Fundsachen

Ich bin Fußgänger, durchaus auch Spaziergänger, Fußgänger im Sinne von zielgerichteter Fortbewegung gemeint, von A nach B. Mein Verkehrsmittel sind Beine und Füße. Natürlich gehe ich auch sehr gerne spazieren, auch sehr lange. Zwanzig Kilometer sind kein Problem. Ich mache fast alle meine Wege in der Stadt zu Fuß. Das liegt auch daran, dann ich nur selten Termine vor dem Nachmittag habe. Manche dieser Spaziergänge sind wöchentliche Rituale geworden, der donnerstägliche Gang zum Markt an der Konstablerwache etwa, meist auch am Samstag. Schon immer bin ich gerne zu Fuß durch mir fremde Städte spaziert, New York, Madrid, Istanbul. Aber ich habe mich im Alltag immer als Radfahrer gesehen. Mittlerweile steht das Rad oft tage- und wochenlang im Keller. Wenn ich weitere Strecken zurücklegen muss, nach Sachsenhausen z.B. und abends erst spät zurückkomme, dann nehme ich das Rad. Bus oder Bahn fahre ich nur, wenn ich mit Gepäck zum Bahnhof muss.

Die Lektüre von Erling Kagges Buch „Gehen. Weiter gehen“ hat mich zum Fußgänger gemacht. Er schildert dort unter anderem die morgendlichen Wege zu seinem Verlag in Oslo und was diese Gänge mit ihm machen. Wie frisch und wach er beispielsweise in seinem Büro ankommt. Nach der Lektüre dieses schmalen Bandes wurde aus dem Radfahrer der Fußgänger.

Vor da an bin ich nicht mehr mit dem Fahrrad in die Nationalbibliothek gefahren, sondern zu Fuß gegangen. Ich varierte immer die Wege, wollte soviel wie möglich entdecken. So dauerten diese Spaziergänge zwischen 30 und 45 Minuten. Ich kam mit wachem Geist in der Bibliothek an, die Luft hatte mir gut getan und das Gehen ebenfalls. Die positiven Auswirkungen des Zufußgehens auf Körper und Geist sind hinlänglich bekannt. Darum soll es hier nicht gehen. In diesem Text geht es darum, das Fußgänger mehr und anders sehen als andere. Eine kleine Reihe auf Instagram, die ich immer „Hinter den Kulissen“ nenne, gibt davon ein Beispiel. Blicke in Einfahrten, Hinterhöfe oder auf Brandwände. Photos die nur Fußgänger machen können, alle anderen fahren dran vorbei. Und wer mehr sieht, findet auch mehr. Darum soll es gehen, um die Fundsachen auf meinen Wegen, die mir gute Dienste leisten.

Da wäre zunächst dieser wunderbare Thonet-Barhocker. Er stand vor ungefähr zwei Jahren nächtens allein und unbeachtet irgendwo im Nordend. Ich habe ihn aus dieser misslichen Lage befreit und an mich genommen. Er ist vollkommen intakt. Mir ist es bis jetzt völlig unbegreiflich, wie so ein derart schönes Möbelstück auf diese Weise entsorgt werden kann. Ich bin dankbar.

Ergänzt wird dieser Barhocker durch einen zweiten, aber völlig anders gearteten Kollegen. Er ist aus Kunststoff, wahrscheinlich von Ikea. Das ist praktisch, denn er kann bei Wind und Wetter draußen auf dem „Balkönsche“ stehen bleiben. Dieser Hocker wartete vor REWE in Bornheim darauf, dass sich jemand seiner erbarme. Beim ersten Vorbeigehen hatte ich ihn noch stehen lassen, mich zuhause darüber geärgert. Als ich später wiederkam, war er noch da. Das „Balkönsche“ ist gar keins, sondern ein Fluchtweg. Ich musste durch eine Unterschrift bestätigen, das zur Kenntnis genommen zu haben. Im Ernstfall kann ich von dort auf die Leiter klettern oder mich ins Sprungtuch fallen lassen. Diese zwei Barhocker ergänzen sich perfekt, denn auf diesem Fluchtweg lässt es sich im Sommer trefflich sitzen, die Weingläser auf der breiten Brüstung abgestellt. Wie an einem Tresen.

