RB10
M wartete schon, lächelnd, Sonnenbrille, Zigarette, in der anderen Hand einen Mitnahmekaffee, im Ohr Stöpsel, die sie raus nahm, als sie mich sah. In Bornheim-Mitte bestiegen wir die U4, die uns in wenigen Minuten zum Hauptbahnhof brachte. Am Gleis 23 stand die RB10 bereit, in fünf Minuten sollte sie losfahren. Es herrschte Ausflugswetter, der Rheingauexpress war daher gut besetzt mit Menschen jeden Alters, wie immer am Sonntag bei sonnigem Wetter. Sie wollten durch die Weinberge spazieren, oder am Rhein entlang und in einem der Winzerstädtchen Wein trinken. Wie wir auch. M trug einen Rucksack mit etwas Proviant bei sich. Ich hatte auf Wegzehrung verzichtet, unterwegs würde es ausreichend Gelegenheiten geben, eine Brezel zu essen, Wasser und Riesling zu trinken. Nur auf Fisherman`s Friend, Geschmacksrichtung Anis, wollte ich nicht verzichten. M konnte ich damit allerdings keine Freude machen.
Das erste Mal
Ich war gespannt auf den Ausflug mit M. Wir waren noch nie zusammen spazieren gewesen und hatten jetzt doch etwa elf Kilometer vor uns. Skeptisch beäugte ich ihre Schuhe, die mir nicht sonderlich geeignet schienen für einen dreistündigen Spaziergang. Sie versicherte, in diesen Schuhen ganz hervorragend gehen zu können, auch größere Strecken. Ich trug meine alten, grünen Laufschuhe. Es ist keine Selbstverständlichkeit, gemeinsam entspannt und harmonisch zu spazieren, das geht nicht mit jeder. Ich gehe auch sehr gerne allein, genieße es, nicht abgelenkt zu werden und mich nur meinen Beobachtungen und Gedanken zu widmen. Manch gute Idee ist auf diese Weise entstanden. Allerdings lässt es sich niemals entspannter plaudern als bei einem gemeinsamen Spaziergang. Wohl dosiert natürlich. Spaziergänge mit mehr als zwei Personen versuche ich zu vermeiden, irgendjemand hat dann immer ein erhöhtes Kommunikationsbedürfnis. Bei M war ich gewiss, dass wir uns unterwegs nicht auf die Nerven gehen würden. Sie hatte nicht den Drang ununterbrochen zu reden und konnte auch mal schweigen. Darin waren wir uns sehr ähnlich.
Eine Radtour
Der Zug setzte sich in Bewegung, erster Stop in Hoechst, danach nonstop weiter bis Mainz Kastel. Zuvor jedoch passierte der Rheingauexpress rechterhand eine riesige, blaue Lagerhalle, um die ein frisch asphaltierter Radweg führte. Dort war ich schon mit M gefahren. Es war nicht die M, neben der ich jetzt in der RB10 saß, sondern M aus Offenbach, eine Twitterbekanntschaft. Uns verband, unter anderem, die Begeisterung für das Radfahren und die Vorliebe für Bier. M fuhr Mountainbike, ich Rennrad. Da war es schwierig, passende Wege zu finden. Wir waren auf Asphalt angewiesen. Und ich war immer zu schnell. Also verkaufte ich das Rennrad und investierte den Erlös in ein gutes, gebrauchtes Mountainbike. Stahlrahmen, eine professionelle Federgabel, 24 Gänge, Hydraulikbremsen. Das reichte, jetzt standen uns alle Wege offen. Bei unserer ersten gemeinsamen Tour war ich jedoch noch mit dem Rennrad unterwegs. Sie führte uns über den Mainradweg nach Rüsselsheim zum Kleinen Brauhaus. Ich war genauso gespannt, mit M eine Radtour zu machen, wie ich es jetzt war mit der M neben mir, mit