Spaziergangstagebuch 6

21.01.22

Von Ost nach West.

Schon seit einiger Zeit habe ich vor, das abseits aller meiner Wege gelegene, sogenannte „Europaviertel“ im Frankfurter Westen zu erkunden. Der konkrete Anlass war ein neues Hochhaus an der Messe, das fast fertig ist. Mehr dazu später. Gutes Spaziergangswetter an diesem Freitag. Sonne-Wolken-Gemisch, kühl und trocken. Die Platanen warfen lange Schatten auf die erfreulich breiten Gehwege an der Wittelsbacher Allee. Selbst die Autohölle zeigte sich freundlich. Bei Camino stärkte ich mich mit einem Cappucchino. Dann zunächst durch die mir sehr vertraute Gegend, vorbei an einem kämpferischen und auch amüsanten Graffitti, Richtung Nordend spaziert. Der Aufforderung von Peng kann ich leider nicht nachkommen. Wie so oft gibt es auch hier in manchen Höfen Kleinode zu entdecken.

Die Balkonbrüstungen am Grünen Haus an der vierspurigen Nibelungenallee erinnern mich an Frontscheiben von DDR-Bussen. Keine Ahnung weshalb. An der dort gelegenen Fußgängerampel wartete ich neben einer jungen Frau bei Rot. Es war nicht nötig, kein Auto in Sicht. Ich hatte es nicht eilig. Ein Passant kümmerte sich nicht um die Ampel und querte von der anderen Seite. Auf unserer Höhe raunte er „Lasst euch nicht impfen, geht bei Rot!“. Er muss sich sehr rebellisch gefühlt haben. In der Egenolfstraße warten eine ausgesetzte kleine Vase und ein Kerzenständer auf neue Besitzer. Ich hatte kein Interesse, aber durchaus gelegentlich von derartig freigelassenen Dingen am Wegesrand profitiert. Erst unlängst kam so ein kleiner Klapphocker in meinen Besitz, der jetzt im Bad eine sinnvolle Verwendung gefunden hat.

Ich werde etwas wehmütig, bin ich doch durch Nordendstraßen unterwegs, die ich gerne auf meinen Gängen zur Nationalbibliothek genutzt habe. Nichts vermisse ich mehr, als die spontanen, jederzeit möglichen Besuche in der Bibliothek, und die Spaziergänge dorthin. Das war vor Corona. Heutzutage muss man sich ein Woche vorher anmelden und dann auch noch ein Zeitfenster wählen. Das passt überhaupt nicht in mein Leben. Ein verlassener Balkon im Erdgeschoss, bunte Abdrücke von Kinderhänden neben toten Fenstern erinnern an Leben.

Bereits im Westend. Bin jetzt auf Straßen unterwegs, auf denen ich damals zum Suhrkamp Verlag geradelt bin. Die Wehmut steigt. Damit hatte ich nicht gerechnet. So vieles ist mir vertraut. An der Straße Im Trutz weisen zwei merkwürdig geformte Sitzmöbel auf im Gebäude dahinter arbeitende „Design Offices“. Ein Stück am Grüneburgweg, kurzer Stopp für einen Blick in das Schaufenster der guten Buchhandlung Marx & Co. Die Straße soll im Laufe des Jahres zu einer fahrradfreundlichen Nebenstraße umgestaltet werden, wie auch einige andere. Im Hintergrund das ehemalige IG Farbenhaus. In Frankfurt noch immer der meist genannte Namen für das Gebäude. Nicht etwa Goethe Universität, die dort seit einigen Jahren untergebracht ist. Erbaut wurde dieses mächtige Gebäude von Hans Poelzig in den Jahren 1928 – 31. Sicherlich ein Vorbild für die Nazis und ihre Vorstellung von Architektur, der Flughafen Tempelhof ist dafür ein gutes Beispiel. Ich mag es, aber ich mag auch den Flughafen Tempelhof.

