Spaziergangstagebuch 8

16.03.22

Kein schöner Spaziergang

Ernst,May-Platz, Wallanlagen, Opernplatz, Mainzer Landstraße, Hoechst

Leider war das Wetter nicht so sonnig wie angekündigt. Eher trüb und diesig präsentierte sich der Himmel. Saharastaub über Frankfurt. Aber egal, ich zog meine alten Laufschuhe an und machte mich auf den Weg. Es war trocken und das ist das Wichtigste.

Angeregt durch einen Artikel in der FAZ wollte ich die Mainzer Landstraße entlang spazieren, bis nach Hoechst. Über Hoechst hörte ich immer nur, dass die Altstadt sehr schön sei. Es ist lange her, dass ich dort war. Und von der Mainzer kannte ich nur den Abschnitt im Bankenviertel und ein wenig die Gegend rund um die Galluswarte. Erst am Opernplatz zu starten kam mir nicht in den Sinn. Es war klar, dass ich von meiner Wohnung losgehen würde, am Ernst-May-Platz. Von Osten ganz nach Westen, einmal durch die Stadt.

Zunächst altbekannte und oft gegangene Wege. Beim Fein, einem Lieblingsort, zur Stärkung einen Cappuccino. Weiter durch die Wallanlagen, der Frühling zeigte sich, jedoch noch vorsichtig. Endlich am Opernplatz. Anschließend die Taunusanlage, früher Treffpunkt sämtlicher Junkies der Stadt, mittlerweile eine aufgeräumte Grünanlage mit teilweise schrecklicher Kunst inmitten des Bankenviertels. Direkt anschließend die Mainzer Landstraße. Acht Kilometer auf einer weitgehend schnurgeraden, wenig attraktiven Straße lagen vor mir. Keine sehr verlockende Aussicht. Aber einen schönen Spaziergang hatte ich auch nicht erwartet, im besten Falle einen interessanten und überraschenden.

Die Skyline interessiert mich nicht so besonders. Klar, ein beliebtes Photomotiv, das ich aber nur selten ablichte, andere machen das zuhauf. Von diesen Häusern geht kein Leben aus. Nachts sind sie tot. Mich interessiert Frankfurt da, wo es aussieht wie Hannover, Stuttgart oder irgendeine beliebige andere Stadt. Aber wenn ein angenagtes Hochhaus der Sparkasse aus den sechziger Jahren seinen letzten Tagen entgegengeht, während im Hintergrund der Hauptturm des Quartiers „Four“ in den Himmel wächst, dann finde ich dass das schon ein Photo wert ist. Hier zeigt sich Umbruch, Anfang und Ende sowie Veränderung. Ob zum Besseren sei dahingestellt. In Höhe der Deutschen Bank ein weißes Ghoastbike, in Gedenken an einen 57-jährigen Radfahrer, der dort am 26.09.2019 zu Tode gekommen ist. Leider sind viele dieser Räder am Straßenrand zu sehen. An der Hausnummer 23 fällt ein Rohbau auf. Bautätigkeit ist keine zu beobachten. Die vierspurige Mainzer dient auch als Grenze zwischen dem vornehmen Westend und dem etwas verruchten Bahnhofsviertel.

Südlich, in der Verlängerung der Moselstraße, ist der Holbeinsteg zu sehen, der vom Bahnhofsviertel zum Städel über den Main führt. Kurz Fluchtreflexe, vielleicht doch eher längs des Mains nach Hoechst zu spazieren. Aber ich blieb an dieser ungastlichen Straße. Nach wenigen Metern der „Platz der Republik“, eine riesige Kreuzung. Sinnbildlich für die Autorepublik Deutschland. Ich muss an den „Marktplatz“ in Offenbach denken, der ja auch alles andere ist als ein Marktplatz, sondern ebenfalls eine stark befahrene Kreuzung. Aber wenigstens wird die ja inzwischen umgebaut. Rechts, in der Düsseldorfer Straße, ist gut das alte Polizeipräsidium zu sehen, dass ebenfalls dem Tod geweiht ist. Vor vielen Jahren war ich mal drin. Ich arbeitete noch beim Suhrkamp Verlag und in diesem Gebäude fand die Buchmessenparty des Verlages statt. Es war sehr charmant.

Ab diesem „Platz“ verändert sich die Mainzer, das Geldviertel endet hier. Weniger Bankentürme, weniger Glitzer, weniger edle Restaurants. Vorbei an Baustellen, von Norden ist das Skyline Plaza zu sehen, das Einkaufszentrum, das den Beginn des Europaviertels markiert (im Spaziergangstagebuch 6 das Thema). Gerne hätte ich im Café Ernst bei Kaffee und Kreppel pausiert, aber es war geschlossen. Also weiter, vielleicht ergab sich ja auf dem weiteren Weg eine andere Gelegenheit. Rechterhand schweift der Blick ins Gallusviertel. Erneut Fluchtgedanken, ob ich nicht meinen Weg über die parallel führende Frankenallee weiterführen soll. Aber ich blieb der häßlichen Straße treu. Habe im Laufe der Jahre gelernt, dass Häßlichkeit zu einer Stadt gehört, mithin wichtig ist. Aber das wäre ein eigenes, wohl auch sehr interessantes Thema, dass mir bereits länger im Kopf rumspukt. An Baustellen vorbei geht es weiter. Der Baukran ist das wahre Wahrzeichen Frankfurts, so ähnlich hatte es Mark-Stefan Tietze bereits 2014 in den Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten formuliert. Das Gebäude der FAZ mit seiner Klinkerfassade folgt, bald auch die Galluswarte, natürlich mit Wasserhäuschen. Sie kann einem leid tun, auf ihrer engen, vom steten Autoverkehr umnebelten Verkehrsinsel. Ähnlich einem Leuchtturm, der Sturm und Wellen trotzt. Einige Unentwegte stehen trotzdem da und trinken ihr Binding.