der ich zu einem längeren Spaziergang unterwegs war. Es konnte schief gehen oder gut werden. Nach wenigen Kilometern schon dämmerte mir, dass sie die perfekte Partnerin war für gemeinsame Radausflüge. Wir fuhren dasselbe Tempo, hatten dieselbe Kondition, und, vielleicht am wichtigsten, niemand wollte reden. Das hoben wir uns für die Pausen auf. Im Kleinen Brauhaus angekommen, tranken wir köstliches Bier und nahmen eine rustikale Mahlzeit zu uns. Zwei, drei weitere Biere sollten uns stärken für den Rückweg. Es war eine wunderbare, sehr entspannte Fahrt über immerhin doch siebzig Kilometer. Wir radelten, jeder für sich und doch gemeinsam. Zum Abschluss gab es ein letztes Bier im Maincafé. Es sah so aus, als hätte ich mit M eine Frau gefunden, die ich mein ganzes Leben lang gesucht hatte. Eine Frau, mit der ich entspannt gemeinsam mit dem Rad unterwegs sein konnte. Ich hatte auch schon Radtouren erlebt, die in heftigstem Streit endeten und einmal beinahe zum Abbruch eines Provence-Urlaubs führten. Aber jetzt war da M und ich war glücklich. Sie mochte auch Fisherman`s Friend, Geschmacksrichtung Anis.
Viele weitere Radtouren folgten, darunter jene nach Eltville, die uns an dieser Lagerhalle vorbeiführte, die die RB10 eben hinter sich gelassen hat. Bald tauchten die ersten Weinberge auf, wir näherten uns dem Rheingau. Immer wieder waren Radler auf dem Weg zu sehen, den M und ich damals auch gefahren waren. Gelegentlich schimmerte der sonnenbeschienene Main durch das Geäst.
Wiesbaden Biebrich – Walluf
Wiesbaden Biebrich, der Bahnhof kaum als solcher erkennbar, eher eine Haltestelle. Aber es konnte losgehen mit dem Spaziergang. Der Biebricher Schlosspark, angelegt im frühen achtzehnten Jahrhundert und später umgestaltet, entschädigte schnell für den ungastlichen Empfang am Bahnhof. Weitere Spaziergänger schlenderten durch die Anlage und genossen die Ruhe, die Luft und das Grün. Wir durchquerten eine großzügige und gepflegte Parklandschaft, vorbei an Weihern mit allerlei Wasservögeln. Mehrere Papageienarten hatten sich hier angesiedelt, vorwiegend die lustigen grünen Halsbandsittiche hüpften lärmend durch die Zweige. Der Park lebte, die Stadt war weit weg. Ein perfekter Einstieg in unseren Ausflug. Bald war das Schloss in Sichtweite, dahinter der Rhein. Erste Urlaubsgefühle keimten auf. Nach nur wenigen hundert Metern werden die Spaziergänger jedoch vom Fluss weg auf die vielbefahrene Rheingaustraße geleitet, um noch eine ordentliche Dosis Feinstaub zu tanken, bevor es hinter der Dauerbaustelle der Schiersteiner Brücke, die den Uferweg blockierte, nach links zum Hafen von Schierstein geht. Motorboote liegen vertäut an den Kais, SUVs am Uferweg. Segelboote gleiten Richtung Rhein, Familien mit Kindern, Einzelgänger und Paare schlendern über die Promenade und freuen sich an der Aussicht, dem Wetter und dem Wein. Den ersten Weinprobierstand auf unserem Weg nutzten wir für eine Pause. Beide tranken wir Riesling, sie als Schorle, ich pur, das Wasser extra dazu. Wir setzten uns, schauten den Schiffen zu, beobachteten die Passanten und genossen den Wein. Störche zogen ihre Bahnen am blauen Himmel.