Bleiben wir bei Stühlen. Mehrere Stunden am Tag sitze ich auf diesem Exemplar. Ich sitze dort wenn ich esse oder schreibe. Er ist sehr bequem und gut erhalten. Er fand sich irgendwann im letzten Jahr vor einem Haus unweit meiner Wohnung. Ich habe nicht gezögert.

Ebenfalls in meiner Straße kam ich in einer betrunkenen Sommernacht an Sperrmüll vorbei, abgestellt an einer Hauswand. Darunter ein Umzugskarton mit Schallplatten. Ich stöberte und fand diese vier Platten. ich konnte sie nicht stehen lassen. Gehört habe ich sie auch, alle in guter Verfassung, was ich beim äußeren Anschein eher nicht vermutet hätte. Aber die Geschichte um diese Platten muss noch erzählt werden, es war denkwürdig.

Nicht in meiner Straße, aber auch in Bornheim, war diese Stehlampe mit dem Schwenkarm freigelassen. Ein Zettel hing dran „Funktioniert noch“. Wieder musste ich nicht überlegen, nach so einer Lampe stand mir schon länger der Sinn. Zuhause probierte ich sie aus, der Zettel hat nicht gelogen. Sie ist jetzt jeden Tag in Gebrauch.

Der neueste Zuwachs ist dieses Tischchen, es stand ebenfalls in meiner Straße. Ist etwas lädiert, was ich aber ganz charmant finde. Irgendwann stelle ich eine Pflanze drauf. Derzeit dient es mir als Ablage für das Tablet, wenn es geladen wird.

Verlassen wir mein Wohn- und Esszimmer und begeben uns in die sehr kleine Küche. Dort leistet mir seit geraumer Zeit dieses kleine quadratische Regal gute Dienste. Oft sind es aber auch einfache praktische Dinge, die ich finde. Diese kleinen Drahtkörbe, die mit Saugnäpfen an den Kacheln befestigt, die Abwaschuntensilien griffbereit für mich bereithalten. Praktische Dinge.

Zum Schluss sei erwähnt, dass ich vor einigen Wochen in Berlin während eines langen Spaziergangs durch Kreuzberg und Tempelhof, 120,- € auf der Straße gefunden habe. Zu Fuß gehen lohnt sich also.

Die drei Konzerte meines Lebens

Dies ist der zweite Versuch etwas über die drei Konzerte meines Lebens zu schreiben, besser über die drei wichtigsten, besten, intensivsten und was weiß ich noch, unvergesslichsten Konzerte meines Lebens, die auch wahrscheinlich nicht mehr getoppt werden können. Natürlich war ich bei wesentlich mehr als drei Konzerten, und das war auch der Grund, weshalb ich mich beim ersten Versuch total verheddert, verfahren, verirrt habe. Ich wollte allen gerecht werden, Jazz, Rock, Avantgarde. Zu viele wunderbare musikalische Momente habe ich erleben dürfen, und die wollte ich alle würdigen. Aber das Thema verlangt, mich auf die drei zu fokussieren, die für mich aus allen anderen herausragen. Um die Sache zu konkretisieren, diese drei unvergesslichen Erlebnisse bescherten mir Jazz-Musiker, genauer Free-Jazz-Musiker. Eine Musik, bei der sich die meisten die Ohren zuhalten, schreiend weglaufen und sich fragen ob das noch Musik oder nicht vielmehr unerträglicher Krach sei. Um die Geschichte dieser drei Konzerte erzählen zu können, muss ich etwas weiter ausholen.

