Spaziergangstagebuch 7

13.02.22

Eine runde Sache. Von Bornheim, durch die Gartensiedlung Riederwald, das Enkheimer und Berger Ried nach Bergen und über den Lohrberg und durch Seckbach zurück nach Bornheim.

Der Sinn stand mir eher nach Couch als nach Spaziergang. Ich hatte hundsmiserabel geschlafen und war sehr müde. Das Wetter sprach jedoch eine andere Sprache. Sonne, fast wolkenlos. Also überwand ich den Schweinehund, zog die Schuhe an und stiefelte los. Klarer Himmel, die Sonne hatte schon etwas Kraft, der Frühling streckte seine Fühler aus. Ich ließ mich gerne einfangen. Klare Luft, weiter Blick. Im Norden sogar die Windräder der Hohen Straße zu erkennen. Wie oft bin ich dort schon vorbeigeradelt. Das Radfahren darf in diesem Jahr nicht wieder zu kurz kommen, wie im letzten. Ich ging nach Osten, zunächst am Bornheimer Hang das Stadion des glorreichen Viertligaclubs FSV Frankfurt passiert. Einige Jahre hatte der Verein in der zweiten Liga gespielt, da war ich gelegentlich auch mal im Stadion. Als Knirps spielte ich auch mal Fußball, bei Germania 94 in Sachsenhausen. Immer wenn ich nicht wusste, wohin mit dem Ball, und das war meistens so, spielte ich ihn ins Aus. Ich habe wohl auch nur einmal gespielt, weiß auch nicht mehr, ob ich später noch zum Training gegangen bin. Vielleicht hatten meine Eltern ein Einsehen und gemerkt, dass Fußball nichts für mich ist. Eventuell hat sich damals schon meine Abneigung gegen Vereine und regelmäßiges Training entwickelt. Eine Amsel scharrt im trockenen Laub.

Ich entfliehe der grässlichen Straße Am Erlenbruch und tauche ein in die schöne Gartensiedlung Riederwald, bis sie mich am Torhaus wieder ausspuckt. Mir lief leicht die Nase. Ich hatte aber tatsächlich Taschentücher vergessen und fragte mich, wie das passieren konnte. Seit Tagen ist meine Nase im Dauerlaufmodus. Nun gut, es war so.

Eine rot-weiss gestreifte Schranke markiert den Eingang zum Enkheimer Ried. Die nächsten Kilometer geht es nur durch Natur. Vor ungefähr einem Jahr war ich zum ersten Mal hier, auch in dieser Jahreszeit. Kahle Äste überall, die aber einen weiten Blick gestatten. Eine einsame Schaukel baumelt an einem Ast. Radfahrer überholen mich, ich gehe auf der Strecke nach Maintal und weiter nach Hanau. Bald werde ich hier mal mit dem Rad entlangfahren. Das Enkheimer Ried ist Teil des Grüngürtels rund um Frankfurt. Innerhalb des Grüngürtels fallen immer wieder sehr lustige Skulpturen auf, für die Künstler der Neuen Frankfurter Schule verantwortlich zeichnen. Hier wacht in luftiger Höhe die dicke, grüne Raupe von F.K Waechter. Vor einem Jahr bin ich achtlos drunter hergegangen. Weitere bekannte Exponate sind das Ich-Denkmal von Hans Traxler kurz vor der Gerbermühle am Main oder das Grüngürteltier von Robert Gernhardt an der Nidda. Achim Frenz, der Leiter des Caricatura Museums in Frankfurt, schrieb einst in einem Facebook-Kommentar, ohne die Spaziergangswissenschaft, die der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt entwickelt hat, würde es die komische Kunst im Grüngürtel nicht geben.

Das Enkheimer Ried ist ein Paradies für Vögel. Ich lerne, dass Nachtigallen Bodenbrüter sind, weshalb Hunde an der Leine zu führen sind. Der starke Regen der letzten Zeit hat überall seine Spuren hinterlassen. Ein Familie mit kleinem Kind trottet lautstark den Weg entlang. Ich beeile mich, Distanz zu ihnen zu gewinnen. Der Regen der letzten Tage hat überall seine Spuren hinterlassen. Aus dem Gehölz ragt der niedrigste Hochsitz, den ich jemals gesehen habe. Ein Stück weiter taucht rechterhand ein kleiner See auf, der mir, ähnlich der Dicken Raupe, im letzten Jahr auch entgangen war. Auch hier war Unachtsamkeit der Grund. Der Weg endete dann. Ich stand vor einer Straße und einer Baustelle. Wo war ich? Das Navi leitete mich auf den rechten Weg zurück. Es war nicht weit. Ich hatte mich verlaufen, dabei aber einen mir bislang unbekannten See entdeckt.