An der Eisdiele hatte sich eine veritable Warteschlange formiert. Ich ließ mich nicht beirren und reihte mich ein. Nur selten esse ich Eis, schon der Anblick der bunten Fett- und Zuckerkugeln verursacht mir Übelkeit. Aber in Schierstein aß ich Eis, zwei Kugeln, Nuss und Vanille, das gehörte zum Ritual. Wir spazierten weiter und ließen den Schiersteiner Hafen hinter uns. Nach kurzem erreichten wir den unbefestigten Pfad am Rheinufer und folgten ihm flussabwärts. Für die nächsten Kilometer wird der scheinbar träge dahin fließende Fluss unser Begleiter sein. Frachtkähne zogen vorbei, gelegentlich auch ein Segelboot oder ein Ausflugsdampfer. Der Uferweg stark frequentiert, Fußgänger, Radfahrer, Hunde kamen uns entgegen. Schon bald taucht rechter Hand der Strommast auf, der drei Storchenfamilien Heimstatt bietet, unübersehbar die Nester in unterschiedlicher Höhe. Jungtiere harrten auf Futter.
Es bestätigte sich, was ich erwartet hatte, mit M zu spazieren war ein Vergnügen. Gleiches Tempo, nicht zu viele Worte, gleichmäßig und zügig setzten wir einen Fuß vor den anderen, ließen unsere Blick über das Wasser schweifen oder in den Himmel, an dem Störche und allerlei andere Vögel ihre Runden drehten. Eine Nachtigall ließ ihren Gesang erschallen. Kurz vor Walluf dann ein eingezäuntes Vogelschutzgebiet. Eine Wasserlandschaft mit Bäumen und Schilfgräsern bot etlichen Vögeln paradiesische Bedingungen. Wir spazierten durch eine scheinbar heile Welt.
Walluf verfügt über einen kleinen Sandstrand, der sehr gut besucht war an diesem Sonntagnachmittag. Kinder spielten im Sand, Müßiggänger saßen auf den Mäuerchen, die das Areal eingrenzten, tranken Wein. Manch einer warf Stöckchen für den Hund in den Strom, dem der wagemutig nachschwamm und es wieder raus fischte, immer wieder. Als wären wir Teil einer Strandszene von Heinrich Zille, im Rheingau, nicht in Berlin. Der perfekte Standort für den örtlichen Weinstand, das Fässchen Walluf. Die Reihe der Durstigen war lang, der Riesling kalt und trocken. Für eine Dreiviertelstunde schauten wir dem Treiben zu und tranken gemächlich den Wein. Das Ziel unseres Ausflugs kam näher. Etwa fünfundvierzig Gehminuten trennten uns von Eltville. Immer mehr Spaziergänger und Radfahrer bevölkerten den Uferweg, es wurde zusehends enger. Bald kamen die ersten Villen der „Eltviller Riviera“ in den Blick. Als markante Landmarke thronte der Turm der Kurfürstlichen Burg Eltville am Ufer und das silberne Band des Rheins zog sich durch die Landschaft.
