Parallele Leben

Der folgenden Text war geplant als Gastbeitrag für das neue Kolumnenbuch meines alten Freundes Joe Bauer, Einstein am Stuttgartstrand. Er fand Joes Wohlwollen, doch Verleger Klaus Bittermann hat den Text aus nachvollziehbarem Grund gecancelt. Ich habe es ohne Gram und Groll akzeptiert. Der Text ist ja nicht verloren und kann jetzt hier gelesen werden.

Parallele Leben

Wenn der größte Teil des Weges zwischen „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne“ und „This is the End, my only Friend, the End“, also dessen, was wir Leben nennen, zurückgelegt ist, scheint es verlockend, den Blick zurück zu wenden in die Erinnerung. Da ist einfach mehr los als in der Zukunft. Ich ertappe mich gelegentlich dabei, dass ich mich in dieser verflossenen Zeit rumtreibe, was eine ziemlich frustierende Tätigkeit ist; gemachte Fehler lassen sich nicht korrigieren und empfundenes Glück nicht wiederholen. Ich tauche also immer mit leeren Händen aus dieser Rückschau auf und versuche, mich wieder in der Gegenwart und Zukunft zurecht zu finden.

Gegenwart und Zukunft sind wohl auch die Landschaften, durch die Joe Bauer am liebsten spaziert, ohne jedoch die Vergangenheit aus dem Blick zu verlieren.

Lieber zu weit gehen, als gar nicht, lautet sein Credo, das in seiner Doppeldeutigkeit viel aussagt über Bauer. Zu weit ging er schon, zumindest nach Meinung der Schulleitung des Parler Gymnasiums zu Schwäbisch Gmünd, mit der Schülerzeitung Pappa Dadda, die auf dem Schulgelände selbstverständlich nicht verkauft werden durfte. Schon wenig später tauschte er dann die harte Schulbank mit einem Praktikumsplatz in der Redaktion der lokalen Rems Zeitung. Der Weg war beschritten und den sollte Joe nie wieder verlassen.

Zu dieser Zeit saß ich noch unwillig in der Schulbank, völlig ahnungslos, was ich mit diesem Leben anfangen könnte. Dass doch noch etwas halbwegs Vernünftiges dabei rauskommen sollte, ist weitgehend dem Zufall geschuldet. Die Bauer`sche Zielstrebigkeit war mit leider nicht gegeben. Ganz anders als er hatte ich nichts geplant. So wurde aus mir ein Buchhändler in Berlin, was mir durchaus entgegen kam. Dass ich später selbst Bücher machen sollte, zunächst als Herausgeber und jetzt auch als Autor, hätte ich mir niemals vorstellen können, auch das war mehr oder weniger einem Zufall entsprungen.

Zu meinem Buch „Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten“, das ich gemeinsam mit Jürgen Roth herausgegeben habe, bat ich Joe um ein Vorwort. Er hatte noch nie ein Vorwort geschrieben, wusste aber, mit dem Thema umzugehen, wie er es über die Jahre in seiner Kolumne „Joe Bauer in der Stadt“ und jetzt vierzehntägig in der Wochenzeitung „Kontext“, mit „Auf der Straße“ überzeugend beweist. Diese Kolumnen haben bewirkt, dass ich selbst mich immer mehr dem Thema Stadt zuwandte. Aber es dauerte, bis ich ungeplant zu einem Stadtwanderer wurde. Unter diesem Titel erschien dann auch mein erstes Buch, ausschließlich mit eigenen Texten.

Wenn ich die sechzig Jahre, die Joe und ich uns schon kennen, Revue passieren lassen, dann war Joe mir und allen anderen immer mindestens ein-zwei Schritte voraus. Jetzt sieht es aus, als hätte ich ein wenig aufgeholt.

Niemals aufholen werde ich ihn allerdings in Sachen selbstlosem Engagement, das für Joe völlig selbstverständlich, ja notwendig ist.

