Spaziergangstagebuch 3

10.11.

Vom Ernst-May-Platz zum Goetheturm und zurück

Ein Tag wie ihn nur der Herbst zustande bringt. Herbstlaub raschelt unter den Füßen. Ein Jogger in kurzen Hosen kämpft sich den Anstieg am Bornheimer Hang hoch. Am Röderbergweg eine Reihe solider Häuser. Von dort schweift der Blick, besonders im Herbst und Winter über den Ostpark, weiter nach Offenbach und Hanau, bei klarer Sicht bis Spessart und Odenwald. Im Süden ragt der Goetheturm aus dem Stadtwald. Mein Ziel. Eine sehr schöne Straße, Platanengesäumt und still. Grzymek soll hier irgendwo gewohnt haben. Am Wegesrand ein in den Farben des FSV angepinselter Verteilerkasten. Wieder wechsle ich wegen eines Hundes die Straßenseite. Die Sonne scheint mir ins Gesicht, vor mir der mächtige Bau der EZB. Derzeit werden die Altglascontainer in Frankfurt wohl nur schleppend geleert. Fahrzeugmangel ist zu lesen.

Die Wagenburg am Ostbahnhof muss bis Januar einem Hotelneubau weichen. Es ist zu hoffen, dass bis dahin ein Ersatzstandort gefunden wird, sonst gäbe es auf einen Schlag eine Menge neuer Obdachloser in der Stadt. Die Gedenkstätte an der EZB. Von hier wurden Frankfurts Juden nach Auschwitz deportiert, nachdem sie in langen Kolonnen durch die Stadt getrieben wurden und oft stundenlang ohne Toiletten in der Großmarkthalle stehen mussten. Den Transport mussten sie bezahlen. Die Gleise sind noch zu sehen. Das Honseldreieck zwischen Honsel und Osthafenbrücke soll tatsächlich bebaut werden mit einem Hotel. Der Glaskasten wird dann allen, die aus Richtung Offenbach kommen, den Blick auf die Skyline verwehren. Frankfurt will halt auch seine Elbphilharmonie, wenn auch etwas kleiner. Im Schatten der Honselbrücke haben sich einige Obdachlose mit Zelten eingerichtet. Rauch steigt auf. Wird gekocht? Im schönen Club und Café Familie Montez hätte ich gerne einen Kaffee getrunken, aber die Zeit drängte, es wird früh dunkel. Ein leeres Frachtschiff tuckert rückwärts in den Osthafen. Über die Osthafenbrücke wechsle ich auf die andere Mainseite, den Goetheturm im Blick. Auf dem Mainweg rollert ein alter Mann auf einem Fahrrad des Weges, einige Habseligkeiten im Gepäckkorb. Er inspiziert Mülleimer, ein Flaschensammler. Ich wandle auf Goethes Spuren und passiere die Gerbermühle, wo er einst Geburtstag feierte.

Dort verlasse ich den Mainuferweg und biege ab in Richtung Oberrad. Von den Oberräder Feldern stammen die Kräuter für die echte Frankfurter Grüne Soße. Jede Grüne Soße, die in den Wintermonaten angeboten wird, wird aus importierten Kräutern zubereitet und darf auch nicht „Frankfurter Grüne Soße“ genannt werden. Der Ortskern von Oberrad, eine Haltestelle. „Das Wirtshaus in Frankfurt“ hat geschlossen. Wohin jetzt? „An der Mannsfaust“, der liebste Straßenname meiner besten Freundin. Man grüßt sich in Oberrad am Rande des Stadtwalds. Der Wald in herbstlichem Gewand. Ich hätte mir ein zweites Paar Socken anziehen sollen. Bin mir nicht so ganz sicher, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Aber schnell habe ich wieder Empfang und weiß, dass ich richtig bin. Geheimnisvolles Zeichen an einem Baum, an Brüste erinnernd. Ich grüße die wenigen Spaziergänger, die mir entgegen kommen. Meist stifte ich damit Verwirrung. Zwei Joggerinnen überholen mich, sich unterhaltend. Ich wollte beim Joggen nie reden. „Wie lange will die denn noch leben“, meine ich aufzuschnappen. Vielleicht habe ich mich aber auch verhört. Ein Buntspecht begrüßt mich fröhlich. Der Maunzenweiher läge still und ruhig, würden nicht im Minutentakt Flugzeuge im Landeanflug auf den nahen Flughafen die Stille zerschneiden. Der Wendelsweg führt schnurstracks hinein nach Sachsenhausen. Ein Polizeiwagen kommt mir entgegen. Einige Minuten später nochmals mit höherem Tempo. Zwei junge Frauen, vielleicht auch Mädchen, rennen in Alltagskleidung in den Wald hinein. Es sah nicht nach Joggen aus. Vielleicht ein Spiel im Sinne von, wer zuerst da ist, hat gewonnen. Immer wieder Hinweise darauf, wie krank dieser Wald ist. Und wieder dieses Zeichen. Vielleicht ein Code der Waldarbeiter.

Raste in der Goetheruh, trinke einen Cappucchino und esse dazu ein gigantisches Stück Kirschstreusel, leider ziemlich trocken. Außer mir ein älteres Paar zwei Tische entfernt. Er ist mindestens Mitte, Ende 70, die Dame an seiner Seite etwas jünger. „Ich will dich jetzt mal in die Familie einführen“, sagt er zu ihr „damit die wissen, wer du bist.“ Sie zeigt sich nur mäßig begeistert. Ansonsten verliere ich mich in Kindheitserinnerungen. Oft war ich damals mit den Eltern hier. Der Goetheturm war mein wahres Wahrzeichen von Frankfurt. Wer aus dem Norden auf die Stadt zufährt sieht ihn schon von Weitem aus dem Stadtwald ragen. Noch heute habe ich seinen Geruch in der Nase. Ich war erschüttert als er 2017 abgefackelt wurde und der charakteristische Duft Brandgeruch wich. Irgendjemand mit Brandbeschleuniger und Feuerzeug hatte es in diesem Jahr auf etliche Holzbauwerke in der Stadt abgesehen, Schaden 5 Mio. Euro. Dieser Turm war das prominenteste Opfer seiner, oder ihrer, Brandlust. Bis heute ist niemand gefasst. Als Kind war dieser Ort am Goetheturm mein Lieblingsplatz. Den Spielplatz von damals gibt es heute noch. Nach dem Spielen gab es Kakao und Apfelstrudel in der Goetheruh. Seit zwei Jahren steht jetzt die Rekonstruktion des Turms. Er ist, anders als der alte, hell und er riecht nicht. Ich war auch noch nicht oben.

Über den Wendelsweg geht`s zügig abwärts, vorbei an verwunschenen Kleingärten. Am Himmel rätselhafte Wolkenformation, wahrscheinlich Kondenzstreifen eines Flugzeugs in Warteschleife. Ein ebenso verwunschenes Wasserhäuschen am Wendelsweg. Sachsenhausen empfängt mich rotgetränkt. The world is on fire. Ich kehre an der Darmstädter Landstraße bei Kaliko ein, einem angenehmen, ruhigen Lokal mit guter Küche und guten Getränken zu einem sehr vernünftigen Preis. Vom lärmenden Alt-Sachsenhausen gleich nebenan ist hier nichts zu merken. Seit Corona war ich nicht mehr dort, wurde aber wiedererkannt. Ich esse Königsberger Klopse, trinke Riesling und zum Abschluss einen Espresso und einen Brandy. Dann gehe ich weiter über den Eisernen Steg, durch die Innenstadt zurück nach Bornheim. 18 Kilometer habe ich hinter mir und mir geht es blendend.

Spaziergangstagebuch 2

03.11.2021

Vom Waschsalon am Sandweg durch die Wallanlagen zum Literaturhaus und zurück.

Es war nur ein kurzer Spaziergang, gerade lange genug, um die 40 Minuten zu überbrücken, die Maschine Nr. 6 benötigt meine Wäsche zu waschen. Ein herbstlicher Tag mit leichtem Nieselregen. Nichts was mich davon abhalten könnte, ein wenig herumzugehen. Nach Kurzem komme ich am schönen Wirtshaus Mosebach vorbei. Ich müsste mal wieder hingehen, denke ich. Es ist lange her seit meinem letzten Besuch dort, die Qualität war immer gut. Ein kleines, auf Holz gemaltes Bild wurde freigelassen und dient jetzt an der Wand als Streetart. In einer Einfahrt beseitigt eine Frau mittels eines Bläsers das feuchte Laub. Das Café Maingold an der Zeil 1 hat wieder geöffnet. Wegen akuten Personalmangels in allen Bereichen hatte es einige Wochen geschlossen.

