Was bedeutet Kochen und Essen im Alltag für Dich?

Teil zwei des Blogstöckchens „Die Welt auf dem Teller“, das Wibke Ladwig in den Ring geworfen hat.

Ich schreibe dies, nachdem ich was vom Vortag aus dem Kühlschrank in die Pfanne geworfen, aufgewärmt und lustlos verzehrt habe. Also, ich hatte weder Lust zu kochen noch zu essen. Es musste sein, ich hatte Hunger. Es hat nicht so besonders geschmeckt, aber ich war satt und musste nichts wegwerfen.

Ansonsten ist die Frage eine schwierige und komplexe, die ich nicht eindeutig beantworten kann. Vielleicht sollte ich vorausschicken, dass ich nicht kochen kann. Niemand hat es mir beigebracht. Daher passt die oben erwähnte Speise ganz gut zu mir.

Zu oft habe ich Sachen verbrennen oder verkochen lassen. Ich lasse mich zu gerne ablenken. Wenn die Spaghetti zum Beispiel köcheln, ebenso die Soße im Topf, lasse ich mich auch mal verleiten, an den Computer zu gehen. Es könnte ja was passiert sein. Dann lese ich mich irgendwo fest, bis ich mich an das Essen auf dem Herd erinnere. Meist sind dann die Nudeln verkocht und die Soße angebrannt. Dergleichen ist mir schon relativ häufig passiert. Das landet dann im Müll und ich mache Spiegeleier.

Oft habe ich keine Lust zu kochen. Dann geh ich zum Italiener und ess ne Pizza. Gelegentlich mag ich auch nicht essen, spüre nur die Notwendigkeit. Wenn ich zu faul zum Kochen bin, aber doch was essen will, aber nicht schon wieder zum Italiener (kostet ja auch immer Geld), begnüge ich mich oft mit Käse, Baguette oder Grissini und Rotwein. Ein paar Oliven ergänzen das karge Mahl. Außerdem erinnert mich das an Frankreich. Das empfinde ich als ungemein entspannend. Gute Musik dazu, das hat was. Oder ich mache mir eine Fischkonserve auf. Habe ich immer da, Ölsardinen, Thunfisch, Makrelen. Alles köstlich. Außerdem lässt sich aus Thunfisch mit ein paar Tomaten, Zwiebeln und Knoblauch auch mal schnell eine leckere Spaghettisoße basteln. Geht natürlich auch ohne Thunfisch.

Käse und Rotwein

Vielleicht muss ich sagen, dass ich alleine wohne. Ich kann nicht für nur eine Person kochen, es sei denn Spaghetti Aglio e Olio, mein geheimes Lieblingsgericht. Aber selbst das misslingt mir gelegentlich. Ich koche immer zu viel. Mein Gefrierfach ist voll mit Tupperdosen, in denen irgendwas drin ist. Was das ist, muss ich oft raten, denn ich beschrifte die Behälter nicht. Für mich alleine zu kochen ist kein Problem, das kenne ich schon lange. Und jetzt komme ich zum ersten Teil der Frage.

Seit dem ersten Shutdown im Frühjahr 2020, habe ich viel öfter gekocht. Das Beste was ich tun konnte. Nicht die schlechteste Art, sich die Zeit zu vertreiben. Irgendwann hat sich daraus die Improvisationsküche entwickelt. Die Ergebnisse poste ich auf Facebook. Es gibt Leute, denen gefällt das. Die Improvisationsküche macht wirklich viel Spaß. Sie heißt so, weil ich mich nicht zum Sklaven von Rezepten mache. Wenn ich mal was wissen will, dann frage ich beispielsweise auf Twitter, ob Knoblauch besser geschnitten oder gepresst werden soll. Die Antworten waren eindeutig, geschnitten. Seitdem mache ich das nur noch so. Durch die Improvisationsküche lerne ich. Wenn was schief geht, dann weiß ich mittlerweile, wieso es schief ging und was ich beim nächsten Mal besser machen muss. Ich traue mich in der Improvisationsküche auch gerne an bislang unbekannte Speisen. Irgendwann stieß ich zufällig auf Hähnchenpiccata. Ich hatte das noch nie gehört, es klang aber verlockend. Also habe ich es ausprobiert, es ist gelungen und war köstlich. Ein Fest.