Hinter Autohäusern versteckt eine eindringliche Mahnung. Erneut ändert die Straße ihren Charakter. Ab hier verläuft sie zweispurig, von Wohnhäusern gesäumt. Vor einer Mansardenwohnung trocknet Wäsche auf dem Dach, es ist windstill. Der Schriftzug der Adlerwerke überragt die Gegend. Der ehemals größte deutsche Fahrradproduzent, später auch von Nähmaschinen und Autos, diente Nazideutschland als wichtiger Hersteller für Rüstungsgüter, mit massivem Einsatz von Zwangsarbeitern. Erfahrung mit der Produktion für Rüstungszwecke hatte die Fabrik bereits im ersten Weltkrieg gesammelt. Ab dem August 1944 wurde in den Adlerwerken eine Außenstelle des KZ Natzweiler eingerichtet, unter dem Namen Katzbach. Die über 1600 Insassinnen und Insassen wurden als Zwangsarbeiter missbraucht, oft bis zum Tode. Kaum jemand überlebte. Es ist sehr lohnend sich näher mit der Geschichte dieser Fabrik zu beschäftigten. Am 25 März 2022 wird der Geschichtsort Adlerwerke eröffnet.

Folgen wir unserer Straße weiter nach Westen. Autoglas Reifen 24, Dream Haar Studio (ohne Termin), Sportsbar, Döner, Chinarestaurant, Mainzer Grill, Alinis Frischer Fisch und Fisch Imbiss, Pizzeria Prago, Main Chicken. Im Euro Jackpot locken 89 Mio Euro. Die Mainzer wird zur Ausfallstraße mit dem typischen Angebot. Und auch wieder ein Plakat, dass zeigt, weshalb ich froh bin, Fan dieses Vereins zu sein. Charakterlose Wohnriegel erinnern an das nahe Europaviertel. Linkerhand eine kleine Grünanlage, verziert mit einem überaus häßlichen Kunstwerk. „NICHTS BLEIBT WIE ES IST“; lautet die Inschrift. Ich wünsche es dem Klotz. Der Titel des Werks indes macht Hoffnung: „LIVING STONE“. Denn was lebt, stirbt auch.

Überraschend plötzlich eine Reihe von Siedlungsbauten an der Schloßborner Straße. Alte Hellerhofsiedlung ist laut Wikipedia die korrekte Bezeichnung für diesen Ort. Sie wird in der Liste der Kulturdenkmäler des Gallus geführt. Ab hier wird die Mainzer wieder vierspurig. Ein Anwohner harkt, mit T-Shirt und Turnhose bekleidet, den Vorgarten des Mehrfamilienhauses. Ich friere beim Anblick. Weiter geht`s, Tankstellen, Waschanlagen, Burgerbuden, ein Baumarkt säumen meinen Weg. Die Straßenbahnhaltestelle Mönchhofstraße. Oft sehe ich diesen Namen, denn er prangt auf den Straßenbahnen der Linie 14, die am Ernst-May-Platz in Bornheim endet. Von dort fährt sie bis zur dieser ominösen Mönchhofstraße, der Endstation im Westen. Wo das wohl ist, habe ich mich immer gefragt. Jetzt weiß ich es und ich weiß auch, dass es nicht lohnt dort hin zu fahren. Aber ich bin die ganze Strecke der 14 abgelaufen und das macht mich ein kleines bißchen stolz. Hier hört die Stadt auf. Kleingärten mit Fähnchen von Fußballclubs und Heimatländern. Oft auch so zerfleddert, dass nichts mehr zu erkennen ist. In einer Kleingartenanlage eine Werbetafel für die Arabesque Shisha Bar & Lounge. Ich kann sie nirgends entdecken. An einem gesichtslosen Wohnblock die Ukrainische Flagge am Balkongeländer. Die Gegenwart ist überall.

Plötzlich der Stadtteil Nied, ein Ort, den ich nur aus dem Zugfenster kenne. Ein-zwei Mal, als ich mit Kolleginnen und Kollegen als Staffel am Frankfurt Marathon teilgenommen habe – lange ist es her – war in Nied die Wechselstation, oder wie das hieß. Das war`s. Aber immerhin darf ich hier für ein paar hundert Meter der furchtbaren Straße entfliehen, denn sie ist durch einen Wall von dem Ort ein wenig abgetrennt. Zu Hören natürlich immer noch, zu riechen auch. Aber es wird fast schon idyllisch. Als ich wieder auf die Mainzer treffe, werde ich von einem UFO begrüßt. Es gehört zum Jugendzentrum Nied.

An der Kirche Nied lässt mich die Mainzer frei, ich darf zum Mainufer. Erleichterung und Aufatmen. Hoechst schon in Sichtweite. Es dauert nicht mehr lange. Bald das Schloss und der Schlossplatz. Ich habe mein Ziel erreicht. Hier ist es wirklich sehr schön. Ich kehre in eines der drei Wirtshäuser ein, finde einen Platz in Thekennähe und genieße das Zwickelbier vom Hofbräuhaus. Zur weiteren Stärkung bestelle ich eine Gulaschsuppe. Die erinnert allerdings an solche, die an Autobahnraststätten angeboten werden. Allerdings war ich schon seit Ewigkeiten an keiner Autobahnraststätte, vielleicht tue ich ihnen Unrecht. Aber wieso können die Leute in einem solchen Lokal ihre Suppe nicht selbst zubereiten? Naja, das Bier hat entschädigt.

Zurück geht`s mit der S-Bahn. Ich habe 15 Km in den Beinen und die Stadt wieder etwas besser kennen gelernt.