An einer Hauswand am Allerheiligentor prangt formatfüllend der riesige Schriftzug „WIR SIND ALLES FRANKFURTER“. Was soll das „S“ da, frage ich mich. Das gleichnamige Innenstadtviertel, das bislang durch Dönerläden neben Pornobuden, Gewalt, Drogen und Autoposern geprägt ist, soll so „aufgewertet“ werden. Gleichwohl wohnen viele Alteingesessene gerne in ihrem Viertel. Das „Main Yard“ genannte Projekt soll die altbekannte Mischung aus Wohnen, Gastronomie und Shopping bieten und die etwas verrufene Gegend „aufwerten“. Es ist die beginnende Gentrifizierung auch dieses Quartiers. In den Wallanlagen, – sie folgen dem Verlauf der früheren Stadtmauer, auf dem Stadtplan lässt sich das gut sehen – liegt nasses Laub auf den Wegen. Alles hier ist Herbst. Ich liebe es. Der Spielplatz verwaist. Zwei Jungs spielen mit einem Einkaufswagen. Als das Interesse erlischt lassen sie ihn zurück und ziehen weiter. Alles unter dem strengen Blick Lessings. Einige Gänse mit schwarzem Hals spreizen merkwürdig das Gefieder. Zuhause schau ich nach, es waren Kanadagänse. Der Brunnen im Rechneigraben genannten Teich schießt weiterhin fröhlich Fontänen in die Höhe. Vor über 200 Jahren diente dieses Gewässer als Löschwasserreservoire. Ein unsichtbares Rotkehlchen trällert aus dem Nest.

Am Literaturhaus kehre ich um. Wie lange schon bin ich dort nicht mehr gewesen. Ein kleiner weißer Hund trollt über die Wiese und Wege. Er schnüffelt am Wegesrand. Seit einem Biss in der Kindheit habe ich einen gewissen Respekt vor Hunden und spaziere über die feuchte Wiese um auf der anderen Seite weiterzugegehen. Dann entdeckt der kleine Hund einen Dackel und findet den interessanter. Ich kehre zurück auf meinen ursprünglichen Weg. Auf einer Bank sitzt ein Mann und füttert Enten, Gänse und Tauben. Nach 45 Minuten bin ich zurück. Die Wäsche ist fertig.

Herbstlicher Spaziergang durch die Riederwaldsiedlung

In vergangenen Zeiten verband ich den Begriff Riederwald vor allem mit Eintracht Frankfurt. Der Verein spielt allerdings schon lange nicht mehr in diesem Stadion, das nicht mal im Stadtteil Riederwald liegt, sondern im benachbarten Seckbach. Schon seit Start der Bundesliga bestreitet die Eintracht ihre Spiele im größeren Stadion im Stadtwald, das Fans noch heute Waldstadion nennen, obwohl der Name längst verkauft wurde und einer großen Bank gehört. Hier sind auch die Trainingsplätze der Fußballer und vor kurzem wurde auch die neue Geschäftsstelle im Stadtwald eröffnet, die bis dahin tatsächlich noch am Riederwald beheimatet war. Heute dient das Stadion am Riederwald noch als Trainingsgelände für den Eintracht-Nachwuchs.

Es dauerte dann auch eine lange Zeit, bis ich zum ersten Mal durch die Riederwaldsiedlung spaziert bin, obwohl ich seit Jahren quasi in der Nachbarschaft wohne. Beim ersten Mal hielt ich auch vergeblich nach dem legendären Stadion Ausschau und war enttäuscht, es nicht zu finden. Dennoch war ich beeindruckt, hatte das, was sich mir bot, nicht erwartet. Ich nahm mir vor diesen Weg künftig häufiger zu gehen. Das habe ich durchaus getan, aber immer in Begleitung. Jetzt war es wieder soweit, diesmal alleine. Es war ein perfekter Herbsttag, einer dieser Tage, die gemeint sind wenn vom Goldenen Oktober die Rede ist. Ohnehin mein Lieblingsmonat, der Oktober. Also schnürte ich nach dem, wie immer späten Frühstück, meine Schuhe und spazierte los. Es ist nicht weit. Zum Ernst-May-Platz, dann zum Bornheimer Hang, vorbei am FSV Stadion und an der U-Bahn Station Johanna-Tesch-Platz über die Straße. Schon bin ich im Riederwald.

Die 1875 in Frankfurt geborene Johanna Tesch war Sozialistin, Frauenrechtlerin und Reichstagsabgeordnete der SPD. Seit 1933 lebte sie mit ihrem Mann, auch er SPD Mitglied, zurückgezogen in der Riederwaldsiedlung. 1944 wurde sie verhaftet und im KZ Ravensbrück interniert. Dort starb sie, kurz vor ihrem 70. Geburtstag, im März 1945 an den Folgen der Haft.*

Dass ich so viele Jahre brauchte, um erstmals die Riederwaldsiedlung zu erkunden hat wohl auch damit zu tun, dass sich die Siedlung hinter der viel befahrenen und lauten Straße mit dem idyllischen Namen Am Erlenbruch gleichsam versteckt. Die Fassaden zur Straße hin grau und rußig, die Fenster blind. Man möchte dort nicht wohnen. Ein unendlicher Strom von Autos, dazu die U-Bahnen der Linien 4 und 7 , sorgen für entsprechend schlechte Luft und Krach. Aber wer sich davon nicht abhalten lässt und dieses fast schon abgeschottete Gebiet dennoch betritt, findet sich in einer unerwarteten Welt. Als erstes fällt auf, dass sich die Rückseiten dieser grauen Häuser zu einem großen und begrünten Hof wenden, Balkone überall. Das relativiert den ersten Eindruck schnell. Schon während der ersten Schritte durch die Siedlung wird deutlich, wie ungeheuer grün dieses Gebiet ist. Bäume und Wiesen überall, immer wieder kleine grüne Plätze und ein großer Spielplatz. Nicht umsonst wird auch von der Gartensiedlung Riederwald gesprochen. Gegründet wurde sie 1910 als Arbeitersiedlung. Etliche der Bewohner arbeiteten beim nahe gelegenen Güterbahnhof. *

Bald fällt auch das erste typische Siedlungshaus auf mit seinem markanten Mansardendach. Eine Dachform, die sich durchzieht. Robuste, charaktervolle Häuser, ohne Balkone aber immer umgeben von Wiesen, Gärten, Wäschespinnen und mächtigen Bäumen. Nach ein paar Minuten fällt ein weiteres Charakteristikum dieser Siedlung auf, die Stille. Zunächst hatte ich sie „überhört“ aber dann wurde sie auffallend und natürlich sehr angenehm. Es gibt keinen Durchgangsverkehr, auch aus den Häusern dringt kein Laut nach draußen, als wollten diese Gebäude ihre Geheimnisse für sich bewahren, wie dem ersten Eindruck nach der gesamte Stadtteil. In der Schäfflestraße öffnet sich diese ruhige Wohngegend durch ein Torhaus der Umgebung. Das Kerngebiet der Siedlung, das von diesen Bauten dominiert wird, steht heute unter Denkmalschutz. Die Siedlung in der Friedrich-Liszt-Straße weiter östlich wurde Mitte der zehner Jahre von Christoph Mäckler saniert und umgebaut. Hier nun Balkone und Terrassen und natürlich auch wieder Gärten. Das Ensemble fügt sich gut in die Umgebung und ist mit einigen Reihenhäusern von Ernst May in bester Gesellschaft. Am östlichen Ende des Gebiets überspannt seit kurzem eine Fahrrad- und Fußgängerbrücke die Gleise des Güterbahnhofs. Sie endet an der Hanauer Landstraße. Dort mündet die Carl-Benz-Straße, die ausgeschilderte Radverbindung nach Offenbach. Für mich der direkteste und schnellste Weg in die Nachbarstadt. Eine sehr angenehme Wohngegend also, allerdings hat auch sie ihre Nachteile. Wer ein Bier trinken gehen will oder einkaufen muss, muss woanders hinfahren, ins Ostend oder nach Bornheim. Beides ist nicht weit.

Ich verlasse die Riederwaldsiedlung, vorbei am Gelände eines Geflügelzuchtvereins, einem türkischen Kulturverein sowie einer Kleingartensiedlung. Ein stolzer Hahn begrüßt mich. Der Wald, der so heißt wie die Siedlung, zeigt sich in herbstlicher Vielfalt. Ich folge dem ausgeschilderten, teilweise abenteuerlichen Radweg in Richtung Ostbahnhof, immer wieder erstaunt, wie die Radverbindungen in Frankfurt mittlerweile ausgeschildert sind, und lande, nach der Unterquerung der Autobahnbrücke, im Ostpark. Ich drehe noch eine halbe Runde. Bis vor einigen Jahren herrschte in diesem Park noch eine regelrechte Plage mit Nilgänsen. Wege und Wiesen waren verdreckt, es waren einfach viel zu viele. Irgendwie wurde es geschafft, die Tiere von hier zu vertreiben, so dass heute nur Graugänse zu sehen sind. Voller Eindrücke schlendere ich durch das Ostend nach Bornheim, quere vorher jedoch das Viertel rund um den Parlamentsplatz oberhalb des Ostparks. Grzimek soll hier irgendwo gewohnt haben. Nach 7.5 km war ich wieder zuhause. Ein schöner Spaziergang, vielleicht auch, weil die Eintracht am Vortag mit 1:2 bei Bayern München gewonnen hatte.