Von 1976 bis 1989 bin ich jedes Jahr zu Pfingsten an den Niederrhein nach Moers gefahren. Das „New Jazz Festival“, das alljährlich an diesem Wochenende dort statt fand, wurde eine Pflichtveranstaltung für mich und meine Freude. Vier Tage voller Musik von morgens bis abends. Darunter auch viel Free Jazz. Ich habe alles aufgesaugt. In West-Berlin, wo ich lebte, gab es zu dieser Zeit das ganze Jahr über sehr viel Möglichkeiten Jazz und Free Jazz zu erleben. Ich war meistens dabei. Es waren paradiesische Zeiten. Schon einige Jahre bevor ich erstmals nach Moers fuhr, standen, parallel zu den Berliner Jazztagen, zwei Engländer und ein Deutscher auf der kleinen Bühne des Berliner Clubs Quasimodo. Es waren der Gitarrist John McLaughlin, der Bassist Peter Kowald und der Drummer Tony Oxley. Ein Free-Jazz-Konzert. Das Jahr war 1968, die Revolte hatte auch die Musik erreicht. Es war das erste Konzert einer Reihe, die sich über Jahrzehnte, zunächst als Gegenveranstaltung zu den traditionellen Jazztagen, später als integrierter aber eigenständiger Programmpunkt dieses Festivals etabliert hatte. Das „Total Music Meeting“ war geboren. Die drei Musiker, die dieses Konzert spielten, sind mir später immer wieder begegnet. Jener John McLaughlin sollte einige Jahre später, Anfang der Siebziger Jahre mit seinem Mahavishnu Orchestra und der Platte The Inner Mounting Flame, mein musikalisches Leben vollkommen verändern. Zu der Zeit hatte er sich bereits vom Free Jazz ab-, einem indischen Guru zugewandt und trug fürderhin nur noch weiße Anzüge. Diese Wandlung ist im Bandnamen ablesbar. Mich störte das nicht, vielmehr faszinierte mich dieser virtuose Highspeed Fusion Jazz grenzenlos. So etwas hatte ich noch nie gehört. Diese Platte war mein Einstieg in den Jazz. Denn wer bei McLaughlin ist, ist auch sehr schnell bei Miles Davis, der sogar ein Stück nach dem Gitarristen benannte. Und wer bei Miles ist, ist sofort drin im unendlichen Jazzkosmos. Es gab so viel zu entdecken, unter anderem Free Jazz.

Dieses Konzert im Quasimodo war nicht nur der Startschuss für eine neue musikalische Reihe, sondern auch der Grundstein für ein selbstverwaltetes Label für freie und improvisierte Musik. Ein Jahr später, 1969, wurde FMP in Westberlin gegründet. FMP steht für Free Music Production. Die Gründer waren Jost Gebers, der die Geschicke der Firma leitetet und die Platten produzierte, der Pianist Alexander von Schlippenbach, der Saxophonist Peter Brötzmann und der Bassist Peter Kowald. Ab Mitte der Siebziger Jahre leitete Gebers FMP alleinverantwortlich, seine Frau Dagmar, eine sehr gute Fotografin, begleitete die Konzerte mit ihrer Kamera. Die Musiker blieben dem Label eng verbunden. Später wird von Kowald und Brötzmann noch die Rede sein. Beide stammten aus Wuppertal. Diese Stadt im Bergischen Land brachte noch einige weitere Musikerinnen und Musiker des Free Jazz hervor. Sie ist neben Berlin und Frankfurt eine der Keimzellen für freie Musik in Deutschland.

Von Jost Gebers ist folgender Satz übermittelt: „Jede produzierte Langspielplatte, jede Covergestaltung, jedes mitgeschnittene und abgemischte Konzert war ein individuelles Ereignis, geprägt von der fundierten Überzeugung, dass die Wahrheit der Musik das konkrete akustische und soziale Ereignis auf der Bühne sei und der daraus folgende Tonträger seinen Sinn in erster Linie als Erinnerungsträger an eine lebendige Konstellation haben könne.“ Free Jazz gehört also auf die Bühne, aus der Konserve ist der Eindruck dieser vitalen Musik allenfalls eine Inhaltsangabe, ein Teaser, der nicht annähernd das zu vermitteln vermag, was es heißt das ganze Schauspiel auf einer Bühne miterleben zu können. Die Bühne ist der definitive Ort für Free Jazz. Leider sind diese Bühnen mittlerweile sehr rar geworden. FMP veröffentlichte also fast oder ausschließlich nur Konzertmitschnitte. Es gab zwar im Wedding ein kleines Studio, aber mir ist nicht bekannt, ob unter den mehr als 400 Veröffentlichungen auch nur ein einziges Studioalbum ist.

Aber verlassen wir zunächst Berlin und FMP und gehen dahin, wo für mich alles angefangen hat, nach Moers. Dort stand vermutlich am 23.05.1980 ein amerikanisches Quintett auf der Bühne, The Art Ensemble of Chicago. Ich habe die Band mehrfach live gesehen, aber dieser Auftritt war herausragend. Was ausgerechnet dieses Konzert von den anderen unterschied, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht war es die Atmosphäre dort auf der Wiese im Moerser Stadtpark, das strahlende Wetter. Mag sein, ist aber letztendlich auch nicht entscheidend. Dieses Konzert ist eines der drei Konzerte, um die es hier geht.