Eltville -Oestrich-Winkel
An einem schönen Spätsommertag waren M, die Radfahrerin, und ich von Eltville aus zu einem Spaziergang nach Oestrich-Winkel gestartet. Das Städtchen mit dem wohlklingenden Namen kannten wir noch nicht. Wikipedia sagte etwas von Tourismus und Weinbau. Das war nicht sonderlich überraschend im Rheingau. M und ich hatten bislang nur gemeinsame Radtouren unternommen, zusammen spaziert waren wir noch nie. Auch dieser Ausflug also ein kleines Experiment. Ich hatte keine Bedenken, wir konnten entspannt zusammen Radfahren, dann würden wir auch einen gemeinsamen Spaziergang genießen können. Kaum in Eltville angekommen, suchten wir zunächst den Weinstand für einen ersten Riesling auf. Der Eltviller Weinprobierstand wird fast ganzjährig in regelmäßigem Wechsel von acht örtlichen Winzern betrieben. Die Promenade war gut besucht. Auf einer Bank unter Platanen fanden wir Platz, tranken Wein und schauten auf den Fluss. Eine große, weiße Jacht drehte in provozierender Langsamkeit einige Angeberrunden. M war übermüdet und etwas niedergeschlagen an diesem Tag. Das besserte sich bald durch die Luft, den Fluss und den Wein. Im Laufe des folgenden Spaziergangs hellte sich ihr Gemüt immer weiter auf, auch wenn dieser landschaftlich eher reizlos war. Der Weg war enttäuschend, das krasse Gegenteil zum unbefestigten Pfad zwischen Schierstein und Eltville. Ein Großteil war asphaltiert und verlief zwischen Fluss und einer stark befahrenen Bundesstraße. Etliche Radfahrer kamen uns entgegen oder überholten knapp. Entspannend war das nicht. Wenigstens für ein kurzes Stück ging es durch ein Wäldchen. Ein Campingplatz mit Biergarten lud zu einer Rast unter Bäumen. Wir tranken Hofbräuhausbier aus München, was uns etwas deplatziert vorkam, aber dennoch gut schmeckte. M wirkte mittlerweile ganz gelassen und zufrieden. Hunger machte sich bemerkbar, essen wollten wir aber erst in Oestrich-Winkel. Es war nicht mehr weit, schon in Sichtweite lag unser Ziel, malerisch am Ufer des Rheins, vielleicht noch drei Kilometer. Wir verließen den gastlichen Ort und spazierten weiter, erneut einquetscht zwischen Bundesstraße und Fluss. Je mehr wir uns Oestrich näherten, desto deutlicher offenbarte sich jedoch eine hässliche Gewissheit. Oestrich-Winkel, das Rheingaustädtchen mit dem schönen Namen, lag gar nicht am Rhein sondern an der B42. Kein Weinprobierstand am Ufer des Flusses, keine Menschen, die die Ruhe, den Blick und den Wein genossen. Nichts von dem, was wir erwartet hatten und von Schierstein, Walluf und Eltville kannten, nein, eine lärmende und stinkende Bundesstraße trennte die Stadt brutal von ihrem Fluss. Eine graffitiverzierte Unterführung, die an den Ratswegkreisel in Frankfurt erinnerte, stellte den Zugang zur Stadt her. Viel unfreundlicher kann man Spaziergänger nicht empfangen. Oestrich-Winkel, eine Stadt ohne Fluss. Das eigentlich ganz pittoreske Städtchen war nicht nur vom Fluss abgeschnitten, nein, es schien, als sei der Ort auch vom Leben abgeschnitten. Niemand war unterwegs, die Straßen ausgestorben, von Tourismus war hier nichts zu spüren. Fluchtgedanken, wann fuhr der nächste Bus nach Eltville? Ein älteres Pärchen irrte orientierungslos durch die Gegend, fragte uns, wo man einkehren könne. Wir konnten nicht helfen, uns ging`s genauso. Es war auch sonst niemand unterwegs, der vielleicht hätte helfen können. Eine Weile streiften wir durch den Geisterort, bis wir uns plötzlich, wie aus dem Nichts, vor dem Gutsausschank des Weinguts Andreas Kühn fanden. Wir zögerten nicht. Einige Tische im Innenhof waren besetzt, andere noch frei. Es gab also doch Leben in Oestrich-Winkel. Endlich sitzen. Auch das Pärchen von vorhin hatte den Weg hierher gefunden. Der, von einer großen Platane dominierte, Garten war einladend. Im Nachbargrundstück hüpfte ein Dutzend Halsbandsittiche, wie sie auch im Biebricher Schlosspark heimisch waren, durch einen Baum und flatterten, wie auf Kommando, plötzlich davon. Die Bedienung war freundlich, das Essen und der Wein ausgezeichnet. Unser kleiner Ausflug nahm ein versöhnliches Ende. Und doch fragte ich mich, weshalb die Menschen dieses Ortes die B42 nicht schon gesprengt oder sonst wie unbrauchbar gemacht haben.