Kochen ist aber weit mehr als der eigentliche Vorgang in der Küche. Kochen heißt auch, zu überlegen was ich zubereiten will. Und Kochen heißt natürlich auch immer Einkaufen. Ich habe mir inzwischen angewöhnt, fast alles auf Märkten zu besorgen, bei Erzeugern aus der Region. Und dann bevorzugt bei Biobetrieben. Es ist aber noch mehr als das Besorgen. Ich gehe immer zu Fuß auf die Märkte. Die sind in der Innenstadt, an der Konstablerwache oder in der Schillerstraße. Der Markt bei mir um die Ecke interessiert mich nicht, der liegt zu nah. Ich brauche das Spazieren. Alles gehört zusammen. Oft schleppe ich zwei volle und auch recht schwere Stoffbeutel nach hause, in der Umhängetasche noch eine Flasche Riesling vom Winzer auf dem Markt. Aber ich mache das gerne, es gehört dazu. Zuhause werden die Schätze in der Küche ausgebreitet. Und dann wird irgendwann angefangen zu kochen. Zunächst muss jedoch der richtige Wein im Glas sein, und, ganz wichtig, die passende Musik ausgewählt (früher habe ich zum Beispiel sehr gerne Frank Zappa beim Kochen gehört). Dann ist alles bereit. Vom Spazieren, über den Einkauf auf dem Markt, hin zum Schnibbeln und Zubereiten bis zum Wein und der Musik, all das gehört zusammen. Oft rundet das Ganze ein Espresso und ein Schnaps ab. Nicht zu vergessen der Abwasch, denn ich habe keine Spülmaschine. Das ist Kochen für mich. Und wenn das Ergebnis auch noch schmeckt, umso besser. Das kommt so etwas wie Glück sehr nahe. Da ich den esoterischen Begriff „ganzheitlich“ hasse, ist es für mich einfach eine runde, sehr beglückende Angelegenheit.

Küchenecke

Vor Kurzem habe ich angefangen, Gäste in meine Improvisationsküche einzuladen. Immer nur einen oder eine. Wir leben schließlich in Zeiten der Pandemie. Die Gäste gehen ein gewisses Risiko ein, weil ich ja nie weiß, ob es halbwegs gelingt oder nicht. Sind dann halt auch Versuchskaninchen. Zur Not bleiben immer noch Spiegeleier, Käse oder Thunfisch. Bislang waren sie aber immer zufrieden.

Essen ist etwas völlig anderes. Vor allem alleine essen. Essen geht zu schnell. Mein Vater sagte immer, zwei Stunden gekocht, in zehn Minuten gegessen. Wenn es schmeckt und ich habe es zubereitet, klar, siehe oben. Im Grunde finde ich Essen lästig, es muss halt sein. In Gesellschaft ist das was anderes. Das macht Spaß. Ein gutes Gespräch beim Essen mit einem oder mehreren lieben Menschen ist natürlich immer ein wunderbares Erlebnis. Natürlich ganz besonders wenn es schmeckt.

Meine Essgewohnheiten haben sich auch verändert im Laufe der Zeit. In jüngeren Jahren war das Frühstück immer die wichtigste Mahlzeit des ganzen Tages für mich. Da habe ich den Tisch gedeckt, bin losgelaufen, habe Brötchen und Zeitung geholt und diesen Tagesauftakt tatsächlich genossen und zelebriert. Dazu sollte ich wohl sagen, dass ich nichts zu Mittag esse. Ich frühstücke und später gibt es Abendessen. Zwischendrin etwas Obst oder auch was Süßes. Meine Frühstücksgewohnheiten haben sich mittlerweile komplett geändert, was vielleicht auch daran liegt, dass ich keine Lust habe, morgens, verschlafen, das Rad aus dem Keller zu holen um bei einem guten, aber entfernten Bäcker Brötchen zu holen. Ich habe Brot vom Markt, decke keinen Tisch mehr, sondern schmiere mir Brote in der Küche während der Tee zieht. Jeden Tag dasselbe, mehr oder weniger.

Eine Ausnahme muss ich machen zu Rezepten und Kochbüchern. Vor vielen Jahren habe ich gerne Sachen aus der „Kräuterküche“ von Maurice Mességué ausprobiert. Oft so kompliziert, dass ich auf Anleitungen angewiesen war. Meine Hits waren z.B. Kaninchen in provenzalischer Kapernsauce oder Hähnchen in Estragonsauce. Ich sollte mich vielleicht mal von Mességué zu Improvisationen inspirieren lassen.

Mal sehen, was ich am Donnerstag auf dem Markt kaufe.

Keep On Cooking In A Free World.

Wonach schmeckte Deine Kindheit?