Wie der Name schon sagt, stammte die Band aus Chicago. Alle Musiker waren Mitglieder in einer Vereinigung namens AACM. Das steht für Association for the Advancement of Creative Musicians, eine von Musikern gegründete Vereinigung zur Unterstützung und Förderung schwarzer Musiker und Musikerinnen sowie innovativer Musik. Gegründet wurde die Gemeinschaft 1965 in Chicago. Im Unterschied etwa zu FMP war AACM jedoch kein Label.

Die Band bezog sich stark auf afrikanische Wurzeln, was sowohl optisch als auch akustisch überaus deutlich wurde. Ihre Musik war stark perkussiv. Unzählige Perkussionsinstrumente waren im Einsatz, die nicht nur der phantastische Drummer Don Moye bediente, sondern alle. Die Mitglieder der Band waren stets in afrikanische Gewänder gekleidet, die Gesichter bemalt. Nur einer stand stets in einem weißen Arztkittel und ohne traditionelle Bemalung auf der Bühne, Trompeter Lester Bowie (gest. 08. Nov. 1999). Mit dem Begriff Free Jazz ist die Musik des Art Ensemble nicht zu fassen. Für sie war es schlicht „Great Black Music“, was in diesen Jahren viele schwarze Musiker für sich in Anspruch nahmen, auch AACM. Ihre Musik wies einen hohen kompositorischen Anteil auf, wenngleich genug Raum für Improvisation blieb. The Art Ensemble of Chicago war ein Naturereignis, das seine Great Black Music an diesem Nachmittag über den Stadtpark der kleinen Stadt am Niederrhein jagte, dass das Publikum mit offenen Mündern, Augen und Ohren fassungslos zu begreifen versuchte, was gerade vor seinen Augen geschah. Die pure Spielfreude, die Energie, die von der Bühne ausging, das Zusammenspiel und die phantastischen Fähigkeiten der Musiker bildeten die Grundlage für ein unvergessliches Konzerterlebnis. The Art Ensemble of Chicago war ein Gesamtkunstwerk, dass sich an diesem einmaligen Nachmittag am Niederrhein in Vollkommenheit präsentierte. Als die Band nach einer atemlosen Stunde von der Bühne ging, grölte, pfiff, schrie und klatschte die vollkommen euphorisierte Zuhörerschaft (mich eingeschlossen) mindestens eine weitere Stunde nach einer Zugabe. Die nicht gewährt wurde. Die nachfolgende Band hatte einen sehr schweren Stand.

Habe ich The Art Ensemble of Chicago ein paar Mal live erlebt, gibt es wohl keinen Musiker, den ich öfter auf der Bühne gesehen und gehört habe als Peter Brötzmann, den Saxophonisten aus Wuppertal und Mitbegründer von FMP. Ein Mann, den ich für mich immer definiert habe als jemanden, der das ganze Leben lang versucht, sein Tenorsaxophon gerade zu blasen (dafür gibt es sogar einen Begriff: brötzen). Eine imposante Erscheinung, die pure Energie und Spielfreude ausstrahlt. Brötzmann, vielleicht der wichtigste und bekannteste deutsche Freejazzer, der auch viel international unterwegs ist und mit den unterschiedlichsten Musikern und Musikerinnen weltweit zusammengearbeitet hat. Es würde viel zu weit führen, das musikalische Spektrum Brötzmanns hier auch nur annähernd zu würdigen.