Der 18. März 2020 war der erste Tag des Shutdowns in der Pandemie. Schon am 16. März 2020 trafen sich vier Männer um Bauer im Stuttgarter Wirtshaus Brunnenwirt und beratschlagten, was zu tun sei. In der Überzeugung, dass eine freie Kultur unabdingbar ist für eine funktionierende Demokratie, wurde die Künster*innen Soforthilfe gegründet, als Startkapital dienten 5000 Euro, „aus eigenem Anbau“ wie Bauer schreibt. Ziel war, plötzlich einkommenslose Menschen aus dem Kulturbetrieb, Künstlerinnen und Künstler, Technik- und Servicepersonal, unbürokratisch und schnell finanziell zu unterstützen. Die notwendige Infrastruktur für eine solche Initiative wurde noch am selben Tag geschaffen und nachmittags gegen 16 Uhr hatte der erste Musiker Geld erhalten. Joe und seine Mitstreiter gingen davon aus, dass die Aktion wohl einen Monat dauern würde, dass es später anderthalb Jahre wurden, hatte niemand erwartet. In dieser Zeit wurden 1,6 Mio Euro Spenden, darunter auch höhere fünfstellige Spenden von Unternehmen und anderen, eingesammelt und verteilt. Diese Initiative sah sich als „Kühlschrankfüller“, wie Bauer in einem Interview der Wochenzeitung „Zeit“ anvertraute. Eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen, die jede Hochachtung verdient, aber andernorts leider keine Nachahmer fand.

Aus diesem Geist ist auch die Initiative „Stuttgart gegen rechts – für eine bessere Demokratie“ entsprungen. Für Joe gilt, sich auf allen Ebenen dem rechten Vormarsch entgegen zu stellen. Er sieht es als eine Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit.

Während ich durch Frankfurt spaziere und notiere, was ich sehe und höre, etwas das ich von Joe Bauer gelernt habe, bereitet er die nächste Aktion, das nächste Treffen oder den nächsten Flaneursalon vor.

Der Flaneursalon war ursprünglich nichts anderes als eine einmalige Aktion zur Präsentation seines ersten Kolumnenbuches, „Stuttgart – My Cleverly Hills“, 1998 im Stuttgarter Theiss Verlag erschienen. Sich an einen Tisch zu setzen, ein Glas Wasser neben sich und Texte vorzulesen, also eine sogenannte Wasserglaslesung, ist Joe Bauers Sache nicht. Er holte sich musikalische Unterstützung. Nun, die Veranstaltung muss ein Erfolg gewesen sein. Sie war der Startschuss zu einer völlig neuen Form der intelligenten Unterhaltung, in der Gegensätze nicht vermieden sondern gesucht und Genregrenzen überwunden werden; eine mixed Show, die von Kontrasten und scheinbar Unvereinbarem lebt. Musik unterschiedlichster Richtungen, Kabarett, Satire und seine eigenen Texte prägen den unverwechselbaren Stil von Joe Bauers Flaneursalon, der auch nach über 25 Jahren noch prächtig gedeiht. In all diesen Jahren zog die Show über diverse Stuttgarter Bühnen, sehr kleine und sehr große, Bars, Wirtshäuser und auch das Theaterhaus. Die Zahl der stets wechselnden Mitwirkenden ist beeindruckend und wächst weiter. Allen bezahlt Bauer ein Honorar, sich selbst nicht. Er ist froh, nicht draufzahlen zu müssen, „aus eigenem Anbau“. Seit einiger Zeit ist auch der Frankfurter Autor und Satiriker Oliver Maria Schmitt gelegentlich auf einer Flaneursalonsbühne anzutreffen. Er hat sich bei Bauer gemeldet, weil es Vergleichbares in Frankfurt nicht gibt. Das gilt nicht nur für Frankfurt; das Konzept von Joe Bauers Flaneursalon hat es, wie die Künster*innen Soforthilfe, nicht über die engen Grenzen Stuttgarts hinaus geschafft. Dafür braucht es wohl jemand wie Joe Bauer. Stuttgart kann sich glücklich schätzen, einen wie ihn zu haben.