Die Schrankwand am Straßenrand

Auf den ersten Blick haben Schrankwände und Autos nicht viel gemein. Doch wie so oft trügt auch hier dieser Eindruck. Schauen wir daher genauer hin.

Der elementarste Unterschied zwischen einer Schrankwand und einem Auto besteht in einer Stunde. Das ist die Stunde, in der das Auto täglich durchschnittlich bewegt wird, eine Fähigkeit, die der Schrankwand nicht gegeben ist. In den restlichen 23 Stunden des Tages verharrt das Auto jedoch ebenso regungslos wie die Schrankwand am Straßenrand.

Oftmals sind Besitzer von Autos und Schrankwänden ein und dieselbe Person. Und doch führten völlig unterschiedliche Überlegungen zu den jeweiligen Kaufentscheidungen. Wer sich entschlossen hat, eine Schrankwand anzuschaffen, wird die Wand vermessen und kein Möbel bestellen, das fünf Meter lang ist, wenn sie nur vier Meter misst. Sorgsam kartographiert wird der Raum, auf dass das Möbel seine Funktionen entfalten kann, ohne andere zu beeinträchtigen, beispielsweise die von Türen und Fenstern.

Wer sich hingegen ein Auto anschafft, wird vorher keinerlei Überlegungen anstellen, wo denn das Fahrzeug die 23 Stunden des Tages verbringen könnte, in denen es, schrankwandgleich, tatenlos rumsteht, es sei denn eine Garage ist verfügbar. Ganz im Gegenteil, je enger es in der Stadt wird, desto größer muss das Auto sein. Da wird dann gerne das fünf Meter lange Fahrzeug dem nur vier Meter messenden Modell vorgezogen, schließlich will der Platz auf den immer voller werdenden Straßen behauptet sein. Für einen Stellplatz wird die Gemeinschaft schon sorgen. Darauf hat man ein natur-gegebenes Anrecht, niemand muss sich hierüber Gedanken machen.

Sollte doch mal irgendwer, in einem unachtsamen Moment, eine fünf Meter lange Schrankwand bestellen, und dann feststellen dass die Wand nur vier Meter misst, zu wenig um dem Möbel Raum zu gewähren, wird er sich denken, na gut, stellen wir das Ding in den Hausflur, da ist noch Platz. Blöd, dass dann niemand mehr daran vorbeikommt, aber das ist halt leider so. Zur Abhilfe könnten vier blinkende rote Lichter angebracht werden, die signalisierten, dass das Problem bekannt sei, sich aber leider nicht ändern ließe. Und spätestens beim nächsten Umzug sei das Thema ja auch wieder erledigt. Es ist anzunehmen, dass die Schrankwand im Flur keine halbe Stunde überleben würde. Erboste Nachbarn klingelten Sturm, verlangend, das Ungetüm unverzüglich zu entfernen, riefen den Hausmeister und der dann gegebenenfalls die Polizei. Die Hausordnung wäre verletzt und der Hausfrieden massiv gestört.

Wenn die Schrankwand jedoch ordnungsgemäß in den eigenen vier Wänden untergebracht ist, mit der verspiegelten Hausbar, den zwei sorgsam ausgeleuchteten Büchern, dem integrierten Flachbildmonstrum, sowie den polierten Gläsern aus Omas Bestand, hat sie einen unbestreitbaren Vorteil gegenüber dem Auto. Sie entzieht ihre aufdringliche Hässlichkeit dem öffentlichen Blick. Einzig die Bewohner, sowie deren gelegentliche Besucher dürfen sich an der imposanten Präsenz des Möbels erfreuen.

Das Auto ist in dieser Hinsicht schamloser. Es stellt seine monströse Klobigkeit gänzlich ungeniert in der Öffentlichkeit zur Schau und verhält sich dann manchmal wie die Schrankwand im Hausflur. Dafür können sich Passanten gelegentlich erfreuen an Regenschirmen, Hüten, gehäkelten Klorollenmützen und Wackeldackeln, die die Ablage des Autos zieren, eine Fläche, die nicht umsonst als Hutablage bezeichnet wird. Hierin ähnelt das Auto wieder verblüffend der Schrankwand, die ja auch allerlei Nippes und Tand beherbergt. Wir sehen also, es gibt mehr Gemeinsamkeiten zwischen Autos und Schrankwänden als vermutet.

Einen unbestreitbaren Vorteil haben Autos allerdings; sie lassen sich mieten.

„Schätzchen, am Samstag kommen doch die Schulzes zum Essen. Die waren ja noch nie bei uns. Ruf doch mal rasch bei Rent-A-Schrankwand an, ob die morgen schnell was aufbauen können, vielleicht auch mit Büchern drin. Damit es hier nicht so kahl aussieht.“ Das wird nicht funktionieren.

Ebenso wenig funktioniert auch die Gemeinschaft, die sich immer öfter außerstande sieht, den nötigen Parkraum für die Straßenschrankwände in ausreichender Anzahl zur Verfügung zu stellen. Da sehen sich manche veranlasst, das Auto an Orten abzustellen, die dafür nicht vorgesehen sind, Fußgängerzonen beispielsweise oder Radwege. Sind eh verschenkter Platz, wenn da niemand parken darf. Und so trifft man dort seinen Nachbarn, der ebenfalls an diesem Ort sein Fahrzeug abstellt. Schnell ist man sich einig, dass es viel zu wenig Parkplätze gäbe, wo man denn sonst sein Gefährt in den 23 Stunden lassen soll, in denen man es nicht braucht. Im Rathaus säßen ja nur Schwachköpfe, die das Bedürfnis der Bevölkerung nach Parkplätzen einfach nicht erkennen würden. Es ist derselbe Nachbar, der sich vorhin noch lautstark über die Schrankwand im Hausflur beschwert hat. Die Hausordnung hat halt einen höheren Stellenwert als die Straßenverkehrsordnung.

Wenn Sie derzeit also mit der Frage beschäftigt sind, sich ein Auto oder eine Schrankwand anzuschaffen, nehmen Sie die Schrankwand und mieten Sie das Auto, wenn Sie eins brauchen. Damit ist allen am besten gedient.

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