Wenn dieses musikalische Kraftwerk mit ähnlich gearteten Musikern zusammen kommt, dann gibt es kein Halten mehr. Ein solches Zusammentreffen gab es am 19. August 1993 im Rathaus Charlottenburg, diesem mächtigen Bau mit seinen Jugendstilzitaten an der Otto-Suhr-Allee. Es hieß, FMP-Chef Jost Gebers hätte dort gearbeitet. Davon Free Jazz Platten zu produzieren konnte man nicht leben. Es war ein sehr ungewöhnlicher Ort für ein Konzert mit freier Musik. Alles fand im imposanten Treppenhaus statt. Die Bühne wurde auf dem Treppenabsatz aufgebaut, das Publikum saß auf den Treppen und schaute von oben auf die Musiker, wie im Theater. Der Eintritt war lächerlich, vielleicht drei oder fünf Mark. Auf dieser Bühne standen ein Deutscher, ein Japaner sowie zwei Amerikaner. Am Saxophon der bereits erwähnte Peter Brötzmann, an seiner Seite der japanische Trompeter Toshinoro Kondo, der leider am 17.10.2020 gestorben ist. Er wurde 71 Jahre alt. Kondo verfremdete seinen Trompetensound mit allerlei elektronischen Gerätschaften, so dass sie manchmal klang wie eine elektrische Gitarre, gelegentlich auch nach Miles Davis. Er hatte ähnlich viel Energie wie Brötzmann. Die beiden ergänzten sich ideal. Zusammen gehalten wurde diese vermeintliche Kakophie von der phantastischen Rythmusgruppe um William Parker am Bass und Hamid Drake am Schlagzeug. Vom Feinsten. Dieses Ensemble firmierte unter dem Namen „Die Like A Dog Quartett“. Der Untertitel des Konzerts und des später veröffentlichen Mitschnitts lautete „fragments of music, life an d death of ALBERT AYLER. Ayler, Saxophonist und Außenseiter des amerikanischen Jazz („Music is the Healing Force of the Universe“), in Europa geachtet, in den USA missachtet, wurde von Brötzmann sehr geschätzt. Er wollte diesem Musiker mit dem Die Like A Dog Quartett ein Denkmal setzen. Im November 1970 wurde Ayler „aus dem East River gefischt“ (Brötzmann). Diese Hommage ist auf die kraftvolle, Brötzmannsche Art sehr gelungen, unvergesslich. Immer wieder waren auch Melodiefetzen zu vernehmen, die an Ayler erinnerten. Brötzmann wird auf der CD auch als Komponist genannt. Eine sehr würdige Ehrerbietung für diesen schwarzen Underdog des Jazz. Die Musiker gaben alles, als wollten sie dafür sorgen, dass Ayler auch im Jenseits den Klängen lauschen konnte, die ihm galten. Das war ein Sturm, der durch das ehrwürdige Ratsgebäude an der Otto-Suhr-Allee rauschte. Am Ende wunderte man sich, dass der Bau dem standgehalten hat. Die Welt auf dem Heimweg war eine andere als auf dem Hinweg. So ganz konnte ich nicht begreifen, was ich da gerade erlebt hatte. Absolut unvergesslich.

Zu guter letzt kehren wir zurück ins alte Westberlin, nur wenige Tage vor dem Mauerfall, an den damals trotzdem noch niemand glaubte. Und wir kehren zurück zu einem Musiker, dem wir oben schon begegnet sind, Peter Kowald. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums von FMP fand das Total Music Meeting im Rahmen der Berliner Jazztage im schönen Kammermusiksaal der Philharmonie statt. Ein würdiger Rahmen. Das Line Up des viertägigen Festivals gab einen guten Überblick über das musikalische Spektrum, für das das Total Music Meeting stand. Musikerinnen, Musiker, Ensembels, Solisten mit den unterschiedlichsten Konzepten im Rahmen der improvisierten Musik. Beeindruckend. Es ist der 5. November 1989. Auf der Bühne stand Peter Kowald, jener Bassist, der schon beim Auftakt der Reihe 1968 im Quasimodo dabei war. Es war ein Solokonzert, ein Mann mit seinem mächtigen Contrabass. Mehr nicht. Der Kammermusiksaal war mit etwa 1000 Gästen ausverkauft, und die sollten im Laufe des Konzerts keinen Mucks von sich geben. Sie schwiegen und staunten, was dieser kahlköpfige, kräftige Mann mit seinem Instrument, mit dem er verwachsen schien, alles anstellte. Es war eine unzertrennbare Einheit aus Mensch und Instrument. Kowald improvisierte, eins ergab sich aus dem anderen. Er entlockte dem Bass Klänge, von denen man nicht vermutet hätte, dass sie in ihm steckten. Er streichelte ihn, er schlug ihn, er quälte ihn, er strich klopfte und zupfte, klemmte den Bogen zwischen die Saiten und er liebte ihn. Der Bass war Schlagzeug, knarzende Tür, schnurrende Katze. Er stöhnte, jauchzte und jaulte, säuselte, er schrie und flüsterte. All das verwob sich zu einem Klangteppich, auf dem man weiter als bis Bagdad hätte fliegen können. Ich habe mich gefragt, ob es Menschen gab die Kowald so gut kannte wie seinen Bass. Es war die pure Faszination, was dieser Mann da alleine auf der Bühne des Kammermusiksaals veranstaltete. Überraschend, unerbittlich und bislang ungehört. Nach einer guten Stunde ließ Kowald leicht erschöpft von seinem Instrument ab und gönnte ihm den wohlverdienten Feierabend. Peter Kowald verbeugte sich und verließ die Bühne. Zurück blieb ein restlos begeistertes Publikum und dessen tosender Applaus. Mit der Gewissheit etwas Ungeheuerliches erlebt zu haben, verließ ich den Konzertsaal.