Gegen 20 Uhr brachen wir gesättigt auf zum Bahnhof, der, wenig überraschend, einen recht heruntergekommenen Eindruck machte. Das kannten wir auch aus Eltville. Zur Versorgung stand ein Getränkeautomat bereit. Zum Glück ist der Zustand dieser Eisenbahnbauten nicht symptomatisch für den Rheingau. Der Zug hatte zwanzig Minuten Verspätung und wir waren in die nächste Tarifstufe spaziert. Das Ticket nach Frankfurt war vier Euro teurer als von Eltville aus.
Rheinsteig
Erstmals im Rheingau war ich vor einigen Jahren mit M.. Es war nicht die M., neben der ich jetzt in der RB10 saß und auch nicht M., die Radfahrerin. Es war M. aus Sachsenhausen, die erste M., sozusagen. Wir trafen uns an Gleis 23, an dem die RB10 bereit stand. Sie konnte mich mit ihrer Monatskarte mitnehmen. Ich war neugierig. Dass wir zusammen gut würden spazieren können, wusste ich, wir hatten schon manch gemeinsamen Gang unternommen. Fisherman`s Friend, Geschmacksrichtung Anis, brauchte ich ihr gar nicht erst anbieten, sie mochte es nicht. Ich war neugierig auf den Rheingau. Es war einzig meiner Trägheit geschuldet, dass ich mich in all den Jahren, die ich nun schon in Frankfurt lebte, noch nicht aufgerafft hatte, dorthin zu fahren. Vor vielen Jahren war ich mal im Verlauf eines Fahrradurlaubs mit einem Freund aus Berlin in Eltville. Damals hielt ich allerdings noch nichts von deutschem Wein, trank ausschließlich französischen, noch dazu roten. Mit Riesling und dergleichen hatte ich nichts am Hut. Diesen Besuch hatte ich daher fast schon wieder vergessen. M. und ich fuhren bis Biebrich und liefen zunächst denselben Weg, den ich jetzt mit der Bornheimer M. ging. In Schierstein verließen wir das Rheinufer, um dem Rheinsteig zu folgen. Dieser Wanderweg beginnt am Biebricher Schloss und ist selbstverständlich ausgeschildert. M. kannte sich aus, sie war dort schon mehrere Male gewesen. Wir durchquerten Weinberge, nur wenige andere Spaziergänger kreuzten unseren Weg, und genossen den Blick über das Rheintal und die Ruhe. Unser Ziel war Kiedrich. Dazu mussten wir den Rheinsteig verlassen, das Städtchen wäre über den Wanderweg erst in zwei Tagesetappen erreichbar gewesen. Also mussten wir abkürzen und hatten irgendwann die Orientierung verloren, besser, M hatte die Orientierung verloren, ich hatte ja keine. Die grobe Richtung wusste sie, und eine freundliche Spaziergängerin wies uns den Weg. Da lang. Wir kraxelten längs einer Steinmauer, die einen Weinberg einschloss, einen steilen Hang hinauf. Plötzlich wurde die Rheingauruhe jäh unterbrochen, zwei Motocrossfahrer pflügten mit ihren Maschinen durch den Waldboden hangaufwärts, überholten und nebelten uns ein. Oben waren wir wieder auf dem Weg zu unserem ersten Ziel, Kloster Eberbach. Szenen aus dem Film „Der Name der Rose“, der hier gedreht wurde, kamen mir in den Sinn. Wir waren nicht die einzigen Besucher an diesem Nachmittag, die Parkplätze gut belegt. Nach einem Rundgang und einem Kaffeepäuschen setzten wir unseren Weg nach Kiedrich fort. Knapp vier Kilometer trennten uns von diesem Ort, von dem ich noch nie gehört hatte. Es ging bergab und M führte uns über geheimnisvolle Wege. Gelegentlich fragte ich zweifelnd, ob wir wirklich hier lang müssten. Sie ließ mich reden und stapfte zielstrebig voran, schließlich kannte sie die Gegend. Ich folgte und war froh, als wir endlich das kleine, sehr ansehnliche Winzerstädtchen erreichten. Die Beine wurden mir schwer und ich hatte Hunger und Durst. In einer urigen Straußwirtschaft kehrten wir ein zu regionaler Hausmannskost und Riesling. Nach einem abschließenden Kaffee setzten wir ausgeruht unseren Weg fort, talwärts nach Eltville. Der Weg, den M wählte, erschien mir stellenweise erneut recht abenteuerlich, aber ich schwieg und trottete hinterher. Es dämmerte und als wir den Bahnhof von Eltville erreichten, war es fast schon dunkel. Zum Glück kam der Rheingauexpress umgehend, so blieb uns ein längerer Aufenthalt an diesem zugigen Unort erspart. M war ich sehr dankbar für diesen Tag, unser kleiner Ausflug verlief in schönster Vertrautheit. Meine Liebe zum Rheingau war geweckt.