Inspiriert von Doris Dörries Buch Die Welt auf dem Teller hat Wibke Ladwig ein „Blogstöckchen“ in den virtuellen Raum geworfen. Eine Woche lang stellt sie täglich eine Frage zum Thema Kochen und Essen, die alle, die sich bemüßigt fühlen, in irgendeiner Form beantworten können. Schlauerweise hat sie sich für die Aktion den Diogenes Verlag als Unterstützung ins Boot geholt. Eine sehr schöne Aktion, bei der ich gerne mitmache. Mehr dazu hier.

Mir gefällt das Thema, habe ich mich doch, nicht zuletzt bedingt durch Corona, in den letzten Monaten mehr mit dem Kochen beschäftigt. Nicht dass ich früher nicht auch schon gerne gekocht hätte, ich war jedoch wenig einfallsreich und risikoscheu, außerdem oft schlicht unfähig. Jetzt traute ich mich auch an Sachen, die mir bislang unvertraut waren. Die Ergebnisse poste ich anschließend auf Facebook, incl. des Weins den ich getrunken und der Musik, die ich beim Kochen gehört habe. Für mich gehört das alles zusammen. Eigentlich kann ich nicht kochen, zu oft habe ich irgendwas verkocht, in der Pfanne über Gebühr geschwärzt oder im Ofen vertrocknen lassen. Aber ich lerne. Nicht zu viel Hitze und nicht zu viel Öl, damit fahre ich mittlerweile ganz gut. Improvisationsküche nenne ich die ganze Angelegenheit, weil mich Rezepte nicht so besonders interessieren, insbesondere Mengenangaben. Ich schaue dort nach den Basics, der Rest ergibt sich. Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass ich meine Küche nicht mag. Es ist kein Platz für einen Tisch und die Arbeitsfläche ist sehr schmal. Außerdem steht der Herd links vom Schneidebrett, was ich, als Rechtshänder, sehr lästig finde. Zu allem Überfluss ist die Ceran-Kochfläche, aus Gründen, die nur der Vormieter kennt, schräg. Langsam gewöhne ich mich dran. Aber immerhin ist der Ausblick aus dem Fenster schön.

Die erste Frage, die Wibke stellte, lautete: „Glück, Heimat, Trost, Abenteuer oder „Igittigitt“: Wonach schmeckte Deine Kindheit?“

Das ist für mich gar nicht so leicht zu beantworten, denn meine Kindheit hatte vielerlei Geschmäcker. Meine Mutter war eine recht gute Köchin (mein Vater hingegen war nicht mal in der Lage ein Spiegelei zu braten), die ein gewisses Repertoire an Gerichten beherrschte, die in schöner Regelmäßigkeit immer wieder auf dem Tisch landeten. Sie machte Sachen, die heute weitgehend vergessen sind, Grüne Bohnen sauer einwecken z. B. Die wurden dann als Saure Bohnen mit Salzkartoffeln und Speck serviert. Eine Köstlichkeit sondergleichen. Sehr gut waren auch ihr Hühnerfrikasse und die Königsberger Klopse. Beides habe ich geliebt. Als ich mich eines Tages an Frikasse versuchte, war ich enttäuscht. Ich kam nicht annähernd an den Geschmack heran, den meine Mutter gezaubert hatte und der mir vorschwebte. Manchmal blieb die Küche auch kalt. Etwas Besonderes war es dann, wenn Tartar besorgt wurde. Das auf frischem Brot, köstlich. Dazu gab es merkwürdigerweise immer Kakao, aufgekocht mit richtigem Pulver. Instantzeug gab es damals noch nicht, und wenn doch, dann gab es das bei uns nicht. Der Nachteil war, dass der Kakao von einer unappetitlichen Haut überzogen war. Das hat das Vergnügen doch merklich geschmälert. Bei Süßkram denke ich sehr gerne an den Griesbrei mit Pflaumenkompott. Auch das habe ich seit Kindertagen nicht mehr gegessen.

Ein besonderer Festtag aber war, wenn meine Mutter Schinkennudeln auf den Tisch brachte. Sie nutzte dazu einen Topf aus feuerfestem Glas. Dort füllte sie die vorgekochten Bandnudeln ein, gab Sahne, gewürfelten Kochschinken und Gewürze bei, rührte um und stellte den Topf in den Backofen. Oben bildete sich dann eine köstliche, knusprige Kruste, die von allen sehr begehrt war. Im Innern waren die Nudeln schön saftig und flutschig. Dazu gab es immer einen grünen Salat, der leicht gezuckert sein musste. Es war immer wieder ein Fest. Meine Mutter jedoch mochte keine Nudeln. Ihre Leibspeise waren Kartoffeln. Mit einem Teller voller Erdäpfel, etwas Soße und Gemüse war sie glücklich. Den Glastopf habe ich aus dem Nachlass meiner Eltern gerettet und benutze ihn sehr gerne. Schinkennudeln fanden bislang in der Improvisationsküche noch nicht statt, das wird aber demnächst nachgeholt.