Es gibt auch Platten mit Soloarbeiten von Kowald. Zwei habe ich mir gekauft, aber der Genuss aus der Konserve war nicht vergleichbar mit dem unmittelbaren Konzerterlebnis. Wie es Jost Gebers sagte, der richtige Ort für Free Jazz ist die Bühne.

Kowald ist am 21. September 2002 unerwartet in New York gestorben, er wurde 58 Jahre alt. Ein nächstes Konzert in Deutschland war für den Januar im Frankfurter Mousontum geplant. Dort veranstaltete Kowalds Freund Peter Brötzmann ein Tribute Konzert für den jahrelangen Mitstreiter. Brötzmann gestaltete auch das wunderbare Plakat zu dem Abend, der unter dem Motto stand „A Night Of Joy And Music – Dedicated to Peter Kowald“. Die Teilnehmerliste war für Freunde der freien Musik ein echter Leckerbissen. Alle beteiligten Musikerinnen und Musiker habe ich irgendwann auf der Bühne gesehen, in unterschiedlichsten Konstellationen, oft mit Kowald. Als ich nachts um drei Uhr gegangen bin, war der Abend noch nicht beendet.

Peter Brötzmann ist mittlerweile achtzig Jahre alt und brötzt immer noch.

Die wunderbaren Zeichnungen stammen von Bärbel Rothhaar. Herzlichen Dank dafür.

Spaziergangstagebuch 3

10.11.

Vom Ernst-May-Platz zum Goetheturm und zurück

Ein Tag wie ihn nur der Herbst zustande bringt. Herbstlaub raschelt unter den Füßen. Ein Jogger in kurzen Hosen kämpft sich den Anstieg am Bornheimer Hang hoch. Am Röderbergweg eine Reihe solider Häuser. Von dort schweift der Blick, besonders im Herbst und Winter über den Ostpark, weiter nach Offenbach und Hanau, bei klarer Sicht bis Spessart und Odenwald. Im Süden ragt der Goetheturm aus dem Stadtwald. Mein Ziel. Eine sehr schöne Straße, Platanengesäumt und still. Grzymek soll hier irgendwo gewohnt haben. Am Wegesrand ein in den Farben des FSV angepinselter Verteilerkasten. Wieder wechsle ich wegen eines Hundes die Straßenseite. Die Sonne scheint mir ins Gesicht, vor mir der mächtige Bau der EZB. Derzeit werden die Altglascontainer in Frankfurt wohl nur schleppend geleert. Fahrzeugmangel ist zu lesen.

Die Wagenburg am Ostbahnhof muss bis Januar einem Hotelneubau weichen. Es ist zu hoffen, dass bis dahin ein Ersatzstandort gefunden wird, sonst gäbe es auf einen Schlag eine Menge neuer Obdachloser in der Stadt. Die Gedenkstätte an der EZB. Von hier wurden Frankfurts Juden nach Auschwitz deportiert, nachdem sie in langen Kolonnen durch die Stadt getrieben wurden und oft stundenlang ohne Toiletten in der Großmarkthalle stehen mussten. Den Transport mussten sie bezahlen. Die Gleise sind noch zu sehen. Das Honseldreieck zwischen Honsel und Osthafenbrücke soll tatsächlich bebaut werden mit einem Hotel. Der Glaskasten wird dann allen, die aus Richtung Offenbach kommen, den Blick auf die Skyline verwehren. Frankfurt will halt auch seine Elbphilharmonie, wenn auch etwas kleiner. Im Schatten der Honselbrücke haben sich einige Obdachlose mit Zelten eingerichtet. Rauch steigt auf. Wird gekocht? Im schönen Club und Café Familie Montez hätte ich gerne einen Kaffee getrunken, aber die Zeit drängte, es wird früh dunkel. Ein leeres Frachtschiff tuckert rückwärts in den Osthafen. Über die Osthafenbrücke wechsle ich auf die andere Mainseite, den Goetheturm im Blick. Auf dem Mainweg rollert ein alter Mann auf einem Fahrrad des Weges, einige Habseligkeiten im Gepäckkorb. Er inspiziert Mülleimer, ein Flaschensammler. Ich wandle auf Goethes Spuren und passiere die Gerbermühle, wo er einst Geburtstag feierte.