*alle Informationen aus dem Internet.

Spazieren an einem herrlichen Herbsttag

Jahrelang habe ich das Quartier zwischen Ostpark und Wittelsbacherallee, rund um den Parlamentsplatz, im Frankfurter Ostend buchstäblich links liegen gelassen, obwohl es zu meiner unmittelbaren Nachbarschaft zählt. Meine regelmäßigen und häufigen Wege führten mich immer in die andere Richtung, zum Günthersburgpark oder in das Nordend, gelegentlich auch durch die Berger Straße, aber immer Richtung Innenstadt. Bis ich vor einigen Monaten erstmals durch diese bisherige Terra Incognita spazierte. Es gefiel mir, unspektakulär, eine ruhige Wohngegend mit dem einen oder anderen interessanten Gebäude. Mein Frankfurt ist durch diesen Spaziergang etwas größer geworden.

Eigentlich hatte ich Lust auf einen faulen Tag zuhause, mit Lesen, Musik hören, Kochen. Das Wetter machte mir jedoch einen Strich durch die Rechnung. Der Tag empfing mich mit herrlichstem Herbstwetter, Sonne, strahlend blauer Himmel, klare Luft, recht kühl. Das lies mir keine Wahl, Schuhe schnüren, herumgehen, Kopf lüften. Nach wenigen Minuten spazierte ich zum zweiten Mal in diesem Jahr durch die Gagernstraße im Ostend. Auffallend die breiten Gehwege, ist in Fankfurt ja nicht allzu oft anzutreffen. Es waren nur sehr wenige Passanten unterwegs, ich konnte problemlos auf die Maske verzichten. Auch Autos störten kaum die Ruhe. Ich genoss die Stille und betrachtete die teilweise recht schmucken Häuser. Hinter dem unscheinbaren Parlamentsplatz wandte ich mich nach links, bei nächster Gelegenheit wieder nach rechts. Wenn ich irgendwo gerne wohnen würde, dann am Röderbergweg im Frankfurter Ostend und zwar in vorderster Reihe. Grzimek soll hier irgendwo gewohnt haben. Der Blick ist sensationell.

Blick nach Nord-Westen

Nach Süd-Osten schweift der Blick, über Offenbach und Hanau, bis zum Odenwald. Im Nord-Westen ist am Horizont der Stadtwald auszumachen und dort ragt tatsächlich der neue Goetheturm aus den Wipfeln. Dieses wahre Frankfurter Wahrzeichen, das von Idioten abgefackelt wurde und jetzt endlich wieder nachgebaut ist. Mein Frankfurt ist wieder komplett. Und an den alten Turm habe ich noch reichlich Kindheitserinnerungen, die kann mir niemand abfackeln. Selbst den Geruch nach Harz und Holz habe ich noch im olfaktorischen Gedächtnis. Das allerdings wird der neue nicht können, noch nicht. Ich muss ihn mir auf jeden Fall bald aus der Nähe ansehen. Und dort, am Röderbergweg, habe ich ihn erstmals wieder gesehen. Mein Herz hüpfte vor Freude.

Immer der Nase nach, durch bislang unbekanntes Gebiet, vorbei an der schönen, mir bislang aber unbekannten Luxemburgerallee, landete ich bald am Ostbahnhof.

Luxemburgerallee

Und dort, ich hatte davon gelesen und natürlich wieder vergessen, eine Wagenburg. Alte Camping- und Bauwagen standen dicht gedrängt am Bahndamm. Unmittelbar fühlte ich mich nach Berlin und Kreuzberg zurückversetzt. Das wurde verstärkt durch Transparente mit dem Besetzerzeichen und vertrauten Forderungen „Frankfurt besetzen“. Außerdem „Ihr baut Mist“ (o.s.ä.). Angesichts der benachbarten Neubauten eine nachvollziehbare Bemerkung. Ich war begeistert von meinem Spaziergang, hatte so viel Neues gesehen in kurzer Zeit.

Wagenburg

Weiter zum Main. An der Osthafenbrücke wieder der Goetheturm, jetzt etwas größer.

Osthafenbrücke mit Goetheturm

Auch am Mainufer war es kein Problem auf die Maske zu verzichten, es waren nur wenige Leute unterwegs. Ich spazierte der untergehenden Sonne entgegen und konnte mich nicht satt sehen am Licht und den herbstlich leuchtenden Bäumen.

Mainufer

Auf der gegenüberliegenden Mainseite das Literaturhaus Frankfurt, dahinter der Schwesternwohnturm des Hospitals zum Heiligen Geist, der das Literaturhaus fast erdrückt. Dieses, tatsächlich unansehnliche, Gebäude hat mich dazu gebracht, über Hässlichkeit in der Stadt nachzudenken. Meinen früheren, spontanen Gedanken ABREISSEN! überdenke ich mittlerweile. Ich habe gelernt, dass auch diesen Gebäuden mit Respekt begegnet werden muss. Stadt braucht Hässlichkeit. Vielleicht irgendwann mehr dazu.

Literaturhaus mit Turm des Hl. Geist Hospitals

Weiter am Main, die Skyline bestimmt das Bild. Ich wechsle jedoch über die Alte Brücke auf die andere Seite, von Dribbdebach nach Hibbdebach. Dort steht sie wieder, am angestammten Platz, die Statue Karls des Großen, in Sandstein. Es handelt sich um eine Kopie, das Original befindet ich im wunderbaren Historischen Museum. Der Original-Karl ist wohl auch noch im Besitz eines Schwerts, was der Doppelgänger nicht von sich behaupten kann. Das Schwert, das Karl auf der Brücke stolz und auch durchaus Respekt fordernd, himmelwärts richtete, war wohl ein beliebtes Souvenir. Daher wurde der Kaiser regelmäßig entwaffnet, letztmals im August 2020. Und so steht er da, der stolze Kaiser, ähnlich dem Ritter der Traurigen Gestalt, als „Karl ohne Schwert“ (Michael Quast).

Karl ohne Schwert

Durch die Wallanlagen spaziere ich zurück gen Bornheim, den Kopf voller Bilder und Gedanken, und erstmals in den zwanzig Jahren, die ich jetzt hier lebe, denke ich, wie interessant, abwechslungsreich, spannend und durchaus aufregend diese kleine Stadt doch sein kann.

Wallanlage

In Bornheim ging ich in meiner Kneipe ein Bier trinken (ich darf das, ich arbeite da und habe einen Schlüssel) und blickte auf einen wundervollen Tag zurück.

Das Krisen-Photo zum Donnerstag

Eines meiner liebsten wöchentlichen Rituale ist der donnerstägliche Gang zum Erzeugermarkt an der Konstablerwache. Dort trinke ich ein-zwei Schobbe und esse irgendwas. Dann kaufe ich ein. Ich habe schon gelegentlich darüber geschrieben. Wann ich angefangen habe, mein Schobbeglas mit dem Deggelsche zu photographieren und auf Facebook zu veröffentlichen, weiß ich nicht mehr, bin auch zu faul, um zu recherchieren. Jedenfalls hat sich daraus eine kleine harmlose Spielerei ergeben und einige Leute haben Gefallen gefunden an diesen „Photos zum Donnerstag“, wie ich sie immer nenne. Die Bilder sahen meist so ähnlich aus wie dieses hier unten.

Photo zum Donnerstag

Mit den Corona-Schutzmaßnahmen, die ab Mitte März 2020 griffen, war das Photo zum Donnerstag in dieser Form nicht mehr möglich, denn der Ausschank auf dem Markt an der Konstablerwache wurde eingestellt. Es durfte dort nichts mehr verzehrt werden. Na gut, dachte ich mir, trinke ich meinen Schobbe halt zuhause und mache das Photo dort auf meinem Balkönsche. Das erste, das ich dann „Das Krisen-Photo zum Donnerstag“ nannte, war das vom 19. März. Ohne dass ich es beabsichtigt hatte, war das Glas unscharf dargestellt, nur der Baum im Hintergrund war scharf. Erst wollte ich es löschen, dann aber gefiel es mir. Ich hatte den Eindruck, das unscharfe Glas würde die Krise vielleicht ganz treffend illustrieren. Und ich hatte die Idee, mit dem Motiv zu spielen, auszubrechen aus der gewohnten Form. Dabei versuchte ich, eine gewisse Dramaturgie einzuhalten.