In der großbürgerlichen Friedrichstraße empört ein offensichtlich schon länger dort stehendes Auto andere Autofahrer. Er blockiert wohl zwei Parkplätze. Das ist es, was Autos gemeinhin so tun, Plätze blockieren. Am Palmengarten vorbei, war lange nicht da. In der Siesmeyerstraße linkerhand die Villa Bonn. Ende des 19. Jahrhunderts für den Bankier Wilhelm Bernhard Bonn gebaut. In meinen Anfangszeiten bei Suhrkamp Anfang der zweitausender Jahre fanden dort Empfänge und Buchhändlerabende statt. Das hörte zum Glück bald auf, ich habe das Gebäude gehasst. Erdrückend, bombastisch, es fehlten noch einige Hirschgeweihe an der Wand oder gar exotischere Trophäen. Schließlich die Mendelssohnstraße, ich nähere mich der Messe, Hochhäuser weisen den Weg. Gegenüber der Festhalle fristet ein stattliches aber totes Gebäude ein tristes Dasein. Das Dach war saniert, sonst nichts. Keine Anzeichen davon, es wieder zum Leben zu erwecken, nirgends. Der Hammering Man tut zuverlässig, was er tun muss. In der Festhalle holte ich im April 2021 meine erste Impfung ab, Astra.

Dann das neue Hochhaus. Es gefällt mir. Die Fassade interessant gerastert, und natürlich der kesse Überhang oben. Kleinigkeiten, die so viel bewirken. Es hat alle Chancen mein Liebling in der Skyline zu werden. Das Europaviertel ist nahe. Vorher Skyline Plaza angesteuert, erstmals. Im Hintergrund lauert Halle 3 der Messe, in der sich im letzten Jahr das Messegeschehen hauptsächlich abgespielt hat. Im Einkaufszentrum Cappucchino und Muffin zur Stärkung. Hat geschmeckt, die Bedienung war freundlich. Viel los war dort ansonsten nicht. Dann der Schock. Ich wusste ja, was mich erwartet, aber mitten drin zu sein ist schon was anderes. Die Europallee, im Volksmund längst „Stalinallee“ genannt. Sehr treffend. Der Begriff stammt wahrscheinlich von Dieter Bartetzko, dem leider viel zu früh verstorbenen Architekturtheoretiker, Kritiker und Autor der FAZ. In seinem Buch „Architekturstadt Frankfurt“ von 2014 hat er ihn für diese „Allee“ verwendet, zurecht. Ich denke nur, wie kann man so etwas bauen? Eine 60 Meter breite Straße, gesäumt von gleichförmigen und leblosen Kästen, leblos wie das ganze Viertel. Wenn die U-Bahn fertig ist, wird es wahrscheinlich mehr Grün geben, viel wird das nicht ausrichten. Ein Boulevard wird das nicht werden. Im Hintergrund überragt Halle 3 wie ein gigantisches Raumschiff oder ein Kreuzfahrtriese das Grauen.

Dann ein erlösender Blick nach links. Dort ist Leben, im Europaviertel nicht. Das Gallus, direkt nebenan. Vergleichbar mit Neukölln in früheren Jahren, jetzt die Verlockung. Das Kölner Eck ein Hoffnungspunkt. Ich gehe weiter. Hinter der Eisenbahnbrücke drehe ich um und fliehe. Ins Gallus. Gegensätze wie zwischen Ost und West. Mein Sympathien sind klar verteilt. Ich fühle mich regelrecht befreit, atme freier. Ein wenig Eisenbahnromatik tröstet das Auge. In einem unscheinbaren, nicht sehr gepflegten Gebäude, direkt an der „Mauer“ wie damals in Berlin gesagt wurde, verbirgt sich ein unvermuteter Galvanikbetrieb. Vor dem Kölner Eck freut sich ein einsamer Zecher an seinem Bier. Wieder unter Menschen.

In der Frankenallee ein gelber Gitterkäfig, ein Bolzplatz. Vor vielen Jahren habe ich dort auch mal gekickt, für etwa zwei Minuten. Länger hat mich die Trainerin nicht eingewechselt. Es ging gegen eine Kneipenmannschaft. Aber Fußball war da eher nebensächlich. Hauptsächlich wurde Bier getrunken und gelacht. Das nahe gelegene Wasserhäuschen freute sich über den Umsatz. Organisiert hatten das Ganze Jürgen Roth, der in der Nähe wohnt, und der Wirt einer griechischen Kneipe. Es war ein schöner und sehr lustiger Nachmittag. Roth hat über dieses „Spiel“ einen Artikel auf der Wahrheitsseite der TAZ untergebracht.

