht irgendwann mehr dazu.

Literaturhaus mit Turm des Hl. Geist Hospitals

Weiter am Main, die Skyline bestimmt das Bild. Ich wechsle jedoch über die Alte Brücke auf die andere Seite, von Dribbdebach nach Hibbdebach. Dort steht sie wieder, am angestammten Platz, die Statue Karls des Großen, in Sandstein. Es handelt sich um eine Kopie, das Original befindet ich im wunderbaren Historischen Museum. Der Original-Karl ist wohl auch noch im Besitz eines Schwerts, was der Doppelgänger nicht von sich behaupten kann. Das Schwert, das Karl auf der Brücke stolz und auch durchaus Respekt fordernd, himmelwärts richtete, war wohl ein beliebtes Souvenir. Daher wurde der Kaiser regelmäßig entwaffnet, letztmals im August 2020. Und so steht er da, der stolze Kaiser, ähnlich dem Ritter der Traurigen Gestalt, als „Karl ohne Schwert“ (Michael Quast).

Karl ohne Schwert

Durch die Wallanlagen spaziere ich zurück gen Bornheim, den Kopf voller Bilder und Gedanken, und erstmals in den zwanzig Jahren, die ich jetzt hier lebe, denke ich, wie interessant, abwechslungsreich, spannend und durchaus aufregend diese kleine Stadt doch sein kann.

Wallanlage

In Bornheim ging ich in meiner Kneipe ein Bier trinken (ich darf das, ich arbeite da und habe einen Schlüssel) und blickte auf einen wundervollen Tag zurück.

Was bedeutet Kochen und Essen im Alltag für Dich?

Teil zwei des Blogstöckchens „Die Welt auf dem Teller“, das Wibke Ladwig in den Ring geworfen hat.

Ich schreibe dies, nachdem ich was vom Vortag aus dem Kühlschrank in die Pfanne geworfen, aufgewärmt und lustlos verzehrt habe. Also, ich hatte weder Lust zu kochen noch zu essen. Es musste sein, ich hatte Hunger. Es hat nicht so besonders geschmeckt, aber ich war satt und musste nichts wegwerfen.

Ansonsten ist die Frage eine schwierige und komplexe, die ich nicht eindeutig beantworten kann. Vielleicht sollte ich vorausschicken, dass ich nicht kochen kann. Niemand hat es mir beigebracht. Daher passt die oben erwähnte Speise ganz gut zu mir.

Zu oft habe ich Sachen verbrennen oder verkochen lassen. Ich lasse mich zu gerne ablenken. Wenn die Spaghetti zum Beispiel köcheln, ebenso die Soße im Topf, lasse ich mich auch mal verleiten, an den Computer zu gehen. Es könnte ja was passiert sein. Dann lese ich mich irgendwo fest, bis ich mich an das Essen auf dem Herd erinnere. Meist sind dann die Nudeln verkocht und die Soße angebrannt. Dergleichen ist mir schon relativ häufig passiert. Das landet dann im Müll und ich mache Spiegeleier.

Oft habe ich keine Lust zu kochen. Dann geh ich zum Italiener und ess ne Pizza. Gelegentlich mag ich auch nicht essen, spüre nur die Notwendigkeit. Wenn ich zu faul zum Kochen bin, aber doch was essen will, aber nicht schon wieder zum Italiener (kostet ja auch immer Geld), begnüge ich mich oft mit Käse, Baguette oder Grissini und Rotwein. Ein paar Oliven ergänzen das karge Mahl. Außerdem erinnert mich das an Frankreich. Das empfinde ich als ungemein entspannend. Gute Musik dazu, das hat was. Oder ich mache mir eine Fischkonserve auf. Habe ich immer da, Ölsardinen, Thunfisch, Makrelen. Alles köstlich. Außerdem lässt sich aus Thunfisch mit ein paar Tomaten, Zwiebeln und Knoblauch auch mal schnell eine leckere Spaghettisoße basteln. Geht natürlich auch ohne Thunfisch.

Käse und Rotwein

Vielleicht muss ich sagen, dass ich alleine wohne. Ich kann nicht für nur eine Person kochen, es sei denn Spaghetti Aglio e Olio, mein geheimes Lieblingsgericht. Aber selbst das misslingt mir gelegentlich. Ich koche immer zu viel. Mein Gefrierfach ist voll mit Tupperdosen, in denen irgendwas drin ist. Was das ist, muss ich oft raten, denn ich beschrifte die Behälter nicht. Für mich alleine zu kochen ist kein Problem, das kenne ich schon lange. Und jetzt komme ich zum ersten Teil der Frage.