Die Zahl der Sonntagsspaziergänger wächst. Ein unsichtbarer Specht trommelwirbelt durch den Wald, Rechts mündet der Nachtigallenweg, der Riedweiher liegt ruhig. Ich verlasse das Enkheimer Ried und überquere die imaginäre Grenze zum Berger Ried. Auf dem Hügel thront Bergen, die bessere Hälfte von Bergen-Enkheim. Von nun an geht`s bergan, auf teils schlammigen Wegen.

Der Blick ist frei, über Skyline bis Stadtwald. Winzig ragt der Goetheturm empor. Dahinter der Odenwald, im Osten das Kraftwerk bei Hanau und am Horizont die Ausläufer des Spessart. Leider muss ich den Weg verlassen und der Straße nach Bergen bergan folgen. Am Straßenrand ein „Unfalldenkmal“. In der FR lese ich am nächsten Tag, dass es eine temporäre Aktion ist, zur Mahnung an Autofahrer, sich an Geschwindigkeitsgrenzen zu halten. Initiiert von irgendwelchen BFF Leuten, was mich sofort stutzig macht. Sinnlos wohl auch, denn lesen können die mahnenden Hinweise nur Fußgänger und von denen gibt`s hier nicht viele. Die meisten brettern mit Autos vorbei und werden die Installation wohl kaum wahrnehmen. In einem Vorgarten ein Wegweiser, der die Entfernung nach Berlin anzeigt. Sehnsuchtsvolle Gedanken, ich muss wohl bald mal wieder hin. An der Marktstraße kaufe ich mir beim Wasserhäuschen ein Bier. Wegbier gehört normalerweise nicht zu meiner Ausstattung, aber ich habe Durst und es schmeckt. Bald bin ich auf dem Lohrberg und werde mit einem beeindruckenden Ausblick belohnt. Ein Mann mit Helm schlängelt sich auf einen elektrischen Skateboard über die Wege. Wieso? Die Lohrbergschänke erwartungsgemäß dicht belagert. Ich gehe weiter durch eine Kleingartensiedlung bergab nach Seckbach. Eine gute Freundin hatte dort einst einen Garten. Ich war einmal da, wir haben in der Sonne Tee getrunken. Die Autobahnbrücke ist das wenig attraktive Tor nach Bornheim. Ein Stück am Bornheimer Hang, ich nähere mich meinem Ausgangspunkt. Frühlingsboten sprießen am Wegesrand. In der Gaststätte Weida gönne ich mir ein weiteres Bier. Ein schöner Spaziergang endet und ich bin froh, den Verlockungen der Couch nicht erlegen zu sein

Fundsachen

Ich bin Fußgänger, durchaus auch Spaziergänger, Fußgänger im Sinne von zielgerichteter Fortbewegung gemeint, von A nach B. Mein Verkehrsmittel sind Beine und Füße. Natürlich gehe ich auch sehr gerne spazieren, auch sehr lange. Zwanzig Kilometer sind kein Problem. Ich mache fast alle meine Wege in der Stadt zu Fuß. Das liegt auch daran, dann ich nur selten Termine vor dem Nachmittag habe. Manche dieser Spaziergänge sind wöchentliche Rituale geworden, der donnerstägliche Gang zum Markt an der Konstablerwache etwa, meist auch am Samstag. Schon immer bin ich gerne zu Fuß durch mir fremde Städte spaziert, New York, Madrid, Istanbul. Aber ich habe mich im Alltag immer als Radfahrer gesehen. Mittlerweile steht das Rad oft tage- und wochenlang im Keller. Wenn ich weitere Strecken zurücklegen muss, nach Sachsenhausen z.B. und abends erst spät zurückkomme, dann nehme ich das Rad. Bus oder Bahn fahre ich nur, wenn ich mit Gepäck zum Bahnhof muss.

Die Lektüre von Erling Kagges Buch „Gehen. Weiter gehen“ hat mich zum Fußgänger gemacht. Er schildert dort unter anderem die morgendlichen Wege zu seinem Verlag in Oslo und was diese Gänge mit ihm machen. Wie frisch und wach er beispielsweise in seinem Büro ankommt. Nach der Lektüre dieses schmalen Bandes wurde aus dem Radfahrer der Fußgänger.

