Spaziergangstagebuch 5

29.12.21

Verregnete Nachtwanderung nach Offenbach.

Lange habe ich überlegt, ob ich losgehen soll. Das Wetter zeigte sich unfreundlich, immer wieder Regen. Es sind gute sieben Kilometer nach Offenbach. Stell dich nicht so an, sagte ich mir, schließlich hast du schon mal bei strömendem Regen mit dem Rad einen Alpenpass erklommen und dich dabei sehr gut, sogar euphorisch, gefühlt. Derart motiviert zog ich die Timberlands an (ich müsste sie dringend mal einfetten). Mit Regenjacke, Schal und Mütze konnte nichts passieren, zumal der Regen auch vor Kurzem aufgehört hatte. Kaum war ich aus dem Haus, später als geplant, das Telefon verlangte nach einer Ladung, fing es an zu regnen, aber nicht sehr stark. Mütze auf und los ging`s.

Ich hatte mich seit Tagen auf diesen Spaziergang gefreut, endlich war es soweit. Und gefreut habe ich mich besonders auf das Wiedersehen mit M, die in OF wohnt und kürzlich Geburtstag hatte. Meiner ist auch noch nicht so lange her. Darauf wollten wir anstoßen und Bescherung machen. Geschenke hatte ich wasserdicht verstaut.

Auf dem Festplatz tanzte ein Kran über dem Zirkus, der dort sein mächtiges Zelt aufgeschlagen hatte. Typische Musik drang nach außen. Wann war ich zum letzten Mal im Zirkus? Ich kann mich nicht erinnern. Am Röderbergweg oberhalb des Ostparks begegnete mir das Glück des Spaziergängers, und zwar in Gestalt eines Umzugkartons voller Schallplatten. Daran komm ich nicht vorbei. Der Inhalt war nicht allzu nass geworden und der Ertrag erfreulich. Zwei Alben von Police, eines von Prince, sowie eines von Spliff.* Die Achtziger grüßten. Neben dem Karton ein alter, kleiner Fernseher, bunt bemalt. Eine Hippieglotze. Hier wurde ein Jugendzimmer entrümpelt. Was andere wegschmeißen, erfreut wiederum manches Herz. Die Nacht (genau genommen war es früher Abend) hat ihren eigenen Reiz. Straßen und Hauseingänge verwandeln sich in geheimnisvolle Orte, das Leben hat sich in die Häuser zurückgezogen. Ich denke an Harry Potter, obwohl ich das nie gelesen habe. Aber ich stelle mir vor dass es bei Potters ähnlich aussieht. Am Ostbahnhof wird der Regen stärker, ich überlege die U-Bahn zu nehmen, denke an den Alpenpass und gehe weiter.

Selbst die Skyline versteckt sich im Dunst. Gefällt mir gut. Ohnehin schätze ich Photos der Skyline am meisten, wenn diese gar nicht zu sehen ist. Auch Familie Montez, Café, Club und Kunstort, wirkt verzaubert und verlockend. Ich habe Lust einzutreten, aber M wartet. Ein anderes Mal. Auch Honsel- und Osthafenbrücke zeigen sich festlich. Über die mächtige Deutschherrnbrücke rollt ein ICE stadtauswärts ins Nirgendwo. Es ist sehr dunkel am Mainweg, der Fluss flimmert. Ich gehe ganz rechts, bin dunkel gekleidet. Das kenne ich von manch nächtlicher Fahrt mit dem Rad. Oft sind andere erst im letzten Moment zu sehen. Aber es ist nicht viel Verkehr auf dem Uferweg, die Lage ist entspannt. Alle paar Meter bleibe ich stehen, um zu photographieren.

Die Nacht lässt mich nicht los. Einige Photos werden unscharf, haben aber wegen des Lichts trotzdem ihren Reiz. Ein Hotelschiff schwebt in die Kammer der Staustufe Offenbach. Die Gerbermühle in weihnachtlichem Gewand. Kurz darauf das Tor zu Offenbach, die Kaiserleibrücke. Sie wäre die kürzeste Verbindung von mir zur Nachbarstadt (Nein, ich schreibe nicht Verbotene Stadt. Offenbach-Bashing mache ich nicht mit.), aber ich hasse diese Brücke. Eine Autobahnbrücke, die zwar beidseitig einen Weg für Leute mit Rad oder Füßen bereithält, der ist aber gräßlich, ich habe es ein paar Mal versucht. Mittlerweile nehme ich gerne den Umweg über die Osthafenbrücke in Kauf, auch wenn mich das viel Zeit kostet. Gleich hinter dieser Brücke findet sich linkerhand am Mainufer ein grauer, unförmiger Klotz. Nichts deutet darauf hin, was sich hinter diesen Mauern verbergen könnte. Es ist nichts anderen als einer der berühmtesten Technoclubs der Welt, das Robert Johnson. Ein solcher Club braucht keine Transparente oder Leuchtschriften. Ich war nie drin, aber das liegt daran, dass ich ein alter Sack bin und Techno nicht meine Musik ist. Ein paar Meter weiter am Ufer der Hafen 2, ein städtischer Kulturort, gefördert von der Stadt. Konzertsaal, Kino, Café, Kneipe, Biergarten, Open-Air-Bühne, ein Lieblingsort. Viele junge Leute, die anderswo keinen Job finden, bekommen hier eine Aufgabe. Die Lichtkunst am Kohlekran, der noch in Betrieb ist, erleuchtet das Ensemble. Nachts haben sogar die einfallslosen Eigentumskisten am neuen Offenbacher Hafen ihren Reiz. An der Treppe, im Sommer ein beliebter Treffpunkt, schreibe ich M eine Nachricht, dass ich bald da bin. Vorbildlich dann ein kurzes Stück weiter die getrennten Wege für Radler und Fußgänger, auch wenn sich nicht alle dran halten. Am Mainstrand versammelten sich etliche Graugänse und Schwäne zu einem abendlichen, lauten und vielstimmigen Konzert. Kurz darauf heißt mich Offenbach willkommen.

Auf dem Wilhelmsplatz ein Grüppchen von etwa 15 Leuten, sie stehen rum, reden miteinander, keine Transparente, keine Fahnen. Aus dem Lautsprecher schallt leise „We Shall Overcome“, Querschläger. Sie dürfen hier nirgendwo rein, überall 2G. Ich gehe zu Beau d`Eau, zeige Nach- und Ausweis, bestelle ein Bier und rufe M an. Kurz darauf kommt sie, trinkt ein kleines Pils.

Sie hat für uns das Tarantino`s ausgesucht. Einverstanden. Ein etwas edlerer Italiener, weiße Tischdecken, Stoffservietten zu Alpengipfeln getürmt. Normalerweise nicht mein Fall, aber es wurde ein schöner und kulinarisch durchaus befriedigender Abend. Er begann mit einem Martini als Aperitif, dann Vor- und Hauptspeise, Lugana dazu. Später, nachdem auch dieser Gipfel bezwungen war, einen Espresso nebst Grappa. Ein weiterer folgte beim Bezahlen. Zwischendrin Bescherung zu beiderseitigem Vergnügen und Gefallen. Alles gut. Der Abend endete in Willy`s Bar. Kurz nach Mitternacht brachte mich der 103er zuverlässig und schnell fast vor die Haustür.

Spaziergangsbeute

* Die Platten mittlerweile gehört. Sie wurden pfleglich behandelt und sind in einem erstaunlich guten Zustand.