Spätestens als ich für das Photo vom 23. April ein Geripptes (so heißen diese Gläser) aus dem Nachlass meiner Eltern zerdepperte, wurde es völlig beliebig. Aber es hat sehr viel Spaß gemacht, mit dem „Photo zum Donnerstag“ auf diese Art zu spielen. Auch freute ich mich immer auf die, für meine Verhältnisse, zahlreichen Reaktionen und Kommentare. Sogar in Kanada wurden die Donnerstagsphotos wahrgenommen. Das erfolgreichste dieser Krisenphotos war das vom 02. April, das mit der Luftpolsterfolie. Das Bild vom 25. Juni war dann das erste, dass ich wieder auf dem Markt machte. Ich nannte es immer noch Krisen-Photo. Das Glas traut sich nicht so recht ins Bild, verharrt am Rand, mir war die Sache nicht geheuer. Eine Facebook-Freundin, die schon lange Gefallen an diesen Photos gefunden hatte, fand die Krisen-Photos dann allerdings recht deprimierend und schenkte mir zur Aufheiterung dieses schöne Halbliter-Gerippte mit Goldrand und Schleifchen. Eine Geste, über die ich mich sehr gefreut habe. Das Bild postete ich außerhalb der Reihe am 18. Juli unter dem Titel „Freude-Photo zum Samstag“. Seit dem 02. Juli geht es wieder gewohnt weiter mit den „Photos zum Donnerstag“, bis Corona wieder verstärkt zuschlägt und auf dem Markt wieder jeder Verzehr untersagt wird.

Das Freude-Photo zum Samstag

Nach Frankfurt

Im letzten Jahr hatte ich angefangen, ein paar kleinere Geschichten aufzuschreiben. Einige sind fertig, andere noch nicht. Wahr sind sie alle, denn ich kann mir nichts ausdenken. Gerne hätte ich sie in einem kleinen Buch versammelt gesehen, konnte den Verlag aber nicht überzeugen. Das ist nicht so tragisch, es gibt ohnehin zu viele Bücher. Da ich keine Lust habe, bei anderen Verlagen anzuklopfen, werde ich hier gelegentlich die eine oder andere Geschichte veröffentlichen. Und immerhin eine dieser Geschichten wird in diesem Buch veröffentlicht, dass im Mai 2020 erscheinen soll.

Das Vorstellungsgespräch

Das Gespräch, das mein Leben veränderte, dauerte etwa eine Viertelstunde. Ich saß lediglich dabei als ginge mich das alles nichts an und hörte zu, wie sich zwei Männer über mich unterhielten. Nur gelegentlich gab ich einen Kommentar ab.

Am Morgen war ich in Berlin am Bahnhof Zoo in einen ICE gestiegen, der mich nach Frankfurt am Main brachte. Dort fuhr ich mit der U-Bahn ins Westend, fragte mich zur Lindenstraße durch und meldete mich am Empfang des Suhrkamp Verlages. Ich möge einen Moment Platz nehmen, gleich würde mich jemand abholen. Auf dem schwarzen Uwe-Johnson-Sofa im Eingangsbereich wartete ich ein- zwei Minuten, bis mich mein künftiger Abteilungsleiter und Vorgesetzter begrüßte. Der Aufzug brachte uns in den dritten Stock. Ich war zum Vorstellungsgespräch beim damaligen kaufmännischen Geschäftsführers des Verlags geladen. Für diesen Anlass hatte ich mir den ersten Anzug meines Lebens gekauft. Nun saß ich da in meinem Anzug und wartete darauf, dass das Vorstellungsgespräch beginnen würde und ich ein paar Fragen beantworten müsste. Das blieb aus. Was der Abteilungsleiter über mich berichtet hatte, schien dem Geschäftsführer zu genügen. Nach fünfzehn Minuten durfte ich wieder gehen, mein künftiger Chef versprach, sich zu melden. Ich fuhr zurück zum Bahnhof. Am Tresen der DB-Lounge vertrieb ich mir die Zeit bis zur Abfahrt meines Zuges. Gegen 17 Uhr, ich trank mein zweites Bier, klingelt das Telefon. Ich hätte den Job, in den nächsten Tagen würde man mir den Arbeitsvertrag zuschicken, ich möge bitte am 10. Januar anfangen. Vierundzwanzig Jahre Berlin näherten sich dem Ende. In sechs Wochen musste ich umziehen. Der Kreis schließe sich, bemerkte mein Vater, ein gebürtiger Frankfurter, als ich anrief und die Neuigkeit verkündete.

Im Zug

Während mich der ICE zurück zum Bahnhof Zoo brachte, schaute ich aus dem Fenster und versuchte, mir mein künftiges Leben in „Westdeutschland“ vorzustellen. Ich kannte Frankfurt, hatte als Kind mit meinen Eltern schon einige Jahre in der Stadt gelebt und war in Sachsenhausen zur Schule gegangen. Zudem fuhr ich jährlich zur Buchmesse. Frankfurt war mir sympathisch, schön fand ich es nicht. Die Vorstellung, dort zu leben, fiel mir jedoch schwer. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass jemand freiwillig nach Frankfurt zog, etwa weil die Stadt so attraktiv ist, oder wegen des kulturellen Angebots und des hohen Freizeitwerts. Da ging man doch eher nach Berlin, Hamburg oder München. Frankfurt zählte für mich eher zu den grauen Mäusen unter den deutschen Städten, kurz vor Stuttgart und Hannover. Sicher, am Main ist es ganz schön, er wurde von der Stadt aber eher stiefmütterlich behandelt. Aber was ist der Main gegen die Wasserlandschaft Berlins mit Havel, Spree, Landwehrkanal und all den Seen? Und die Skyline war ganz hübsch anzusehen, Leben ging von diesen Gebäuden allerdings nicht aus. Wer nach Frankfurt zog, tat das eines Jobs oder vielleicht noch der Liebe wegen, nie jedoch aus freien Stücken. Dennoch, Apfelwein kannte und mochte ich und Fan der Eintracht war ich seit frühester Kindheit. Die Lage der Stadt und die Möglichkeit sehr schnell in alle Richtungen verschwinden zu können, schien mir ihr größter Vorteil zu sein. Ich fühlte mich als Berliner durch und durch, war jedoch bereit für Neues. Kurz zuvor hatte sich die lang umworbene Kölner Journalistin nach nur wenigen Monaten wieder von mir verabschiedet, und somit in einen Zustand versetzt, der wohl gemeinhin als Midlifecrisis bezeichnet wird. Bislang dachte ich immer, dieser Zustand sei eine Schimäre, aber jetzt hatte sie mich ordentlich im Griff und die Bereitschaft wachsen lassen, mein Leben zu ändern. Der Mauerfall hatte auch die Buchhandlung, in der ich elf Jahre gearbeitet hatte, in Schieflage gebracht. Längst war sie nicht mehr das erste Haus am Platze. Neue Konkurrenz hatte sich angesiedelt, die wirtschaftliche Situation der einst größten Buchhandlung Deutschlands verschlechterte sich zusehends. Mit Abfindungen sollten so viele wie möglich der ehemals einhundertvierzig Beschäftigten bewegt werden, freiwillig die Firma zu verlassen. Das traf sich gut mit meinem neuen Job bei Suhrkamp.

Die Stammkneipe

Am Abend wieder in Kreuzberg, steuerte ich umgehend meine Stammkneipe an. Sie lag auf dem Weg am Chamissoplatz, nur wenige Meter von dem Haus entfernt, in dem ich lebte. „Hansi“, sagte ich zum Wirt, „ich ziehe nach Frankfurt. Habe einen Job bei Suhrkamp, den konnte ich nicht ablehnen. In sechs Wochen bin ich weg.“ Hansi bedauerte das natürlich, beglückwünschte mich trotzdem, bemerkte aber, dass ich so einen Laden wie das Matto, so hieß die Kneipe, in Frankfurt wohl nur schwer finden würde. Er sollte recht behalten, zumindest für einige Jahre. Der letzte Tag des 20. Jahrhunderts war mein letzter Arbeitstag in Berlin.