Vor da an bin ich nicht mehr mit dem Fahrrad in die Nationalbibliothek gefahren, sondern zu Fuß gegangen. Ich varierte immer die Wege, wollte soviel wie möglich entdecken. So dauerten diese Spaziergänge zwischen 30 und 45 Minuten. Ich kam mit wachem Geist in der Bibliothek an, die Luft hatte mir gut getan und das Gehen ebenfalls. Die positiven Auswirkungen des Zufußgehens auf Körper und Geist sind hinlänglich bekannt. Darum soll es hier nicht gehen. In diesem Text geht es darum, das Fußgänger mehr und anders sehen als andere. Eine kleine Reihe auf Instagram, die ich immer „Hinter den Kulissen“ nenne, gibt davon ein Beispiel. Blicke in Einfahrten, Hinterhöfe oder auf Brandwände. Photos die nur Fußgänger machen können, alle anderen fahren dran vorbei. Und wer mehr sieht, findet auch mehr. Darum soll es gehen, um die Fundsachen auf meinen Wegen, die mir gute Dienste leisten.

Da wäre zunächst dieser wunderbare Thonet-Barhocker. Er stand vor ungefähr zwei Jahren nächtens allein und unbeachtet irgendwo im Nordend. Ich habe ihn aus dieser misslichen Lage befreit und an mich genommen. Er ist vollkommen intakt. Mir ist es bis jetzt völlig unbegreiflich, wie so ein derart schönes Möbelstück auf diese Weise entsorgt werden kann. Ich bin dankbar.

Ergänzt wird dieser Barhocker durch einen zweiten, aber völlig anders gearteten Kollegen. Er ist aus Kunststoff, wahrscheinlich von Ikea. Das ist praktisch, denn er kann bei Wind und Wetter draußen auf dem „Balkönsche“ stehen bleiben. Dieser Hocker wartete vor REWE in Bornheim darauf, dass sich jemand seiner erbarme. Beim ersten Vorbeigehen hatte ich ihn noch stehen lassen, mich zuhause darüber geärgert. Als ich später wiederkam, war er noch da. Das „Balkönsche“ ist gar keins, sondern ein Fluchtweg. Ich musste durch eine Unterschrift bestätigen, das zur Kenntnis genommen zu haben. Im Ernstfall kann ich von dort auf die Leiter klettern oder mich ins Sprungtuch fallen lassen. Diese zwei Barhocker ergänzen sich perfekt, denn auf diesem Fluchtweg lässt es sich im Sommer trefflich sitzen, die Weingläser auf der breiten Brüstung abgestellt. Wie an einem Tresen.

Bleiben wir bei Stühlen. Mehrere Stunden am Tag sitze ich auf diesem Exemplar. Ich sitze dort wenn ich esse oder schreibe. Er ist sehr bequem und gut erhalten. Er fand sich irgendwann im letzten Jahr vor einem Haus unweit meiner Wohnung. Ich habe nicht gezögert.

Ebenfalls in meiner Straße kam ich in einer betrunkenen Sommernacht an Sperrmüll vorbei, abgestellt an einer Hauswand. Darunter ein Umzugskarton mit Schallplatten. Ich stöberte und fand diese vier Platten. ich konnte sie nicht stehen lassen. Gehört habe ich sie auch, alle in guter Verfassung, was ich beim äußeren Anschein eher nicht vermutet hätte. Aber die Geschichte um diese Platten muss noch erzählt werden, es war denkwürdig.

Nicht in meiner Straße, aber auch in Bornheim, war diese Stehlampe mit dem Schwenkarm freigelassen. Ein Zettel hing dran „Funktioniert noch“. Wieder musste ich nicht überlegen, nach so einer Lampe stand mir schon länger der Sinn. Zuhause probierte ich sie aus, der Zettel hat nicht gelogen. Sie ist jetzt jeden Tag in Gebrauch.

Der neueste Zuwachs ist dieses Tischchen, es stand ebenfalls in meiner Straße. Ist etwas lädiert, was ich aber ganz charmant finde. Irgendwann stelle ich eine Pflanze drauf. Derzeit dient es mir als Ablage für das Tablet, wenn es geladen wird.