Ich bin auf dem Rückweg durch das Westend und mache einen Abstecher in die Lindenstraße. Die gigantische Gründerzeitvilla beherbergte in der Nazizeit Frankfurts Gestapozentrale. Eine Gedenktafel erinnert daran. Heute dient die Villa einer Bank als Geschäftssitz. Direkt daneben stand einst das Suhrkamphaus. Ein, wie ich fand, ganz schöner sechziger Jahre-Bau. Durchaus sanierungsbedürftig, aber gelungen. Ich habe in dem Gebäude einige gute Jahre verbracht. Ein Investor hat sich für Abriss und Neubau entschieden. Seit dem steht dort ein Gebäude mit Tiefgarage und teuren Eigentumswohnungen. Den Abriss des Suhrkamp-Gebäudes habe ich damals einen Monat lang zweimal täglich dokumentiert Einen Schwung Wehmut nehme ich noch mit, dann geht’s weiter durch den Kettenhofweg. Adorno wohnte hier einst. Soll auch in diesem Jahr in eine fahrradfreundlich Fahrradstraße umgestaltet werden.

Auf dem Opernplatz, dem Ort, an dem Frankfurt versucht, wie Paris auszusehen, erfreut ein Seifenblasenjongleur einige Kinder. Es ist Freitag, auf der Schillerstraße ist Wochenmarkt. Ich gönne mir ein Kochschinkenbrötchen von Schinken Becker und trinke bei Schoppe Otto heißen Apfelwein dazu. Es war besser als das Photo. Füllhalter Haizmann leider auch Vergangenheit, leere Fenster und auch kein überdimensionierter Montblanc Füller mehr, der zu Werbezwecken die Fassade zierte. Ich bin froh, ihn noch photographiert zu haben. Bald bin ich wieder in Bornheim.

BookUp in der Frankfurter Verlagsanstalt

Es war die erste #BookUp-Veranstaltung, an der ich teilnahm. Geladen hatte die Frankfurter Verlagsanstalt im feinen Frankfurter Westend. Zehn Jahre lang bin ich ins Westend gefahren, in die Lindenstraße zum Suhrkamp Verlag. Das ehemalige Verlagsgebäude ist längst abgerissen und einem mondänen Apartementhaus gewichen, was heute halt so gebaut wird in Frankfurt.

Normalerweise brauche ich mit dem Rad ca. 20 Minuten von Bornheim ins Westend. An diesem Dienstag wurde es mir allerdings schwer gemacht. Ein gigantischer Firmenlauf, organisiert von einer Großbank, blockierte die Stadt. Vor einigen Jahren bin ich dort mit dem S.Fischer Verlag mal mitgelaufen. Fazit: Nie wieder. Ich bin rechtzeitig losgefahren und bis zum Opernplatz kam ich auch gut durch. Dort wurde es dann eng und die Straßen waren abgesperrt. Über Schleichwege konnte ich dem Getümmel entkommen und rechtzeitig in der Arndtstraße ankommen.

Zu Gast bei der Frankfurter Verlagsanstalt

Zu Gast bei der Frankfurter Verlagsanstalt

Es war kurz vor halbsieben und die anderen zirka zwanzig Teilnehmerinnen und Teilnehmer (einige kamen von weither angereist) strömten ebenfalls pünktlich in die großzügige Altbauwohnung in der Arndtstraße, die dem Verlag als Domizil dient. Hier läßt es sich sicher gut arbeiten, war mein erster Gedanke, und Joachim Unseld und seine drei Mitarbeiterinnen machten den Eindruck, dass sie genau das auch täten. Etwa fünfzehn Titel stemmt das Team jährlich, das aktuelle Programm war im Flurbereich präsentiert. Bücher von Julia Wolf, Peter Zingler, Bodo Kirchhoff oder Nino Haratischwilli etwa. Letztere bescherte dem Verlag mit ihrem 1280 Seiten starken Roman Das achte Leben (Für Brilka) einen beachtlichen Erfolg, auch ohne für eine der Listen zum Deutschen Buchpreis nominiert gewesen zu sein. Das Lektorat für diesen Titel brauchte sechs Monate, in deren Verlauf 300 Seiten des ursprünglichen Manuskriptes gestrichen wurden.