Seit dem ersten Shutdown im Frühjahr 2020, habe ich viel öfter gekocht. Das Beste was ich tun konnte. Nicht die schlechteste Art, sich die Zeit zu vertreiben. Irgendwann hat sich daraus die Improvisationsküche entwickelt. Die Ergebnisse poste ich auf Facebook. Es gibt Leute, denen gefällt das. Die Improvisationsküche macht wirklich viel Spaß. Sie heißt so, weil ich mich nicht zum Sklaven von Rezepten mache. Wenn ich mal was wissen will, dann frage ich beispielsweise auf Twitter, ob Knoblauch besser geschnitten oder gepresst werden soll. Die Antworten waren eindeutig, geschnitten. Seitdem mache ich das nur noch so. Durch die Improvisationsküche lerne ich. Wenn was schief geht, dann weiß ich mittlerweile, wieso es schief ging und was ich beim nächsten Mal besser machen muss. Ich traue mich in der Improvisationsküche auch gerne an bislang unbekannte Speisen. Irgendwann stieß ich zufällig auf Hähnchenpiccata. Ich hatte das noch nie gehört, es klang aber verlockend. Also habe ich es ausprobiert, es ist gelungen und war köstlich. Ein Fest.

Kochen ist aber weit mehr als der eigentliche Vorgang in der Küche. Kochen heißt auch, zu überlegen was ich zubereiten will. Und Kochen heißt natürlich auch immer Einkaufen. Ich habe mir inzwischen angewöhnt, fast alles auf Märkten zu besorgen, bei Erzeugern aus der Region. Und dann bevorzugt bei Biobetrieben. Es ist aber noch mehr als das Besorgen. Ich gehe immer zu Fuß auf die Märkte. Die sind in der Innenstadt, an der Konstablerwache oder in der Schillerstraße. Der Markt bei mir um die Ecke interessiert mich nicht, der liegt zu nah. Ich brauche das Spazieren. Alles gehört zusammen. Oft schleppe ich zwei volle und auch recht schwere Stoffbeutel nach hause, in der Umhängetasche noch eine Flasche Riesling vom Winzer auf dem Markt. Aber ich mache das gerne, es gehört dazu. Zuhause werden die Schätze in der Küche ausgebreitet. Und dann wird irgendwann angefangen zu kochen. Zunächst muss jedoch der richtige Wein im Glas sein, und, ganz wichtig, die passende Musik ausgewählt (früher habe ich zum Beispiel sehr gerne Frank Zappa beim Kochen gehört). Dann ist alles bereit. Vom Spazieren, über den Einkauf auf dem Markt, hin zum Schnibbeln und Zubereiten bis zum Wein und der Musik, all das gehört zusammen. Oft rundet das Ganze ein Espresso und ein Schnaps ab. Nicht zu vergessen der Abwasch, denn ich habe keine Spülmaschine. Das ist Kochen für mich. Und wenn das Ergebnis auch noch schmeckt, umso besser. Das kommt so etwas wie Glück sehr nahe. Da ich den esoterischen Begriff „ganzheitlich“ hasse, ist es für mich einfach eine runde, sehr beglückende Angelegenheit.

Küchenecke

Vor Kurzem habe ich angefangen, Gäste in meine Improvisationsküche einzuladen. Immer nur einen oder eine. Wir leben schließlich in Zeiten der Pandemie. Die Gäste gehen ein gewisses Risiko ein, weil ich ja nie weiß, ob es halbwegs gelingt oder nicht. Sind dann halt auch Versuchskaninchen. Zur Not bleiben immer noch Spiegeleier, Käse oder Thunfisch. Bislang waren sie aber immer zufrieden.

Essen ist etwas völlig anderes. Vor allem alleine essen. Essen geht zu schnell. Mein Vater sagte immer, zwei Stunden gekocht, in zehn Minuten gegessen. Wenn es schmeckt und ich habe es zubereitet, klar, siehe oben. Im Grunde finde ich Essen lästig, es muss halt sein. In Gesellschaft ist das was anderes. Das macht Spaß. Ein gutes Gespräch beim Essen mit einem oder mehreren lieben Menschen ist natürlich immer ein wunderbares Erlebnis. Natürlich ganz besonders wenn es schmeckt.