Verlassen wir mein Wohn- und Esszimmer und begeben uns in die sehr kleine Küche. Dort leistet mir seit geraumer Zeit dieses kleine quadratische Regal gute Dienste. Oft sind es aber auch einfache praktische Dinge, die ich finde. Diese kleinen Drahtkörbe, die mit Saugnäpfen an den Kacheln befestigt, die Abwaschuntensilien griffbereit für mich bereithalten. Praktische Dinge.

Zum Schluss sei erwähnt, dass ich vor einigen Wochen in Berlin während eines langen Spaziergangs durch Kreuzberg und Tempelhof, 120,- € auf der Straße gefunden habe. Zu Fuß gehen lohnt sich also.

Spaziergangstagebuch 1

An dieser Stelle möchte ich künftig gelegentlich eine Art Tagebuch meiner Spaziergänge veröffentlichen. Notizen und Skizzen, nichts Ausformuliertes. Einige Fotos zur Illustration. Mit einem besonderen Blick auf Details, die nur Fußgänger wahrnehmen, alle anderen fahren dran vorbei. Versuche das Flüchtige festzuhalten. Auch das ist Stadt.

29.10.21

Vom Ernst-May-Platz zum Markt an der Schillerstraße.

An der Wand Sprüche von Peng: 24 Schritte pro Sekunde (Heidestraße). Ein Bett lehnt an der Wand: Unbenutzt. Zu verschenken. In der Heidestraße wurden einige Kreuzungen verkehrssicher gestaltet. Wieso nicht überall? Vor dem Bäcker Kronberger in der Vogelsbergstraße hat sich eine kleine Schlange gebildet. Das kennt man von dort. Vogelsberg/ Ecke Rotlintstraße, ein an einem Verkehrsschild angeschlossener bunter, drehbarer Holzstuhl mit vier Beinen, Lehne und Armstützen. Auf der Rückseite der Lehne steht: Ok Bloomer. In der Straße mit dem seltsamen Namen Eiserne Hand lehnen an der Wand einige Wahlplakate der Linken, sinnlos geworden und bereit zur Entsorgung. Doppelter Espresso beim Wasserhäuschen Fein. Auf der Theke, an der früher die Bindingtrinker standen, Gläser mit buntem Zuckerkram, das auch heute noch für große Kinderaugen sorgt. Der Anlagenring zeigt sich herbstlich in der letzten Oktobersonne. Die U-Bahnstation Eschersheimer Tor dient wieder als warmer Schlafplatz für Obdachlose. Puffer und Schobbe bei Schoppe Otto auf dem Schillermarkt. Schinkenbrötchen waren schon wieder ausverkauft. Am Nebentisch ein Mann vor einem Laptop. Er pafft eine Zigarre. Der Geruch zieht zu mir, nicht unangenehm. An einem weiteren Tisch zwei Männer und zwei Frauen. Schobbe vor sich, Wurst und Käse auf dem Tisch ausgebreitet. Alle greifen zu. Einer der vier hat eine Ähnlichkeit mit Keith Richards, mit Tuch im weißen, längeren Haar. Er schneidet die Wurst mit einem Opinel. Auf der anderen Seite vor einer Coffee Bar eine schöne farbige Frau. Neben ihr zwei prall gefüllte Papiertaschen der Modegruppe Zara. Sie unterhält sich mit einem älteren Mann mit Hut und Schal und einer Frau, die mir den Rücken zuwendet. Von der Hauptwache drängen die typischen Geräusche einer Demo herüber. Eine Megaphonstimme spricht von Gewerkschaften. Laut, nah und unsichtbar. Am Friedberger Platz ist Wochenmarkt. Bald wird hier wieder die freitägliche Party steigen. Einige junge Leute sind schon da. Andere sitzen auf der Bank, halten das Gesicht in die Oktobersonne und trinken Wein. In einem Hinterhof in der Vogelsbergstraße prangt die Venus von Botticcelli, flankiert von Micky Maus, Donald Duck und Goofy an einer Tür.