Biebrich – Kiedrich
Im Sommer des darauf folgenden Jahres wollte ich den selben Weg mit J, einer alten Freundin aus der Wetterau, gehen. Keine M also dieses Mal. Wir waren schon öfter längere Wege durch Frankfurt gestiefelt, so dass ich wusste, ein größerer gemeinsamer Ausflug zu Fuß würde kein Problem sein. Auch wir starteten in Biebrich, verließen, wie im Jahr zuvor mit M, in Schierstein das Rheinufer und folgten dem Rheinsteig. An diesem Tag war ich der Reiseleiter, fühlte mich durch den Ausflug mit M bestens gewappnet. Schließlich war ich die Strecke schon einmal gegangen. Frohgemut durchquerten wir Schierstein, immer den Symbolen des Rheinsteigs folgend. Ein Bach geleitete uns langsam bergan in die Weinberge, der Blick über das Rheintal wurde weiter. Oberhalb von Frauenstein kehrten wir in einem Ausflugslokal auf einer Burg ein, aßen Fabrikkuchen und tranken Kaffee. Weiter ging der Weg, hinab nach Georgenborn, und wieder hinauf, immer dem Symbol folgend. Gelegentlich erinnerte ich mich an Wege und Orte, die M und ich im Vorjahr auch passiert hatten. Kiedrich konnte also nicht mehr allzu weit entfernt sein. Ich freute mich auf die Straußwirtschaft, eine deftige Mahlzeit und den Riesling. Das beschleunigte den Schritt. Wir waren guter Dinge, freuten uns an der Landschaft, dem Ausblick und dem Wetter. Die Wetterauerin war etwas gesprächiger als M., M., und M. Aber auch das hielt sich in sehr erträglichen Grenzen. Wir folgten einem breiten Weg, ständig leicht bergan, durch einen Wald. Der Weg zog sich, mir kam die Gegend völlig unbekannt vor. Hier waren wir nicht gewesen, M. und ich, vor einem Jahr. Jetzt hatten wir schon etwa zwölf Kilometer in den Beinen, unser Ziel konnte nicht mehr weit sein. J. äußerte verhalten Unmut, sie hatte Probleme mit den Knien. An einer Weggabelung bemühte sie das Navi ihres Telefons. Nach Kiedrich seien es noch vierzehn Kilometer, das würde sie heute nicht mehr laufen. Leider hatte ich keine Salbeibonbons dabei, die hätte sie genommen, nicht jedoch Fisherman`s Friend, Geschmacksrichtung Anis. Ich hatte nicht nur die Bonbons vergessen, sondern auch dass M uns vom Rheinsteig weggeführt hatte, um abzukürzen. Und ich hatte bei der Planung übersehen, dass Kiedrich auf dem Wanderweg erst nach zwei Tagesetappen erreicht würde. Als Reiseleiter hatte ich komplett versagt. Dankenswerterweise hielt sich ihr Missmut in Grenzen. Statt dessen übernahm sie das Kommando und marschierte entschlossenen Schritts den Weg zurück, den wir gerade erst gekommen waren. Sie wollte tatsächlich irgendwo ein Taxi auftreiben und nach Biebrich fahren. Ein freundlicher Mann an irgendeinem Weiler sagte, nachdem wir gefragt hatten, wieso Taxi, dahinten sei Frauenstein, von dort führe ein Bus. Es seien nur ein paar Minuten. Diese paar