Dort verlasse ich den Mainuferweg und biege ab in Richtung Oberrad. Von den Oberräder Feldern stammen die Kräuter für die echte Frankfurter Grüne Soße. Jede Grüne Soße, die in den Wintermonaten angeboten wird, wird aus importierten Kräutern zubereitet und darf auch nicht „Frankfurter Grüne Soße“ genannt werden. Der Ortskern von Oberrad, eine Haltestelle. „Das Wirtshaus in Frankfurt“ hat geschlossen. Wohin jetzt? „An der Mannsfaust“, der liebste Straßenname meiner besten Freundin. Man grüßt sich in Oberrad am Rande des Stadtwalds. Der Wald in herbstlichem Gewand. Ich hätte mir ein zweites Paar Socken anziehen sollen. Bin mir nicht so ganz sicher, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Aber schnell habe ich wieder Empfang und weiß, dass ich richtig bin. Geheimnisvolles Zeichen an einem Baum, an Brüste erinnernd. Ich grüße die wenigen Spaziergänger, die mir entgegen kommen. Meist stifte ich damit Verwirrung. Zwei Joggerinnen überholen mich, sich unterhaltend. Ich wollte beim Joggen nie reden. „Wie lange will die denn noch leben“, meine ich aufzuschnappen. Vielleicht habe ich mich aber auch verhört. Ein Buntspecht begrüßt mich fröhlich. Der Maunzenweiher läge still und ruhig, würden nicht im Minutentakt Flugzeuge im Landeanflug auf den nahen Flughafen die Stille zerschneiden. Der Wendelsweg führt schnurstracks hinein nach Sachsenhausen. Ein Polizeiwagen kommt mir entgegen. Einige Minuten später nochmals mit höherem Tempo. Zwei junge Frauen, vielleicht auch Mädchen, rennen in Alltagskleidung in den Wald hinein. Es sah nicht nach Joggen aus. Vielleicht ein Spiel im Sinne von, wer zuerst da ist, hat gewonnen. Immer wieder Hinweise darauf, wie krank dieser Wald ist. Und wieder dieses Zeichen. Vielleicht ein Code der Waldarbeiter.

Raste in der Goetheruh, trinke einen Cappucchino und esse dazu ein gigantisches Stück Kirschstreusel, leider ziemlich trocken. Außer mir ein älteres Paar zwei Tische entfernt. Er ist mindestens Mitte, Ende 70, die Dame an seiner Seite etwas jünger. „Ich will dich jetzt mal in die Familie einführen“, sagt er zu ihr „damit die wissen, wer du bist.“ Sie zeigt sich nur mäßig begeistert. Ansonsten verliere ich mich in Kindheitserinnerungen. Oft war ich damals mit den Eltern hier. Der Goetheturm war mein wahres Wahrzeichen von Frankfurt. Wer aus dem Norden auf die Stadt zufährt sieht ihn schon von Weitem aus dem Stadtwald ragen. Noch heute habe ich seinen Geruch in der Nase. Ich war erschüttert als er 2017 abgefackelt wurde und der charakteristische Duft Brandgeruch wich. Irgendjemand mit Brandbeschleuniger und Feuerzeug hatte es in diesem Jahr auf etliche Holzbauwerke in der Stadt abgesehen, Schaden 5 Mio. Euro. Dieser Turm war das prominenteste Opfer seiner, oder ihrer, Brandlust. Bis heute ist niemand gefasst. Als Kind war dieser Ort am Goetheturm mein Lieblingsplatz. Den Spielplatz von damals gibt es heute noch. Nach dem Spielen gab es Kakao und Apfelstrudel in der Goetheruh. Seit zwei Jahren steht jetzt die Rekonstruktion des Turms. Er ist, anders als der alte, hell und er riecht nicht. Ich war auch noch nicht oben.