Zu Fuß gehen

davMein Verkehrsmittel ist das Fahrrad. In der Stadt ist es allen anderen Fahrzeugen überlegen. Es ist schnell, leise, preiswert und hält fit. Einen Stellplatz wird man in der Regel finden, auch wenn man gelegentlich etwas suchen muss. Kurz: Radfahren ist sozial und ökologisch verträglicher Individualverkehr in Reinkultur, ganz im Gegensatz zum Autofahren. Um so unbegreiflicher ist es, dass Städte immer noch viel zu wenig unternehmen, um das Radfahren in der Stadt attraktiver und sicherer zu machen. Aber immerhin sind einige zaghafte Versuche in diese Richtung zu bemerken, wenn sie auch bei Weitem nicht ausreichen. Diese unbefriedigende Situation sorgt dafür, dass Fahrradfahren in der Stadt eines nicht ist: entspannend. Im Gegenteil, Radfahrer sind in jeder Situation gefordert, den Überblick zu behalten. Kleine Unachtsamkeiten können schwerwiegende Folgen haben, bis hin zum Tod. Durch die Natur zu radeln ist hingegen ein Vergnügen sondergleichen.

Von meiner Wohnung bis zur Nationalbibliothek, die ich regelmäßig aufsuche, brauche ich mit dem Rad ungefähr 13 Minuten. Das ist keine Entfernung, und doch bereitet mir diese kurze Strecke kein Vergnügen. Es geht, zumindest auf dem Hinweg, permanent leicht aber spürbar bergauf. Ich muss mich also ein wenig anstrengen. Und ich bin gefordert, auf den Verkehr zu achten. Wenn ich dann, nach zugegeben kurzer Fahrt, mein Ziel erreiche, bin ich, vor allem im Sommer, verschwitzt und nicht entspannt. An einigen dieser Bibliothekstage arbeite ich abends in einer Kneipe bei mir um die Ecke. Die erreiche ich von der Bibliothek aus mit dem Rad in zehn Minuten. Das ist mir eindeutig zu schnell, um zwischen diesen unterschiedlichen Welten zu pendeln. Da brauche ich einen Puffer. Gelegentlich bin ich so früh losgefahren, dass ich vor meiner Schicht noch ein paar Minuten durch die Gegend schlendern konnte. Das schuf dann wenigstens ein bißchen Distanz.

dav

Herbstlicher Günthersburgpark

Ich bin schon immer viel zu Fuß gegangen. Der donnerstägliche Gang zum Markt auf der Konstablerwache und auch wieder zurück, ist mir zu einem liebenswerten Ritual geworden, auf das ich nicht verzichten möchte. Samstags wiederhole ich das meistens auch. Fremde Städte erkunde ich bevorzugt per Pedes, ich habe kein Problem damit, stundenlang durch die Straßen zu ziehen und soviel Eindrücke wie möglich zu sammeln. Seit ich das Zufußgehen jedoch in meinen Alltag integriert habe, erreiche ich meinem Arbeitsplatz wesentlich entspannter. Auf dem Weg gehen mir irgendwelche Gedanken durch den Kopf und ich sehe Details, die mir auf dem Rad entgehen würden. Ich muss nicht ständig auf Autos achten oder Fußgänger, die gedankenlos Radwege kreuzen.

Statt dessen kann ich mich an herbstlich bunten Bäumen im Günthersburgpark erfreuen und den freundlichen Hund in der Nordendstraße begrüßen. Dort komme ich dann auch an dem legendären Lokal Größenwahn vorbei, dass seit beinahe vierzig Jahren die Frankfurter Gastronomie bereichert.dig

Nach stundenlangem Sitzen in der trockenen Luft der Bibliothek ist der Heimweg zu Fuß eine reine Wohltat. Zumal ich zwischen verschiedenen Wegen wählen kann. Ich gehe niemals den selben Weg zurück, den ich auch auf dem Hinweg genutzt habe.

Es bedurfte der Lektüre des empfehlenswerten kleinen Buches von Erling Kagge Gehen. Weiter gehen. Eine Anleitung, das 2018 im Insel Verlag erschienen ist. Der Autor berichtet u.a., wie er jeden Tag in Oslo zu Fuß zur Arbeit in seinen Verlag geht und was dieser morgendliche Gang für ihn bedeutet. Das hat mich überzeugt, es ihm gleich zu tun. Keine Ahnung, weshalb ich nicht von selbst auf diese Idee gekommen bin.

Aber jetzt ist es so und es ist gut so.