Der Glastopf

Ein anderes Fest waren ihre eingelegten Heringe. Sie füllte dazu einen schmalen, hohen Steinguttopf mit den Heringen, Sahne, Zwiebeln, Gurken und Gewürzen und ließ das alles eine Weile ziehen. Auf den Teller kam diese kulinarische Sensation in Begleitung von Salzkartoffeln und Butter. Um den Inhalt auf die Teller zu verteilen, nutze sie einen langen schmalen Löffel, dessen Griff das Wort „Weck“ zierte. Vielleicht ein Löffel, um beim Kochen von Marmelade die Fruchtmasse umzurühren. Ich habe keine Ahnung. Topf wie Löffel befinden sich heute ebenfalls in meiner Küche, der erste beherbergt Kochlöffel und anderes Werkzeug, der Löffel fristet wohl behütet seinen Ruhestand. Heringe werde ich sicherlich niemals einlegen, ich liebe aber nach wie vor Matjes Hausfrauenart.

Der Steinguttopf

Guten Appetit.

Das Krisen-Photo zum Donnerstag

Eines meiner liebsten wöchentlichen Rituale ist der donnerstägliche Gang zum Erzeugermarkt an der Konstablerwache. Dort trinke ich ein-zwei Schobbe und esse irgendwas. Dann kaufe ich ein. Ich habe schon gelegentlich darüber geschrieben. Wann ich angefangen habe, mein Schobbeglas mit dem Deggelsche zu photographieren und auf Facebook zu veröffentlichen, weiß ich nicht mehr, bin auch zu faul, um zu recherchieren. Jedenfalls hat sich daraus eine kleine harmlose Spielerei ergeben und einige Leute haben Gefallen gefunden an diesen „Photos zum Donnerstag“, wie ich sie immer nenne. Die Bilder sahen meist so ähnlich aus wie dieses hier unten.

Photo zum Donnerstag

Mit den Corona-Schutzmaßnahmen, die ab Mitte März 2020 griffen, war das Photo zum Donnerstag in dieser Form nicht mehr möglich, denn der Ausschank auf dem Markt an der Konstablerwache wurde eingestellt. Es durfte dort nichts mehr verzehrt werden. Na gut, dachte ich mir, trinke ich meinen Schobbe halt zuhause und mache das Photo dort auf meinem Balkönsche. Das erste, das ich dann „Das Krisen-Photo zum Donnerstag“ nannte, war das vom 19. März. Ohne dass ich es beabsichtigt hatte, war das Glas unscharf dargestellt, nur der Baum im Hintergrund war scharf. Erst wollte ich es löschen, dann aber gefiel es mir. Ich hatte den Eindruck, das unscharfe Glas würde die Krise vielleicht ganz treffend illustrieren. Und ich hatte die Idee, mit dem Motiv zu spielen, auszubrechen aus der gewohnten Form. Dabei versuchte ich, eine gewisse Dramaturgie einzuhalten.

Spätestens als ich für das Photo vom 23. April ein Geripptes (so heißen diese Gläser) aus dem Nachlass meiner Eltern zerdepperte, wurde es völlig beliebig. Aber es hat sehr viel Spaß gemacht, mit dem „Photo zum Donnerstag“ auf diese Art zu spielen. Auch freute ich mich immer auf die, für meine Verhältnisse, zahlreichen Reaktionen und Kommentare. Sogar in Kanada wurden die Donnerstagsphotos wahrgenommen. Das erfolgreichste dieser Krisenphotos war das vom 02. April, das mit der Luftpolsterfolie. Das Bild vom 25. Juni war dann das erste, dass ich wieder auf dem Markt machte. Ich nannte es immer noch Krisen-Photo. Das Glas traut sich nicht so recht ins Bild, verharrt am Rand, mir war die Sache nicht geheuer. Eine Facebook-Freundin, die schon lange Gefallen an diesen Photos gefunden hatte, fand die Krisen-Photos dann allerdings recht deprimierend und schenkte mir zur Aufheiterung dieses schöne Halbliter-Gerippte mit Goldrand und Schleifchen. Eine Geste, über die ich mich sehr gefreut habe. Das Bild postete ich außerhalb der Reihe am 18. Juli unter dem Titel „Freude-Photo zum Samstag“. Seit dem 02. Juli geht es wieder gewohnt weiter mit den „Photos zum Donnerstag“, bis Corona wieder verstärkt zuschlägt und auf dem Markt wieder jeder Verzehr untersagt wird.

