Mach`s gut 2022

Der letzte Tag des Jahres 2022. Gut dass es vorbei ist, ließe sich sagen, aber was kann das Jahr dafür dass die Zeiten so scheiße sind? Trotzdem habe ich erstmals Vorsätze, ob gute oder vergebliche, wird sich zeigen. Aber immerhin eine Möglichkeit, so zu tun, als es gäbe etwas wie Zukunft.

Wie in den letzten Jahren auch, bin ich alleine zuhause. Früher wäre das undenkbar gewesen, aber mittlerweile hat es sich bewährt. Draußen wird geballert wie blöde, die Ballermänner und Frauen mussten ja zwei Jahre Abstinenz üben. Spotify spielt mir Amanda Shires vor, eine der musikalischen Entdeckungen des letzten Jahres. Weitere Entdeckungen The Smile und Jenny Hval. Musik, zu allen Zeiten, ob gute oder schlechte, bereichernd, eine zuverlässige, unverzichtbare Begleiterin, oft auch Trost. Seit zwei Jahren geplante Konzerte konnten endlich stattfinden. Auch das Patti-Smith-Konzert in der schönen Jahrhunderthalle. Ein Geburtstagsgeschenk für eine liebe Freundin, bereits vor zwei Jahren. Tolles Konzert einer beeindruckenden Künstlerin, lebende Musikgeschichte. Bin sehr froh, sie noch erlebt zu haben. Die Freundin revanchierte sich ebenfalls mit einer Konzerteinladung, The Cure in der Festhalle. Von der Band haben wir zwar nicht viel gesehen, aber gehört um so besser. Und das war gut, sehr gut. Aber das Konzerthighlight für mich, Fucked Up im Kesselhaus in Wiesbaden. Diese von mir sehr geschätzte kanadische Punkband habe ich mir schon lange live gewünscht. Und das in einem überschaubaren Rahmen mit etwa 200 Leuten in einem guten Club, zu einem Viertel des Ticketpreises. Es war wie erwartet, laut, schnell, atemlos, schweißtreibend, nicht nur wegen der Musik. Auf der Bühne heizte die Band ein, draußen die Sonne am bislang heißesten Tag des Jahres. Wem diese Band unbekannt ist, und das dürften viele sein, sei das phantastische Album “David Comes To Life“ empfohlen. Ein Meisterwerk.

Viel geschwitzt habe ich auch am katalonischen Mittelmeerstrand, Füße ins Meer halten und den Rest auch. Der erste Urlaub seit etlichen Jahren, mit Flugzeug, Strand und einer fremden Sprache. Nicht nur Patti Smith und The Cure haben M. und ich gemeinsam erlebt, nein auch den Urlaub zusammen verbracht. Erstmals, ein kleines Abenteuer. Aber wir können gut Radtouren machen und lange Spaziergänge, ohne uns auf die Nerven zu gehen. Wenn das klappt, kann man auch problemlos einen gemeinsamen Urlaub machen. Und so war`s dann auch. Jetzt bin ich auch mal durch Barcelona spaziert. Zurück aus dem Urlaub betrat ich eine Baustelle statt einer Wohnung. Im September wurde im ganzen Haus die Heizungsanlage ausgetauscht. Living on a Baustelle. Ebenfalls nach dem Urlaub war ich auch meinen kleinen Aushilfsjob in einer Buchhandlung los. Der neue Inhaber arbeitet lieber mit hübschen jungen Frauen als mit alten Säcken. Ich kann`s verstehen.

Ansonsten die Zeit der Impfungen, Grippe, Streptokokken und Ende November der zweite Booster. Im Mai zunächst die Infektion. Zwei Wochen heftige Erkältung. Wusste nicht, wieviel Rotz in so einem Kopf stecken kann. Hat keinen Spaß gemacht, nicht empfehlenswert.

Ein herausragendes Buch ist mir in diesem Jahr nicht unter gekommen, was aber auch darin begründet ist, dass ich nicht allzu viel gelesen habe. Als Urlaubslektüre diente Andreas Maier „Die Städte“. Hat mir schöne Stunden beschert, wie immer bei Maier. Am Ende vom Buch war noch Urlaub übrig. Das gab`s auch noch nicht. Und zur Zeit beschäftigt mich Robert Menasse mit „Die Erweiterung“. Auch das macht viel Freude.

Um noch ein wenig den Grauschleier dieser Zeit zu lüften, sei ein besonderer Besuch erwähnt. Auf dem Rückweg aus der Pfalz nach Berlin machte eine ganz alte Freundin bei mir Halt. Wir kennen uns seit über 40 Jahren, waren mal ein Paar. Eine Künstlerin, einige ihrer Bilder hängen in meiner Wohnung. Im letzten Jahr hatte sie mich schon einmal besucht. In diesen unsicheren Zeiten sind wir beide überaus froh, unsere Freundschaft wiederbelebt zu haben. Konstanz und Vertrauen über viele Jahre geben Halt und Sicherheit. Wir haben einen langen Spaziergang gemacht, waren kurz im Städel und dann in einem schönen Lokal in Sachenhausen essen. Auf dem Heimweg einen Absacker in der Mosaik-Jazzbar, die sie sehr begeistert hat.

Überhaupt Spaziergänge. Diese begleiten mich ja schon einige Jahre, seit ich mich gewandelt habe vom Radfahrer zum Fußgänger. Über diese Spaziergänge geschrieben habe ich schon gelegentlich, aber jetzt sind sie versammelt in den sog. „Spaziergangstagebüchern“, hier im Blog nachzulesen. Weitere werden folgen. Denn es gilt, wenn ich gehe, geht`s mir gut.

Es liegt auf der Hand, das Zweifel an der Zukunft angebracht sind. Der Klimawandel geht nach wie vor mehr oder weniger ungehindert seines Weges und seit Februar führt Putin einen grausamen Krieg gegen die Ukraine. Plötzlich Krieg in der Nachbarschaft, inklusive Atomwaffendrohungen, vor einem Jahr undenkbar. Auch ich konnte mir das nicht vorstellen, trotz all der Truppenbewegungen, trotz Krim. Niemand ist gefeit vor Naivität.

Noch gewichtigere Gründe liegen im Tod von vier Menschen aus meinem engeren Umfeld. Drei langjährige Bekannte, keine sehr engen Freunde aber Menschen, die mir immer wieder begegnet sind, und eine ehemalige, wunderbare Suhrkamp-Kollegin. Die beiden ältesten darunter kaum älter als ich.

Also, mach dich fort, 2022.

R.I.F. Jörg (47), R.I.F. Werner (71), R.I.F. Michael (65), R.I.F. Ulrike (71).