Die ersten Monate

Zunächst kam ich bei Freunden in Offenbach unter, die ich aus gemeinsamen Berliner Tagen kannte. Ihr Gästezimmer diente mir für die ersten drei Monate als Unterkunft. Durch eine Suchanzeige in der Frankfurter Rundschau fand ich eine Wohnung in der Seckbacher Landstraße. Bornheim, so hieß es, sei ein begehrter Bezirk. Die Wohnung sagte mir zu. Ein Altbau, Parkettfußboden, Einbauküche, bezahlbar. Sie hatte die richtige Größe für mich und war ähnlich geschnitten wie meine Kreuzberger Wohnung. Der private Vermieter machte einen sympathischen Eindruck. Und doch hätte ich unter anderen Umständen diese Wohnung nicht genommen. Sie lag im ersten Stock an der Seckbacher Landstraße, einer stark befahrenen Ausfallstraße mit Busverkehr und ständigem Sirenengeheul der Rettungswagen, die Tag und Nacht das Bethanien- oder Katharinen-Krankenhaus ansteuerten. Das Rattern der U4, die unter dem Haus verkehrte, brummte durchs Haus und ließ es leicht vibrieren. An Schlaf bei offenem Fenster war nicht zu denken. Dennoch, ich brauchte eine Wohnung. An den Lärm würde ich mich schon gewöhnen, sagte ich mir. Im April zog ich ein.

Jetzt war ich schon einige Monate in Frankfurt. Ich war eingerichtet, mit den ersten Kollegen per Du, ich wusste auf welchen Wegen ich am bequemsten mit dem Rad von Bornheim ins Westend kam und wo ich einkaufen konnte. Eingelebt hatte ich mich nicht. Freundschaftliche Beziehungen zu meinen neuen Kolleginnen und Kollegen bauten sich nur zögerlich auf. Nach wie vor kannte ich nur meine alten Freunde aus Berliner Zeiten sowie einen ehemaligen Schulfreund, der in Frankfurt arbeitete und ebenfalls in Offenbach wohnte. Ich hatte in meiner Umgebung ein kleines Spanisches Lokal entdeckt, das uns zusagte. Bei José trafen wir uns wöchentlich, gelegentlich auch in Offenbach. Auf der Suche nach einer Wirtschaft, die als Stammkneipe geeignet war, besuchte ich diverse Wirtshäuser in der näheren Umgebung. Ich brauchte ein Matto. Aber ich wurde nicht fündig, keins der Lokale entsprach meinen Vorstellungen. Eine Apfelweinwirtschaft zu meiner Stammkneipe zu machen, wäre doch ein zu großer Schritt gewesen, quasi ein Kulturschock. Dem Thema musste man sich behutsam nähern. Ich verbrachte also die meisten meiner Abende zuhause, es sei denn die Offenbacher riefen. Eine Stammkneipe musste her. Aber was macht eine Kneipe zu einer Stammkneipe?

So eine Wirtschaft muss fußläufig in wenigen Minuten erreichbar sein. Das Matto war ideal, ich schaute aus dem Fenster und konnte zumindest im Sommer sehen, ob jemand draußen saß, den ich kannte. Meistens war das so. Und wenn ich niemanden kannte, war da immerhin Hansi, der Wirt, der stets ein offenes Ohr hatte. Die Einrichtung muss passen, Tischdecken und anderes Gedöns brauchte ich nicht. Ich suchte eine Kneipe, kein Restaurant. Das Angebot muss stimmen, gutes Bier, gutes Essen zu guten Preisen und natürlich ein gutes Publikum. Wenn schon Musik im Hintergrund läuft, muss mir diese gefallen. Und, ganz wichtig, der Wirt oder die Wirtsleute müssen sympathisch sein. Das ist vielleicht das Wichtigste. Dort will man sich wohlfühlen und auch mal, in Zeiten monetären Mangels, einen Deckel machen können. Zu diesem Wohlfühlen tragen der Wirt oder die Wirtin entscheidend bei, sie halten eine Kneipe zusammen.

Zwischen Berlin und Frankfurt

Meine Wohnung am Kreuzberger Chamissoplatz hatte ich behalten, sie war preiswert. In den ersten Monaten fuhr ich alle vierzehn Tage übers Wochenende nach Berlin und ging unter anderem ins Matto. Und da gab es noch meinen Lieblingsitaliener, Zagato, in der Bergmannstraße, gegenüber der Markthalle. Benannt war der Laden nach dem Konstrukteur der Alfa-Romeo-Sportwagen. Photos dieser Autos zierten dann auch die Wände des Lokals. Daneben Bilder von Rennmotorrädern, Inter Mailand und Radrennfahrern, Fausto Coppi und anderen. Die Decke tapeziert mit italienischen Sportzeitungen, die an die Triumphe des italienischen Fußballs erinnerten. Der Rest der Einrichtung war schlicht gehalten, Papiertischdecken, einfache Weingläser, keine aufgetürmten Servietten. Im nur selten genutzten Nebenraum stand ein altes Motorrad. Auf dem Heizkörper unter der großen Fensterfront ein Zettel: Füße runter von der Heizung, ZAKI ZAKI! An der Wand befahl ein weiterer Hinweis: Keine Zigarren! ZAKI ZAKI! Im Hintergrund erklang dezent italienische Schlagermusik der Fünfziger Jahre. Ein kleiner Raum, sieben Tische. Im Sommer zusätzlich fünf vor der Tür. Die Speisekarte änderte sich nie, Pizza suchte man vergebens. Gelegentlich gab es ein bis zwei wechselnde Tagesgerichte. Alles schmeckte köstlich. Die Weinkarte war überschaubar. Hier gab es von nichts zuviel, selbst die gespielte und übertriebene Freundlichkeit manch italienischer Kellnerdarsteller mit einem geträllerten Buona Sera Dottore und Ciao Bella hatte hier keinen Platz. Die Gäste wurden mit der gebotenen Zurückhaltung sehr freundlich begrüßt, bedient und verabschiedet, Smalltalk über Fußball und das eigene Befinden in angemessener Dosierung. Zum Abschluss gab`s einen Grappa aufs Haus. Zagato war ein Familienbetrieb, der Vater stand in der Küche, der Sohn, Mario, kümmerte sich um den Service. Das machten sie seit vielen Jahren so, täglich bis auf Sonntag. Mario war Eintrachtfan. Die Trikots erinnerten ihn an die von Inter Mailand. Wenn ich von Frankfurt aus anrief, um zu reservieren, lag dann auf dem jeweiligen Tisch ein Zettel, auf dem stand „Eintracht Stefan“. Als ich einige Jahre später bei einem weiteren Berlinbesuch mit einem befreundeten Buchhändler ins Zagato wollte, sagte dieser, der Laden sei zu, sie hätten vor einer hundertprozentigen Mieterhöhung kapituliert. Ich war geschockt und fühlte mich heimatlos. Nach einem solchen italienischen Lokal habe ich in Frankfurt bislang vergebens gesucht. In Berlin dann auch.

Sonntags kam der unausweichliche Zeitpunkt der Rückreise. Nach einem letzten Blick aus dem Fenster verließ ich wehmütig mein Gründerzeitviertel und stieg am Platz der Luftbrücke in die U-Bahn, die mich zum Hauptbahnhof brachte. Aus dem ICE heraus beobachtete ich wie mir Berlin unaufhaltsam entglitt. Vier Stunden später stieg ich fast vor meiner Haustür aus dem Schacht und fand mich auf der Seckbacher Landstraße, verloren und am falschen Ort. Autos rauschten vorbei und Passanten eilten zur U-Bahn. Was hatte ich hier zu suchen? Ob es so eine gute Idee war, aus Berlin wegzugehen? Diese Frage stellte ich mir über Jahre.

Nach zwei Jahren lernte ich die Nichte einer Kollegin kennen. Sie arbeitete im Eichborn Verlag als Lektorin. Wir wurden ein Paar, bis wir anderthalb Jahre später übereinstimmend feststellten, dass die Beziehung ein Irrtum war und wir uns wieder trennten. Aber durch sie lernte ich andere Menschen und Orte kennen, und kam somit etwas mehr in Frankfurt an. Am schönsten war es aber immer, wenn wir zusammen in Berlin waren. Sie ging leidenschaftlich gerne ins Matto und mochte Hansi, den Wirt, sehr.