Das Freude-Photo zum Samstag

Die Vergangenheit

In der Vergangenheit war mir die Zukunft egal. Selbst die nähere Zukunft. Wollen wir im September in Urlaub fahren? Es ist Februar, woher soll ich wissen was im September ist! Rente? Darum kümmere ich mich, wenn`s soweit ist. Sparen? Was denn? Heiraten, Kinder? Nichts für mich. Ich war nie vorsorgend, daher hamstere ich jetzt auch nicht in dieser Corona-Krise. Dafür konnte niemand vorsorgen. Vor allem, wann fängt Zukunft an? In der nächsten Stunde, am nächsten Tag, nächste Woche? Es galt nur das Jetzt.

Vielleicht liegt es ja am fortschreitenden Alter, dass die Vergangenheit jetzt immer näher rückt. Wer kennt es nicht, man erinnert sich im Laufe seines mittlerweile schon längeren Lebens gelegentlich an andere Menschen, die dieses eigene Leben für eine Weile begleitet haben. Meist sind es angenehme Erinnerungen, die unangenehmen werden verdrängt. So denkt man zurück an Schulfreunde, andere Freunde, Freundinnen, Kollegen, Kolleginnen und Geliebte. Sie alle haben ihren Anteil daran, dass man zu dem geworden ist, der man jetzt ist. Und man bemüht eine Suchmaschine, um den einen oder die andere ausfindig zu machen. Manche werden gefunden, andere nicht. Wieder andere hat man seit vielen Jahren aus den Augen verloren, weil sich die Lebenswege so komplett unterschiedlich, oft auch an anderen, entfernten Orten, entwickelt haben. Die Mailadresse hat man aber trotzdem noch. Es wäre also ein Einfaches, sich mal zu melden. Wie oft habe ich gedacht, das einfach mal zu tun. Es blieb beim Gedanken.

Glücklicherweise sind nicht alle so wie ich. Bei mir standen in den letzten Monaten drei Menschen aus unterschiedlichen Phasen meines Lebens vor der virtuellen Tür, zwei Männer und eine Frau. Ich kenne sie seit 30, 40 und 50 Jahren, mindestens. Mit dem einem teilte ich die Schulbank in Schwäbisch Gmünd, der andere war mein Nachbar in Berlin und mit der Frau verband mich eine wunderbare Liebschaft, die 1979 in Mainz ihren nicht allzu langen Lauf nahm.

Hase

Den Anfang machte „Hase“. „Hase“ ist ein anonymer Twitteraccount, der mir folgte, neben drei weiteren. Kein Photo, keine Beschreibung, kein Name. Nichts, das nackte Rätsel. Mann oder Frau? Völlig ungeklärt. Aber Hase schien mich zu kennen, reagierte regelmäßig auf meine Tweets, nannte auch Details aus meinem Leben, zum Beispiel wusste Hase, wo ich in Berlin gewohnt hatte. Ich habe nie reagiert. Bis auf eine Ausnahme. Als Hase schrieb, er/sie sei von einem Autofahrer vom Rad geholt worden und läge jetzt eine Woche im Krankenhaus, habe ich „unbekannterweise“ gute Besserung gewünscht. Auch daraufhin hat sich Hase nicht vorgestellt. Ich überlegte lange, den anonymen Account einfach zu blocken, fand es sehr unhöflich, mit jemandem kommunizieren zu wollen, ohne sich vorzustellen. Auch twitterte ich eines Tages, dass ich anonymen Accounts nicht folgen würde. Keine Reaktion. Dann erwähnte ich Hase explizit in einem Tweet. Ich machte meinem Unmut Luft und schrieb, ich würde den Account blocken, wenn die Person sich nicht zu erkennen gäbe. Aber Stefan, begann die schnelle Reaktion, ich dachte, du weißt wer ich bin, ich bin W. Da war ich erstaunt. W war in Berlin mein Nachbar. Er wohnte im Hinterhaus, ich vorne. Wir lernten uns kennen, wie genau weiß ich nicht mehr, und freundeten uns an, nicht zuletzt wegen einiger gemeinsamer Interessen. Fußball, Bier, Musik, da vor allem Frank Zappa. Natürlich war das Spektrum, das uns beschäftigte, wesentlich weiter gefasst. Aber das war die Basis. Er war auch ein großer Leser. Auch das passte. Als 1998 Schröder, Lafontaine und Fischer die Bundestagswahl gewannen, haben wir den Abend in unserer Stammkneipe, der „Volkskammer“ in Kreuzberg, verfolgt. Als der Abend beendet war und die Ergebnisse fest standen, waren wir volltrunken. Dabei hatte W eigentlich nichts für SPD oder Grüne übrig, er war Marxist.