Minuten zogen sich dann zu einer halben Stunde. Oberhalb des Ortes thronte die Burg, an der wir vor Stunden gerastet hatten. Der Bus fuhr in einer Stunde und ein Taxi war weit und breit nicht aufzutreiben. Ein Wegweiser für Radfahrer wies nach Schierstein, nur drei Kilometer. Das schaffen wir jetzt auch noch, bestimmte J und marschierte los, in einem Tempo, dem ich kaum folgen konnte. Sie wollte diesen Ausflug zu Ende bringen, so schnell wie möglich, ihr schmerzendes Knie ignorierend. Endlich, Schierstein. Wir waren bestimmt siebzehn, achtzehn Kilometer gelaufen und erleichtert, in einem Gartenlokal die müden Beine ausstrecken zu können. Die Stimmung war sehr entspannt, ich musste mir keine Vorwürfe anhören. Im Fernsehen lief Fußball, es war WM, Deutschland längst ausgeschieden. Das Bier schmeckte so gut wie schon lange nicht mehr. Es gab Fisch, darauf war das Lokal spezialisiert. Anschließend fuhren wir mit dem Taxi nach Biebrich. Den Besuch in Kiedrich holten wir nach, allerdings ohne Experimente. Biebrich, Rheinufer, Schierstein, Walluf, Eltville. Dort zwei Stunden Rast mit Riesling, Wasser und Brezeln. Anschließend die vier Kilometer bergan durch Weinberge längst des Rheinsteigs, nach Kiedrich. Die Straußwirtschaft war geöffnet, wir fanden einen Platz im Hof und fühlten uns sehr wohl. Schnell kamen wir mit dem älteren Ehepaar ins Gespräch, das sich an unseren Tisch gesellte („wir sind beide kürzlich zweimal vierzig geworden“). Sie freuten sich auf das autofreie Wochenende im Mittelrheintal, das bald anstand und wollten dann in Ruhe am Ufer des Rheins entlang radeln. Das konnte ich gut verstehen. Auch die Menschen in Oestrich-Winkel würden sicherlich Freude an diesen autofreien Tagen haben.
Walluf – Eltville
Wir näherten uns dem Ziel unseres Kurzurlaubs, Eltville. Das Rheinufer war voll mit Buden, Menschen und Biergartengarnituren. Die Stadt beging das jährliche Sekt-und Biedermeierfest. Einige Teilnehmer waren stilecht ausgestattet. Der Weinstand umringt von einer Traube Durstiger. Mit etwas Geduld gelang es uns, zwei Gläser Riesling zu ergattern, Nr 1, der trockene. Wir fanden zwei Plätze, M besorgte Flammkuchen an einem der Stände. Auf dem Rhein bretterten einige Jetski-Piloten laut lärmend flussabwärts. Nach zwei weiteren Riesling brachen wir auf zum Bahnhof und bestiegen den Rheingauexpress, der uns zurück nach Frankfurt brachte. Einige Mitreisende ließen ihren Ausflug nach Rüdesheim stimmgewaltig und feuchtfröhlich ausklingen. Ein schöner Tag näherte sich seinem Ende.
An einem unwiderstehlichen Herbstsonntag im Oktober spazierte ich alleine längs des Rheinufers, von Schierstein nach Eltville. Keine der drei M hatte Zeit. Auf der Rückfahrt musste ich mich mit einem letzten Fisherman`s Friend, Geschmacksrichtung Anis, begnügen.