Das Klabunt

Nach etwa fünf Jahren, ich war immer noch nicht richtig in Frankfurt angekommen, geschah etwas, dessen Tragweite ich noch nicht absehen konnte. In der oberen Berger Straße eröffnete in einem kleinen Fachwerkhäuschen, das zuvor einen Thai-Imbiss beherbergt hatte, ein Lokal. Klabunt stand draußen dran, sowie Satire und Schnaps. Es war Sommer und auf dem Gehweg davor standen zahlreiche Biergarnituren. Das war einladend, aber ich brauchte einige Wochen, um dort erstmals einzukehren. Mit meinem alten Schulfreund, der immer noch in Offenbach wohnte, verabredete ich ein Treffen in eben jenem Lokal. Es war ein sonniger Tag und wir setzten uns nach draußen. Ein großer, schwarz gekleideter und bleichgesichtiger Mann bediente uns. Später stellte sich heraus, dass es der Wirt war. Die Speisekarte bot Ungewöhnliches auf hessischer Basis. Wir bestellten beide ein Frankfurter Schnitzel. Es war köstlich und reichhaltig. Wohlgesättigt verlangten wir zum Abschluss nach Wodka. Den gab`s nicht, dafür aber einen herrlichen Obstbrand aus heimischen Gefilden. Wir waren überzeugt. Fortan ging ich öfter ins Klabunt, auch alleine. Der Name war ein Wortspiel aus Klabund, dem satirischen Dichter der zwanziger Jahre und der hessischen Fassung von klein und bunt, klaa un bunt. Ich setzte mich an einen ovalen Tisch neben dem Tresen, trank anfangs dunkles Bier und las. Irgendwann kam ich ich mit den Wirtsleuten ins Gespräch und das Bier wurde mir ungefragt hingestellt. Zu Fuß brauchte ich von der Seckbacher Landstraße etwa zehn Minuten. Das Klabunt veränderte mein Leben. Ich hatte eine Stammkneipe, auch wieder mit einem literarischen Namen.

Die Kneipe gehörte zum Umfeld der Titanic. Davon zeugten zahlreiche Cartoons, die die Wände zierten. Regelmäßig wurden Lesungen, vorwiegend aus dem humoristischen Genre, veranstaltet. Namhafte Satiriker, Autorinnen und Autoren fanden den Weg in den „Satirelandgasthof“ Klabunt. Längst war ich Stammgast, kannte die anderen Stammgäste und organisierte selbst drei Lesungen mit Autoren des Suhrkamp Verlags.

Trotz aller kulinarischen Raffinesse ist das Klabunt eine Kneipe geblieben. Am langen Tresen traf man auch noch nachts um zwei irgendwelche bekannten Gesichter. Vieles von dem, was mein jetziges Leben in Frankfurt ausmacht, hat seinen Ursprung in diesem Wirtshaus.

Ein langer Abschied

Meine Wochenendfahrten nach Berlin wurden weniger. Trotzdem wäre ich noch immer sofort wieder zurückgegangen, wenn sich eine Gelegenheit ergeben hätte. Als der Verlag in einer herrschaftlichen zweihundert Quadratmeter großen Wohnung in der Berliner Fasanenstraße eine Repräsentanz eröffnete, erkundigte ich mich, ob geplant sei, dort ein Büro zu eröffnen. Dem war nicht so, ich blieb.

Es schien, als sei erst jetzt, nach etwa sieben Jahren der Moment gekommen, mich endgültig in Frankfurt einzurichten. Meine Berlinfahrten wurden noch weniger. Im Jahr 2008 räumte ich die Wohnung in der Kopischstraße, in der ich seit 1985 gelebt hatte. Es war die schönste Wohnung, in der ich jemals gewohnt habe, in einer der schönsten Gegenden Berlins. Dennoch verließ ich sie ohne Wehmut. Für die endgültige Fahrt nach Frankfurt gönnte ich mir ein 1.Klasse Ticket. Good Bye Berlin.

Der Umzug

An einem Vormittag im Februar 2009 wurden den Suhrkamp-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Umzug des Verlags nach Berlin im Januar 2010 verkündet. Das hatte niemanden mehr überrascht, Gerüchte gab es schon länger. Außerdem stand die Meldung bereits eine Viertelstunde vor der Versammlung im Internet. Es ging sehr lebhaft zu im Sitzungszimmer. Für den Rest des Tages wurde nicht mehr viel gearbeitet. Wäre die Entscheidung drei Jahre früher gefallen, ich wäre mit wehenden Fahnen zurück nach Berlin gezogen. Jetzt hingegen war ich auf dem besten Weg, Frankfurter zu werden. Aber es blieb noch fast ein Jahr Zeit, da würde mir noch irgendwas einfallen. Es gab ja noch andere Verlage in Frankfurt. Aber meine Versuche, woanders unterzukommen, scheiterten. Es wurde Dezember, ich brauchte eine Wohnung in Berlin. In Prenzlauer Berg wurde ich dank Internet fündig. Ich schickte einen Kollegen zur Besichtigung, besuchte an diesem Tag einen alten Freund in Stuttgart. Dem Kollegen sagte die Wohnung zu, die Bilder, die ich gesehen, hatten mir gefallen. Die Miete hielt sich auch im Rahmen. Ich bekam die Wohnung, wurde bevorzugt, weil ich bei Suhrkamp arbeitete. Es gab unzählige weitere Bewerber. Der Umzugstermin kam bedrohlich näher und mir wurde immer mulmiger zu Mute. Grundsätzlich entschied ich lieber selbst, wenn ich umziehe. Meine umzugsfreudigen Eltern haben mir in Kinderjahren mit ihren vielen Ortswechseln keine Freude gemacht.

In den Büros wurde geräumt und gepackt. Auf den letzten Drücker suchte ich nach einem Ausweg. Der bot sich durch die Kooperation mit einem kleinen Frankfurter Verlag und Regionaliaproduzenten. Dass das keine gute Idee war, ist eine andere Geschichte.

Am 10. Januar 2010, genau zehn Jahre nach meinem ersten Arbeitstag im Suhrkamp Verlag, schrieb ich meine Kündigung zu Ende Februar. Die Wohnung in Prenzlauer Berg sagte ich ab. Ich war angekommen im „Weltkaff“ (Eva Demski), ich war Frankfurter.

4. Seckbacher Eppelweinkontest

Es herrschte Ausgehwetter zum 4. Seckbacher Eppelweinkontest (über die Schreibweise „Eppelwein“ lässt sich streiten). Ein sonniger Tag, nicht zu heiß. Und so zogen viele Freundinnen und Freunde des güldenen Frankfurter Nationalgetränks zum Vereinsheim der FG Seckbach im Frankfurter Osten. Sie wollten eine Tradition feiern, die in Frankfurt leider fast ausgestorben ist, das Keltern von Apfelwein. Über Jahrzehnte war es selbstverständlich, dass Apfelweinwirte ihren Schoppen selbst herstellten. Davon kann inzwischen keine Rede mehr sein. Die meisten Frankfurter Apfelweinwirtschaften beziehen jetzt ihr „Stöffche“ von auswärtigen Keltereien aus dem Odenwald, der Wetterau oder dem Spessart. Nur eine Handvoll der Frankfurter Wirtsleute pflegt noch diese Tradition, aber auch die müssen oft noch zukaufen, weil der eigene Ertrag nicht ausreicht. Immerhin, ein waschechter Apfelweinwirt und Kelterer hatte sich eingefunden und stellte die Früchte seiner Arbeit zur Wahl. Er wurde Dritter. Ansonsten waren Hobbykelterer aufgerufen, ihre eigenen Schoppenkreationen anonym einem fachkundigen Publikum zu präsentieren und bewerten zu lassen. Den Sieger, die Siegerin, erwartete eine goldfarbene Krone aus Pappe und der Titel der neuen Seckbacher Apfelweinkönigin, bzw des Königs. Da das Selbstkeltern eine rein männliche Domäne zu sein scheint, stand von Anfang an fest, dass es sich beim neuen, wie auch beim alten, um einen König handeln wird.

Veranstaltet wird die ganze Angelegenheit unter anderem von Apfelweinenthusiasten, die als Seckbacher Pressung antreten, und in schöner Regelmäßigkeit den letzten Platz belegen, so auch dieses Mal. Das hält sie jedoch nicht davon ab, immer wieder aufs Neue ihren rauen Schoppen vorzustellen und vor allem diese liebenswerte Veranstaltung zu organisieren. Wie stets sorgten auch bei der 4. Ausgabe zwei DJs für die angemessene musikalische Untermalung und ließen Punk-, Rockabilly- und Soulklänge über den Seckbacher Sportplatz erschallen. Zum Einsatz kamen ausschließlich Vinyl-Singles. Auch hier zeigte sich also die Liebe zum Detail und zur Handarbeit. Einige tanzten.

Der diesjährige Zuspruch war beeindruckend, 19 Teilnehmer hatten sich gemeldet und die vorgeschriebenen zehn Liter ihres Apfelweins mitgebracht. Diese Proben landen in nummerierten Bembeln, die in Reih und Glied an der Probiertheke aufgereiht stehen. Vor den Bembeln platziert ist jeweils eine Dose mit der entsprechenden Nummer. Dort werden, nachdem alles gekostet ist, die Unterlegscheiben, die zum Eintritt (€ 4,- plus ein Euro Pfand fürs Glas) in einem kleinen Tütchen überreicht werden, entsprechend der Wertung eingeworfen. Außerdem erhält jeder eine Liste und einen Kugelschreiber, um die einzelnen Proben zu bewerten. Bei 19 unterschiedlichen Schoppen kann schnell der Überblick verloren gehen.