Irgendwann ging er nach Edinburgh, hatte einen Job in der Uni. Und auch eine Freundin. Ich bedauere, dass ich ihn nie dort besucht habe. Aber wir haben regelmäßig telefoniert. Seit über zwanzig Jahren ist W nun schon Prof. an der Uni von York. Dort habe ich ihn auch einmal besucht. Auf irgendeinem Kongress lernte er eines Tages eine Frau aus Argentinien kennen und lieben. Sie heirateten in Buenos Aires. Ich durfte Trauzeuge ein. W lud mich ein und bezahlte den Flug. C, die direkte Nachbarin aus Ws Hinterhaus kam auch mit. Wir wohnten bei Verwandtschaft der Braut in Palermo, einem Stadtteil von Buenos Aires, dem Jorge Louis Borges ein literarisches Denkmal gesetzt hat, und blieben zwei Wochen. Auch als ich nach Frankfurt zog, hielten wir den Kontakt aufrecht. Meist telefonierten wir am Sonntag, sie besuchten mich auch mal in Frankfurt. Dann verloren wir uns aus den Augen. Wie`s halt manchmal so geht. Er gehört zu denen, deren Mailadresse ich noch hatte. Gemeldet habe ich mich nicht, dran gedacht aber schon. Es ist also W, alias „Hase“ zu verdanken, dass wir wieder Kontakt haben. Auch wenn wir noch keine Zeit gefunden haben, miteinander zu telefonieren.

Canada calling

Jetzt bringe ich die Chronologie ein wenig durcheinander. Vor einigen Wochen erreichte mich eine Freundschaftsanfrage über Facebook. Sie kam aus Kanada und war nicht hinter einem Pseudonym versteckt. Der Name war mir wohlbekannt. Ich hatte auch schon nach ihm gesucht. Der Mann heißt Arnim mit Vornamen, ich war aber völlig sicher, dass er Armin heißt. Ich habe ihn nicht gefunden. Wir waren Schulfreunde in den Sechziger Jahren in Schwäbisch Gmünd. Ich bin 1976 nach Berlin gegangen, er 1977 nach Kanada. Seit dem hatten wir keinen Kontakt mehr. Eine Tante von ihm lebte in Toronto. Schon damals träumte er von dieser Möglichkeit. Ich hatte vergessen, dass er einen Bruder hat. Aber zu dem hat auch er keinen Kontakt mehr, weiß nicht mal, wo er lebt. Selbstverständlich nahm ich diese Facebook-Anfrage an. Wir schrieben uns über Messanger und einmal telefonierten wir 15 Minuten lang. Er hatte mich auf dem Handy angerufen. „Kanada war gut zu mir“, sagte er. Es ist seinen Fotos, die er regelmäßig postet, anzusehen. Auch ist er unter anderem ein hervorragender Naturfotograf. Seine Aufnahmen der örtlichen Tierwelt sind beeindruckend. Grisslys, Adler, Robben und allerhand anderes Getier kommt ihm vor die Linse. Hier kann man seine Photos ansehen. Mal sehen, was sich aus diesem Kontakt noch weiter entwickelt. Wiedererkannt hätte ich ihn natürlich nicht.

Eine unerwartete Mail

Der sicher aufregendste Ruf aus der Vergangenheit erreichte mich Anfang Januar. K aus Hannover schrieb mir eine Mail. Ob ich der sei, von dem sie annahm, dass er es sei. Ich freute mich sehr über diese überraschende Meldung aus der Vergangenheit, schließlich kannten wir uns seit einundvierzig Jahren. Im März wollten wir uns wiedersehen, aber dann kam Corona. Die ganze Geschichte habe ich ins Coronarchiv geschrieben.

Und jetzt ist mir die Vergangenheit präsenter als es die Zukunft jemals war.