Wir wurden sehr freundlich empfangen mit Weisswein und Wasser. Als alle da waren und Platz genommen hatten, begrüßte uns Franziska Hedrich, bei der FVA zuständig u. a. für Presse und soziale Medien. Es folgte eine kurze Vorstellungsrunde der Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Etliche davon betrieben einen eigenen Blog. Ich stellte mich als „Suhrkamp-Überbleibsel“ vor, eine Bezeichnung, die Joachim Unseld später, wohl zurecht, rügte. Aber sie gab ihm die Vorlage für den Scherz, dass die Frankfurter Verlagsanstalt schuld sei am Umzug des Suhrkamp Verlags. Als die FVA vor einigen Jahren in die Arndtstraße zog, sei das für den Suhrkamp Verlag, der in der unweit gelegenen Lindenstraße residierte, zu nah gewesen. Deshalb hätte Suhrkamp die Flucht ergriffen und sei nach Berlin gezogen. Eine Anspielung auf das zerrüttete Verhältnis zu seinem 2002 verstorben Vater und dessen Wittwe.

Dann berichtete der Verleger von der Geschichte des Verlags, von seinen Erfolgen und von dem immerwährenden Bemühen, die Bücher dem Publikum bekannt zu machen und näher zu bringen. Zu etwa 900 Buchhandlungen bestünden stabile Geschäftsbeziehungen. In diesem Zusammenhang lobte er auch ausdrücklich die literarische Bloggerszene, die schon viel für manche Titel des Verlags getan hätten. Die FVA sei deshalb auch grundsätzlich bereit, vorab für Blogger Leseproben zur Verfügung zu stellen. Damit seien gute Erfahrungen gemacht worden.

Der Verleger stellt seinen Verlag vor.

Der Verleger stellt seinen Verlag vor.

Nach dieser Einführung las die Autorin Julia Wolf aus ihrem Debütroman Alles ist jetzt. Ein Roman, der als unverlangt eingesandtes Manuskript seinen Weg in das Programm der Frankfurter Verlagsanstalt gefunden hat. Etwa 1500 dieser Manuskripte erreichen den Verlag jährlich und der Verleger nimmt für sich in Anspruch, jeden dieser Texte zu prüfen. Allerdings sei die Chance, angenommen zu werden, äußerst gering, was nicht nur an der meist fehlenden Qualität liege, sondern auch an einem mittlerweile gut entwickelten Agenturwesen in Deutschland. Romane, die in der FVA veröffentlicht werden müssen einen Realitätsbezug haben. Daher findet man im Programm keine Fantasy und auch nur sehr wenige Krimis. Mir ist das ausgesprochen sympatisch. Und es fiel der bemerkenswerte Satz: „Es läuft hervorragend.“. Das hört man gerne von einem kleinen, unabhängigen Verlag.

Der Vortrag Julia Wolfs war beeindruckend, was nicht zuletzt an der klaren Sprache der Autorin lag, die erfreulich sparsam im Umgang mit Adjektiven ist. Die Reaktionen des Feuilletons auf den Roman belegen, dass es eine richtige Entscheidung war, dieses Buch, und sicher auch weitere der Autorin, zu verlegen. Sie wird dort, wie alle Autorinnen und Autoren der FVA, in den Genuss einer Rundumbetreuung kommen. Vom selbstverständlichen Lektorat, über die Organisation von Lesereisen bis hin zu Sekretariatsarbeiten, alles wird vom Verlag für die Autorinnen und Autoren getan. Natürlich wurde während der Veranstaltung fleissig getwittert und so dieser Abend in die Welt getragen. Leider war die Verbindung (es gab kein WLAN) nicht geeignet, auch Bilder zu twittern.

Julia Wolf liest.

Julia Wolf liest.

Nach dem offiziellen Teil, gab es Schnittchen (köstlich der vegane Brotauftrich), und Gespräche im kleinen Kreis. Ich fragte Unseld, der zuvor angemerkt hat, noch nie ein E-Book gelesen zu haben, ob der Verlag denn E-Books produziere. Selbstverständlich, lautete die nicht überraschende Antwort. Obwohl die E-Books recht hochpreisig seien (in der Regel 20% unter dem Preis der gedruckten Ausgabe), läge der Anteil der elektronischen Bücher bei erstaunlichen acht Prozent des Gesamtumsatzes.

Nach gut zwei Stunden schwang ich mich wieder aufs Rad und brauchte zirka eine dreiviertel Stunde, um aus der Innenstadt, die mittlerweile von zehntausenden Läufern umzingelt war, wieder rauszukommen. In der Tasche den signierten Roman von Julia Wolf (alle durften sich ein Buch der Wahl mitnehmen) und damit die Erinnerung an einen interessanten Abend. Die Frankfurter Verlagsanstalt hat seit diesem Abend mindestens zwanzig Freundinnen und Freunde mehr und mir tat es gut, mal wieder Verlagsluft zu schnuppern.