Das Gedränge an der Theke war groß, gelegentlich kamen Ellenbogen zum Einsatz, um an den Probeschluck zu gelangen. Kennerhaft wurden Geruch und Farbe begutachtet, nicht zuletzt natürlich der Geschmack. Es war ein harter Parcours, der das Publikum vor große Herausforderungen stellte. Einige der Tropfen kratzten an der Schmerzgrenze und sorgten für verzogene Mundwinkel und verdrehte Augen. Die bereitgestellten Eimer füllten sich zusehends. Zur Neutralisierung der Geschmacksnerven standen Brotwürfel bereit.

Probiertheke

Weil es sich mit leerem Magen schlecht testen lässt, sorgte ein Grill für die standesgemäße Versorgung mit Brat- und Rindswürsten, an der Kuchentheke gab`s Selbstgebackenes und natürlich durfte auch der Handkäs nicht fehlen. Wer von den Proben noch nicht genug hatte, griff zum unvermeidlichen Mispelchen. Bekannte wurden begrüßt, die jeweiligen Favoriten empfohlen und vor anderen gewarnt. Einmal die Frage, woher kenne ich dich? Es war schnell aufgeklärt, aus der Kneipe beim Apfelwein. Wo sonst? Ein buntes Völkchen hatte sich dort am Rande des Sportplatzes zusammengefunden. Junge, Alte, Tätowierte, Nichttätowierte, Rentner und Rock `n Roller. T-Shirts zeugten von der Liebe zur Eintracht, zu Metalbands, zur Stadt oder auch zum Apfelwein. Eine Besucherin trug ein Kleid mit Apfelmuster. Auf dem Sportplatz kickte ein Vater mit seinem Sohn. Es herrschte ausgelassene, sommerfrische Stimmung und im Mittelpunkt stand der Apfelwein.

Die Dosen werden unter der Aufsicht des Moderators vom letztjährigen Seckbacher Apfelweinkönig gewogen

Irgendwann hatte man sich durchgekämpft, alle 19 Proben verkostet und entsprechende Notizen gemacht. Die fünf bis sechs Schoppen, die in der engeren Wahl standen, sollten nochmals begutachtet werden, aber, siehe da, fast alle Bembel standen auf dem Kopf. Ausgetrunken. Mehr als die zehn Liter gab`s nicht. Die wenigen Proben, die jetzt noch übrig waren, wollte man dann vorsichtshalber nicht mehr testen. Also wurden die Unterlegscheiben gemäß den Notizen, sofern diese lesbar waren, in unterschiedlicher Gewichtung in den Dosen versenkt. Ein vierköpfiger Seckbacher Männerchor sang Apfelweinlieder und stimmte das Volk aufs große Finale ein. Dann wurde gewogen. Je schwerer die Dose, desto höher die Platzierung. Als die Sieger ermittelt waren, wurden sie vom letzten Seckbacher Apfelweinkönig gekrönt und erhielten einen hölzernen Teller mit entsprechender Widmung für die heimische Vitrine. Zum Schluss sangen alle das Lied der Frau Rauscher aus der Klappergass und vom Blauen Bock beim Äppelwein. Wie schon berichtet, belegte die Seckbacher Pressung den letzten Platz. Es bleibt zu hoffen, dass sie das nicht entmutigt im nächsten Jahr zum 5. Seckbacher Eppelweinkontest laden.

Die glücklichen Sieger

Was fehlte – Ein Rückblick auf das Jahr 2018

Rheingau

Das vergangene Jahr war nicht sonderlich ereignisreich, zeichnete sich vor allem durch Lücken aus. Die größte Lücke hinterließen meine Eltern, die 2017 binnen Monatsfrist gestorben sind. Gelegentlich ertappte ich mich sonntags, unserem Telefontag, bei dem Gedanken, sie jetzt mal anrufen zu müssen. Das Erscheinen meines Buches „Vom Warten – Über Zeitlöcher und Warteschlangen“ haben sie nicht mehr erlebt. Ich habe schon vielfach darüber gesprochen und geschrieben. Nicht darüber geschrieben haben jedoch andere. Keine einzige Rezension ist erschienen, trotz der wunderbaren und durchaus auch namhaften Autorinnen und Autoren, die mit tollen Texten in diesem Band versammelt sind. Da half auch kein Interview bei HR2 oder ein Kurzauftritt in der ARD Vormittagsshow „Live nach Neun“. Einzig das literarische Online-Magazin Glanz & Elend erwähnte das Buch. Sonst blieb aus, was ich mir erwartet hatte. Das fehlte und, ich gebe es gerne zu, schmerzte und enttäuschte auch. Dazu gehörte auch das Ausbleiben der Antwort einer Berliner Buchhändlerin, die mir eine Lesung aus dem Warten-Buch zugesagt hatte, sich dann aber nicht mehr meldete. Dasselbe gilt für eine Kölner Buchhändlerin.

Überhaupt fehlten viele Antworten. Mails scheinen das Medium zu sein, dass am ehesten ignoriert wird, und zwar mit großem Selbstverständnis und ohne jedes schlechte Gewissen. Wieso richten sich Menschen und Unternehmen Mailaccounts ein, wenn sie diese als Mülleimer verstehen? Vielleicht sollten wir wieder Postkarten schreiben, wie das eine gute Freundin mit großer Leidenschaft regelmäßig tut. Der Kreis der Empfänger ist groß und alle schreiben zurück.

So hat etwa die Inhaberin einer kleinen Brauerei, die wir im Rahmen der „Tour de Bier“ besuchten, auf den Hinweis unserer geschriebenen Mail frei heraus geantwortet, diese habe sie ignoriert. Das würde sie bei Mails immer so machen. Aber man habe halt so eine Mailadresse, weil man sie ja doch irgendwie bräuchte. Für was, habe ich mich gefragt. Auch andere Brauereien fanden keine fünf Minuten Zeit, um unseren Fragebogen auszufüllen. Sie scheinen keinen Wert darauf zu legen von uns kostenlos beworben zu werden. Es fehlten also auch größere Fortschritte bei der Tour de Bier.

Der Goetheturm, 2017 abgefackelt.

Auch die Stadt Frankfurt wurde ärmer. So fehlt der Goetheturm, 2017 abgefackelt von einem oder mehreren Brandstiftern, die einige berühmte und beliebte Holzgebäude in Frankfurt plattmachten. Was für kranke Gehirne sind da unterwegs? Der Goetheturm war sicherlich das symbolträchtigste Gebäude, das in den letzten Jahren Opfer wurde von Verbrechern. Für mich, und für viele Frankfurter, ein Ort an dem Kindheiterinnerungen hängen. Die Spaziergänge im Stadtwald, der Spielplatz nebenan, und die Goetheruh, der Ort für Apfelstrudel und Kakao zum Abschluss des Sonntagsausflugs. Und immer das Gefühl, nach hause zu kommen, wenn bei der Anfahrt auf Frankfurt der Turm auftauchte und sich stolz über die Wipfel des Stadtwaldes erhob. Für mich war er der wichtigste aller Frankfurter Türme, das wahre Wahrzeichen der Stadt. Noch heute habe ich den charakteristischen Geruch nach Harz und Holz in der Nase, den der Turm verströmte. Er bleibt das Einzige, was von dem Symbol im Wald in mir weiterlebt, denn auch der geplante Neubau kann nicht mehr werden, als ein Erinnerungsort an den, für immer verlorenen, Goetheturm. Nur eine neue Generation kann den neuen Turm zu einer eigenen Erinnerung machen.

Des weiteren fehlte im letzten Jahr ein Besuch in der Apfelweingaststätte „Zu den drei Steubern“ in Sachsenhausen. Die Zukunft dieses wohl traditionellsten aller Apfelweinlokale ist unsicher. Der Wirt geht schnellen Schritts auf die Neunzig zu. Bis heute steht er an jedem der Öffnungstage in seinem Lokal hinter dem Tresen, schenkt Apfelwein aus, den er schon seit einigen Jahren nicht mehr selbst keltert, oder serviert den Handkäs, der eingelegt in einer Schublade am Tresen reift. Wie lange kann er das noch machen? Und was passiert, wenn er es nicht mehr machen kann?

Es gab durchaus einige Radtouren mit der wunderbaren M. im letzten Jahr, aber es hätten noch mehr sein können. Dasselbe gilt für Wanderungen im schönen Rheingau. Es hätten immer mehr sein können. Und Urlaub fehlte, wie in den Jahren davor auch schon. Mehr als zwei lange Wochenenden in Berlin und einem kleinen Ausflug nach Stuttgart war nicht drin. Sehr schade, dass ich einen lange geplanten Trip nach Paris absagen musste. Daher sind diese kleinen Tagesfluchten mit dem Rad oder zu Fuß so wichtig.