Ich habe die Revolution gesehen

Mein samstäglicher Einkaufsspaziergang führte mich nur zum mittleren Bio-Supermarkt. Für den unteren war das Wetter zu unfreundlich, 5°C, Nieselregen. Kein verlockendes Spazierwetter und der Gang zum unteren und retour kostet mich ca. 75 Minuten. Das erschien mir bei diesem Wetter zu lang. Der Weg zum mittleren benötigt etwa die Hälfte der Zeit. Es gibt noch einen oberen Markt, doch die Strecke dorthin ist zu kurz um als Spaziergang gelten zu können.
Auf meinen Einkaufsspaziergängen versuche ich stets zu vermeiden, den selben Weg zurück zu gehen, den ich auch für den Hinweg gewählt habe. Und so kam es, daß ich die Revolution gesehen habe – nein, zuerst habe ich sie gehört. Kurz vor der ehrenwerten Gaststätte Weida hörte ich laute, aber noch unbestimmte Musik aus Richtung Prüfling. Ich schaute nach Nordosten und sah die Revolution kommen, sie war alt und sah aus wie ein Karnevalsverein. Die Revolution war in einem alten, blauen Hanomag LKW aus dem Verkehrsmuseum unterwegs und es hätte mich nicht gewundert, wenn sie die revolutionären Massen mit Bonbons beworfen hätte. Die Musik der Revolution von heute ist die selbe wie die der Revolution von damals – Das Solidaritätslied. Das unterscheidet die Revolution von einem Karnevalsverein. Auf der Pritsche des Hanomag standen nicht ganz so viele Personen wie auf dem Tahrir-Platz in Kairo, es waren genau vier. Sie trugen rote T-Shirts mit der Aufschrift „Klassenkampf statt Weltkrieg“. Keine schlechte Alternative, wenn man keine andere hat. Die Pritsche des Hanomag wurde von vier roten Fahnen gesäumt, in jeder Ecke eine, geteilt wurde sie von einem Transparent mit der selben Forderung, die auch die roten T-Shirts zierte.
Das, vom Fußvolk gereichte, 4-seitige Flugblatt nahm ich gerne entgegen. Die Revolution firmiert demnach unter dem Namen „ARBEITS- UND KOORDINIERUNGSAUSSCHUSS der ersten Arbeiter- und Gewerkschafterkonferenz gegen den Notstand der Republik“ und setzt sich ein für eine „Welt der Arbeiter“. Immerhin, auf die Hilfe einer Marketingagentur hatte die Revolution verzichtet.
Und dann trennten sich auch schon unsere Wege. Die Revolution folgte der Saalburgstraße in Richtung Offenbach, ich folgte der Heidestraße in Richtung mittlerer Bio-Supermarkt.
Dort war es wie immer, Kinder fuhren mit den kleinen Einkaufswagen Rallye durch die Gänge, sofern diese nicht durch nachlässig abgestellte Einkaufswagen ihrer Eltern blockiert waren.
Der Rückweg führte mich über den samstäglichen Markt auf der Berger Straße am sog. „Uhrtümchen“. Auch dort war es wie immer, belebt und eng. Bei einem vertrauenswürdigen Bäcker kaufte ich ein großes Stück Streusselkuchen und bei der Kräutertante ein Tütchen Salbeibonbons, meiner Alltagsdroge. Die Revolution hatte mir diese ja vorenthalten. Eine blonde Frau verteilte Rosen und einen Flyer als Werbemaßnahme für einen Kosmetiksalon in Seckbach. Ich bekam keine, gehörte nicht zur Zielgruppe, ebenso wenig wie die alte Dame mit dem Rollator, deren Forderung „Isch will aach so e Roos“ ungehört verhallte.
Als ich mich durch die Massen auf dem Markt gekämpft hatte, stand ich an der Saalburgstraße plötzlich wieder vor ihr, der Revolution. Sie hatte den Hanomag dort geparkt, auf der Suche nach den Massen, denen ich gerade glücklicherweise entronnen war. Um diese zu locken wurden schlicht gereimte klassenkämpferische Parolen skandiert, die von unkoordiniertem Getrommel abgelöst wurden. Die Revolution kam aus dem Takt. Ich zeigte mein kürzlich erworbenes Flugblatt als Passierschein und erntete ein verschwörerisches Lächeln des revolutionären Fußvolks.
Froh, wieder Gehwege erreicht zu haben, auf denen sich spazieren ließ, setzte ich meinen Heimweg fort. Es begegneten mir noch ein paar Eintrachtfans, auf dem Weg, sich eine weitere Niederlage abzuholen.
„Vorwärts und nicht vergessen“ singend, packte ich zu hause meine Einkäufe aus.