Über den Wendelsweg geht`s zügig abwärts, vorbei an verwunschenen Kleingärten. Am Himmel rätselhafte Wolkenformation, wahrscheinlich Kondenzstreifen eines Flugzeugs in Warteschleife. Ein ebenso verwunschenes Wasserhäuschen am Wendelsweg. Sachsenhausen empfängt mich rotgetränkt. The world is on fire. Ich kehre an der Darmstädter Landstraße bei Kaliko ein, einem angenehmen, ruhigen Lokal mit guter Küche und guten Getränken zu einem sehr vernünftigen Preis. Vom lärmenden Alt-Sachsenhausen gleich nebenan ist hier nichts zu merken. Seit Corona war ich nicht mehr dort, wurde aber wiedererkannt. Ich esse Königsberger Klopse, trinke Riesling und zum Abschluss einen Espresso und einen Brandy. Dann gehe ich weiter über den Eisernen Steg, durch die Innenstadt zurück nach Bornheim. 18 Kilometer habe ich hinter mir und mir geht es blendend.

Spaziergangstagebuch 2

03.11.2021

Vom Waschsalon am Sandweg durch die Wallanlagen zum Literaturhaus und zurück.

Es war nur ein kurzer Spaziergang, gerade lange genug, um die 40 Minuten zu überbrücken, die Maschine Nr. 6 benötigt meine Wäsche zu waschen. Ein herbstlicher Tag mit leichtem Nieselregen. Nichts was mich davon abhalten könnte, ein wenig herumzugehen. Nach Kurzem komme ich am schönen Wirtshaus Mosebach vorbei. Ich müsste mal wieder hingehen, denke ich. Es ist lange her seit meinem letzten Besuch dort, die Qualität war immer gut. Ein kleines, auf Holz gemaltes Bild wurde freigelassen und dient jetzt an der Wand als Streetart. In einer Einfahrt beseitigt eine Frau mittels eines Bläsers das feuchte Laub. Das Café Maingold an der Zeil 1 hat wieder geöffnet. Wegen akuten Personalmangels in allen Bereichen hatte es einige Wochen geschlossen.

An einer Hauswand am Allerheiligentor prangt formatfüllend der riesige Schriftzug „WIR SIND ALLES FRANKFURTER“. Was soll das „S“ da, frage ich mich. Das gleichnamige Innenstadtviertel, das bislang durch Dönerläden neben Pornobuden, Gewalt, Drogen und Autoposern geprägt ist, soll so „aufgewertet“ werden. Gleichwohl wohnen viele Alteingesessene gerne in ihrem Viertel. Das „Main Yard“ genannte Projekt soll die altbekannte Mischung aus Wohnen, Gastronomie und Shopping bieten und die etwas verrufene Gegend „aufwerten“. Es ist die beginnende Gentrifizierung auch dieses Quartiers. In den Wallanlagen, – sie folgen dem Verlauf der früheren Stadtmauer, auf dem Stadtplan lässt sich das gut sehen – liegt nasses Laub auf den Wegen. Alles hier ist Herbst. Ich liebe es. Der Spielplatz verwaist. Zwei Jungs spielen mit einem Einkaufswagen. Als das Interesse erlischt lassen sie ihn zurück und ziehen weiter. Alles unter dem strengen Blick Lessings. Einige Gänse mit schwarzem Hals spreizen merkwürdig das Gefieder. Zuhause schau ich nach, es waren Kanadagänse. Der Brunnen im Rechneigraben genannten Teich schießt weiterhin fröhlich Fontänen in die Höhe. Vor über 200 Jahren diente dieses Gewässer als Löschwasserreservoire. Ein unsichtbares Rotkehlchen trällert aus dem Nest.

Am Literaturhaus kehre ich um. Wie lange schon bin ich dort nicht mehr gewesen. Ein kleiner weißer Hund trollt über die Wiese und Wege. Er schnüffelt am Wegesrand. Seit einem Biss in der Kindheit habe ich einen gewissen Respekt vor Hunden und spaziere über die feuchte Wiese um auf der anderen Seite weiterzugegehen. Dann entdeckt der kleine Hund einen Dackel und findet den interessanter. Ich kehre zurück auf meinen ursprünglichen Weg. Auf einer Bank sitzt ein Mann und füttert Enten, Gänse und Tauben. Nach 45 Minuten bin ich zurück. Die Wäsche ist fertig.