Auch Konzerte kamen mal wieder viel zu kurz im letzten Jahr. Es gab immer irgendeinen Grund, weshalb ich verhindert war. Immerhin habe ich My Brightest Diamond im Berliner Frannz Club gehört und gesehen. Und das war vielleicht das Wichtigste.

Möge 2019 weniger lückenhaft werden.

Zu Fuß gehen

davMein Verkehrsmittel ist das Fahrrad. In der Stadt ist es allen anderen Fahrzeugen überlegen. Es ist schnell, leise, preiswert und hält fit. Einen Stellplatz wird man in der Regel finden, auch wenn man gelegentlich etwas suchen muss. Kurz: Radfahren ist sozial und ökologisch verträglicher Individualverkehr in Reinkultur, ganz im Gegensatz zum Autofahren. Um so unbegreiflicher ist es, dass Städte immer noch viel zu wenig unternehmen, um das Radfahren in der Stadt attraktiver und sicherer zu machen. Aber immerhin sind einige zaghafte Versuche in diese Richtung zu bemerken, wenn sie auch bei Weitem nicht ausreichen. Diese unbefriedigende Situation sorgt dafür, dass Fahrradfahren in der Stadt eines nicht ist: entspannend. Im Gegenteil, Radfahrer sind in jeder Situation gefordert, den Überblick zu behalten. Kleine Unachtsamkeiten können schwerwiegende Folgen haben, bis hin zum Tod. Durch die Natur zu radeln ist hingegen ein Vergnügen sondergleichen.

Von meiner Wohnung bis zur Nationalbibliothek, die ich regelmäßig aufsuche, brauche ich mit dem Rad ungefähr 13 Minuten. Das ist keine Entfernung, und doch bereitet mir diese kurze Strecke kein Vergnügen. Es geht, zumindest auf dem Hinweg, permanent leicht aber spürbar bergauf. Ich muss mich also ein wenig anstrengen. Und ich bin gefordert, auf den Verkehr zu achten. Wenn ich dann, nach zugegeben kurzer Fahrt, mein Ziel erreiche, bin ich, vor allem im Sommer, verschwitzt und nicht entspannt. An einigen dieser Bibliothekstage arbeite ich abends in einer Kneipe bei mir um die Ecke. Die erreiche ich von der Bibliothek aus mit dem Rad in zehn Minuten. Das ist mir eindeutig zu schnell, um zwischen diesen unterschiedlichen Welten zu pendeln. Da brauche ich einen Puffer. Gelegentlich bin ich so früh losgefahren, dass ich vor meiner Schicht noch ein paar Minuten durch die Gegend schlendern konnte. Das schuf dann wenigstens ein bißchen Distanz.

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Herbstlicher Günthersburgpark

Ich bin schon immer viel zu Fuß gegangen. Der donnerstägliche Gang zum Markt auf der Konstablerwache und auch wieder zurück, ist mir zu einem liebenswerten Ritual geworden, auf das ich nicht verzichten möchte. Samstags wiederhole ich das meistens auch. Fremde Städte erkunde ich bevorzugt per Pedes, ich habe kein Problem damit, stundenlang durch die Straßen zu ziehen und soviel Eindrücke wie möglich zu sammeln. Seit ich das Zufußgehen jedoch in meinen Alltag integriert habe, erreiche ich meinem Arbeitsplatz wesentlich entspannter. Auf dem Weg gehen mir irgendwelche Gedanken durch den Kopf und ich sehe Details, die mir auf dem Rad entgehen würden. Ich muss nicht ständig auf Autos achten oder Fußgänger, die gedankenlos Radwege kreuzen.

Statt dessen kann ich mich an herbstlich bunten Bäumen im Günthersburgpark erfreuen und den freundlichen Hund in der Nordendstraße begrüßen. Dort komme ich dann auch an dem legendären Lokal Größenwahn vorbei, dass seit beinahe vierzig Jahren die Frankfurter Gastronomie bereichert.dig

Nach stundenlangem Sitzen in der trockenen Luft der Bibliothek ist der Heimweg zu Fuß eine reine Wohltat. Zumal ich zwischen verschiedenen Wegen wählen kann. Ich gehe niemals den selben Weg zurück, den ich auch auf dem Hinweg genutzt habe.

Es bedurfte der Lektüre des empfehlenswerten kleinen Buches von Erling Kagge Gehen. Weiter gehen. Eine Anleitung, das 2018 im Insel Verlag erschienen ist. Der Autor berichtet u.a., wie er jeden Tag in Oslo zu Fuß zur Arbeit in seinen Verlag geht und was dieser morgendliche Gang für ihn bedeutet. Das hat mich überzeugt, es ihm gleich zu tun. Keine Ahnung, weshalb ich nicht von selbst auf diese Idee gekommen bin.

Aber jetzt ist es so und es ist gut so.

Frankfurts Neustadt

Seit dem 9. Mai 2018 ist die sog. „Neue Altstadt“ in Frankfurt für alle zugänglich. Die Bauzäune, die das Gebiet zwischen Dom und Römer jahrelang abschotteten, fielen und gaben das Areal frei. Einen Tag vor jenem 9. Mai wurde des Tages gedacht, an dem im Jahre 1945 das verbrecherische Regime seinen letzten Atemzug aushauchte, das ursächlich verantwortlich war für die Zerstörung der Frankfurter Altstadt im August 1944.

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Krönungsweg mit Dom

Jetzt steht es also an alter Stelle, jenes Ensemble, das der Stadt jährlich hunderttausende Touristen aus nah und fern bescheren wird. Ob aus dem Viertel auch ein integrierter Teil der Stadt werden wird, den die Bewohnerinnen und Bewohner annehmen, darf bezweifelt werden. Dabei hat OB Feldmann nichts anderes versprochen, als dass die bislang offenbar seelenlose Stadt Frankfurt mit dem neuen Viertel eben diese Seele zurückerhält. Ich habe daraufhin eine völlig unrepräsentative Umfrage bei Twitter durchgeführt, die ergab, dass Frankfurts Seele flüssig ist und nicht steinern. Würde man chinesischen Touristen dieselbe Frage stellen, käme sehr wahrscheinlich ein gegenteiliges Ergebnis zustande. Umfrage

Natürlich habe auch ich gestaunt, als ich das Areal durchaus neugierig betrat und durch die engen Gassen schlenderte. Es ist schon beeindruckend, mit welchem handwerklichen Geschick die Gebäude rekonstruiert wurden. Das bemerkte sogar ein Ahnungsloser wie ich, der zufrieden ist, wen er einen Nagel halbwegs gerade und ohne Verletzung in die Wand gehämmert hat.

sdr

Durchblick

Aber auch Neubauten fallen auf. Einige stehen in wohltuendem Kontrast zu den Rekonstruktionen und lassen erahnen, was alles möglich gewesen wäre, hätte man dort moderner Architektur eine Chance gegeben.

sdr

Sehr gelungener Neubau gegenüber der Schirn.

Dann wäre eventuell auch der Eindruck der Kulissenhaftigkeit, der sich bei mir umgehend einstellte, vermeidbar gewesen. Verstärkt wurde dieser natürlich auch dadurch, dass in das Viertel noch kein Laden und keine Gastronomie eingezogen war. Von Bewohnern ganz zu schweigen. Vielleicht ändert sich meine Einschätzung, wenn dort etwas Leben herrscht. Ich will mich gerne überraschen lassen, bin aber skeptisch.

sdr

Moderne Kamine auf rekonstruiertem Dach

Zu verdanken haben wir diese Kulisse dem Stadtverordneten der rechtspopulistischen BFF (Bürger für Frankfurt), Wolfgang Hübner, der am 20. August 2005 mit der Idee, an diesem historischen Ort die Altstadt wiedererstehen zu lassen, in die jahrelange Diskussion einstieg. Mit Erfolg, denn wenig später nahm die schwarz-grüne Römerkoalition, unterstützt vom Verein der Altstadtfreunde, den Vorschlag gerne auf. Das war der Todesstoß für den Entwurf des Siegers im städtebaulichen Wettbewerbs von 2005. Der verantwortliche Frankfurter Architekt Jürgen Engel, der dort eine moderne Bebauung vorsah, gab auf.

Anmerkung: Lesenswert sind die Beiträge von Claus-Jürgen Göpfert zur „Neuen Altstadt“ in der Frankfurter Rundschau.

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Durchgang zur Schirn

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Neue Perspektiven am sog. „Krönungsweg“ zwischen Römer und Dom

sdr

Auch die U-Bahn wurde integriert

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Einen Stolperstein gibt es auch schon

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Kontrast zwischen Neu und Neu

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Friedrich Stoltze hat am Hühnermarkt seinen Platz gefunden

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An der Schirn wird`s eng

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Goldene Waage

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Unweit ragen die Kräne in den Himmel