Meine Essgewohnheiten haben sich auch verändert im Laufe der Zeit. In jüngeren Jahren war das Frühstück immer die wichtigste Mahlzeit des ganzen Tages für mich. Da habe ich den Tisch gedeckt, bin losgelaufen, habe Brötchen und Zeitung geholt und diesen Tagesauftakt tatsächlich genossen und zelebriert. Dazu sollte ich wohl sagen, dass ich nichts zu Mittag esse. Ich frühstücke und später gibt es Abendessen. Zwischendrin etwas Obst oder auch was Süßes. Meine Frühstücksgewohnheiten haben sich mittlerweile komplett geändert, was vielleicht auch daran liegt, dass ich keine Lust habe, morgens, verschlafen, das Rad aus dem Keller zu holen um bei einem guten, aber entfernten Bäcker Brötchen zu holen. Ich habe Brot vom Markt, decke keinen Tisch mehr, sondern schmiere mir Brote in der Küche während der Tee zieht. Jeden Tag dasselbe, mehr oder weniger.

Eine Ausnahme muss ich machen zu Rezepten und Kochbüchern. Vor vielen Jahren habe ich gerne Sachen aus der „Kräuterküche“ von Maurice Mességué ausprobiert. Oft so kompliziert, dass ich auf Anleitungen angewiesen war. Meine Hits waren z.B. Kaninchen in provenzalischer Kapernsauce oder Hähnchen in Estragonsauce. Ich sollte mich vielleicht mal von Mességué zu Improvisationen inspirieren lassen.

Mal sehen, was ich am Donnerstag auf dem Markt kaufe.

Keep On Cooking In A Free World.

Das Krisen-Photo zum Donnerstag

Eines meiner liebsten wöchentlichen Rituale ist der donnerstägliche Gang zum Erzeugermarkt an der Konstablerwache. Dort trinke ich ein-zwei Schobbe und esse irgendwas. Dann kaufe ich ein. Ich habe schon gelegentlich darüber geschrieben. Wann ich angefangen habe, mein Schobbeglas mit dem Deggelsche zu photographieren und auf Facebook zu veröffentlichen, weiß ich nicht mehr, bin auch zu faul, um zu recherchieren. Jedenfalls hat sich daraus eine kleine harmlose Spielerei ergeben und einige Leute haben Gefallen gefunden an diesen „Photos zum Donnerstag“, wie ich sie immer nenne. Die Bilder sahen meist so ähnlich aus wie dieses hier unten.

Photo zum Donnerstag

Mit den Corona-Schutzmaßnahmen, die ab Mitte März 2020 griffen, war das Photo zum Donnerstag in dieser Form nicht mehr möglich, denn der Ausschank auf dem Markt an der Konstablerwache wurde eingestellt. Es durfte dort nichts mehr verzehrt werden. Na gut, dachte ich mir, trinke ich meinen Schobbe halt zuhause und mache das Photo dort auf meinem Balkönsche. Das erste, das ich dann „Das Krisen-Photo zum Donnerstag“ nannte, war das vom 19. März. Ohne dass ich es beabsichtigt hatte, war das Glas unscharf dargestellt, nur der Baum im Hintergrund war scharf. Erst wollte ich es löschen, dann aber gefiel es mir. Ich hatte den Eindruck, das unscharfe Glas würde die Krise vielleicht ganz treffend illustrieren. Und ich hatte die Idee, mit dem Motiv zu spielen, auszubrechen aus der gewohnten Form. Dabei versuchte ich, eine gewisse Dramaturgie einzuhalten.

Spätestens als ich für das Photo vom 23. April ein Geripptes (so heißen diese Gläser) aus dem Nachlass meiner Eltern zerdepperte, wurde es völlig beliebig. Aber es hat sehr viel Spaß gemacht, mit dem „Photo zum Donnerstag“ auf diese Art zu spielen. Auch freute ich mich immer auf die, für meine Verhältnisse, zahlreichen Reaktionen und Kommentare. Sogar in Kanada wurden die Donnerstagsphotos wahrgenommen. Das erfolgreichste dieser Krisenphotos war das vom 02. April, das mit der Luftpolsterfolie. Das Bild vom 25. Juni war dann das erste, dass ich wieder auf dem Markt machte. Ich nannte es immer noch Krisen-Photo. Das Glas traut sich nicht so recht ins Bild, verharrt am Rand, mir war die Sache nicht geheuer. Eine Facebook-Freundin, die schon lange Gefallen an diesen Photos gefunden hatte, fand die Krisen-Photos dann allerdings recht deprimierend und schenkte mir zur Aufheiterung dieses schöne Halbliter-Gerippte mit Goldrand und Schleifchen. Eine Geste, über die ich mich sehr gefreut habe. Das Bild postete ich außerhalb der Reihe am 18. Juli unter dem Titel „Freude-Photo zum Samstag“. Seit dem 02. Juli geht es wieder gewohnt weiter mit den „Photos zum Donnerstag“, bis Corona wieder verstärkt zuschlägt und auf dem Markt wieder jeder Verzehr untersagt wird.

Das Freude-Photo zum Samstag