Tempelhofer Park

Fast 2 ½ Jahrzehnte habe ich in unmittelbarer Nachbarschaft des Flughafens Tempelhof gelebt. Nur 10 Gehminuten trennten mich von diesem berühmten und symbolträchtigen Nazi-Bauwerk. Allzu oft habe ich den riesigen Bau allerdings nicht gesehen. Das Leben spielte sich weiter nördlich ab. Südlich war nur Tempelhof und da war nichts, außer dem Flughafen. Der Fluglärm störte andere, mich nicht. Anfliegende Maschinen konnte ich von meinem Fenster aus als kleine Lichtpunkte erkennen. Gehört habe ich sie nicht.

Mittlerweile bedauere ich, nie von Tempelhof aus irgendwo hin geflogen, oder dort gelandet zu sein. Einmal holte ich meine Freundin dort ab, sie kam aus Nürnberg. Wir gingen dann in zehn Minuten zu Fuß nach hause.

Vor etwa zwei Jahren wurde der Flugbetrieb in Tempelhof eingestellt. Es gab viele Diskussionen in der Stadt, die in einer Volksabstimmung mündeten. An dieser Abstimmung durfte ich nicht teilnehmen, ich war kein Berliner mehr. Wahrscheinlich hätte ich, entgegen aller Vernunft, gegen die Schließung von Tempelhof gestimmt. Solange sie mich nicht stören mag ich Flughäfen. Ich habe noch nie unter Flughäfen gelitten und Flugzeuge am Himmel faszinieren mich immer wieder. Vor allem, wenn ich nicht drin sitze. Aber natürlich ist ein Flughafen mitten in der Stadt völlig blödsinnig. Die Abstimmung endete knapp gegen die Gegner der Schließung.

Kein anderes Gebäude symbolisierte West-Berlin mehr als der Flughafen Tempelhof. Das Luftbrückendenkmal, die „Hungerharke“, wie die West-Berliner das Denkmal nannten, stand für „Freiheit“, für „Demokratie“ und somit vor allem gegen den Osten, den Kommunismus. Die Hungerharke wies nach Westen, nach Frankfurt am Main. Am dortigen Flughafen steht das Gegenstück, nach Osten, nach West-Berlin weisend. Vom Frankfurter Flughafen starteten die Rosinenbomber nach Tempelhof. Die meisten kamen auch an.

Seit zwanzig Jahren gibt es kein West-Berlin mehr, keinen Osten und keinen Kommunismus. Kommunismus, oder das was manche dafür halten, findet andernorts statt. Somit ist die Daseinsberechtigung für Tempelhof verschwunden.

Am Stadtrand wird gerade ein riesiger internationaler Flughafen gebaut und der Flughafen Tempelhof musste sich neu erfinden. Und er hat sich als „Tempelhofer Park“ fulminant neu erfunden. Berlin besitzt jetzt wieder eine Sehenswürdigkeit, die keine andere Stadt der Welt zu bieten hat. Man ist geneigt, Goethe zu zitieren. In seiner Italienischen Reise schreibt er: „Dergleichen möcht` es wohl in Europa schwerlich zum zweiten Male geben, wenigstens nicht im Mittelpunkt einer großen, bevölkerten Stadt.“

„Dergleichen“ fasziniert vor allem durch das Nichts, durch eine Weite, die sonst nur an Stränden zu spüren ist. Die Stadt verschwindet, ist nur mehr am Horizont erkennbar. Ganz klein der Fernsehturm und die anderen Fixpunkte der Millionenstadt. Vom Tempelhofer Park aus scheint die Entfernung zu den innerstädtischen Zentren eine Tagesreise zu bedeuten. Und wieder kommt uns Goethe und seine Italienische Reise in den Sinn. ‎“Es übernimmt einen wirklich das Gefühl von Unendlichkeit des Raums.“

Unspektakulär erscheint er, der neue Park. Nur ein Biergarten ist für die Versorgung der Besucher auf dem riesigen Areal zuständig. Drei eingezäunte Hundeauslaufgebiete, zwei Grillflächen, das war`s. Gut ein Drittel des Geländes gehört den Vögeln und Pflanzen, die sich bereits zu Betriebszeiten dort angesiedelt haben. Besucher haben da nichts zu suchen. Die laufen, fahren Rad oder skaten auf den Landebahnen oder spazieren auf den vielen, überraschenden Querwegen, die ein Flugplatz auch zu bieten hat. Im Tempelhofer Park lassen sich überraschende Dinge entdecken, die auf einem Flugplatz nicht zu erwarten sind. Ein Wäldchen z. B., gleich neben dem ehemaligen Schießstand der US Air Force. Es bleibt zu hoffen, dass die künftige Nutzung dieser Weite und der Stille gerecht wird, dann bleibt der Tempelhofer Park eine Fläche, die dem Central Park oder dem Englischen Garten in Nichts nachsteht, im Gegenteil.

So ganz wurde der Park allerdings nicht an die Berliner übergeben. Spätestens gegen 22 Uhr 30 muss das Volk den Park verlassen.

einzlkind – Harold

Die Presse feiert diesen Roman in seltener Einmütigkeit. Der Spiegel, die FAZ, die FR und viele andere finden kaum die passenden Worte, um ihrer Begeisterung Ausdruck zu verleihen. Selbst Hans Magnus Enzensberger wird zitiert: »…das ist ja ziemlich wunderbar. Ich meine Harold

Und genau darum geht es, um einen skurrilen Roman mit dem Titel Harold. Als Autor fungiert jemand, der angeblich in England wohnt, oder in Deutschland, und unter dem Pseudonym einzlkind antritt. Wohin das führt, wenn Autoren Phantasienamen verwenden, unter denen auch Hamburger Popbands firmieren könnten, werden wir hoffentlich nie erfahren. Verleger Bittermann ließ es sich nicht nehmen, in seinem Umschlagtext darauf hinzuweisen, dass das Manuskript unverlangt an den Verlag geschickt wurde und trotzdem erschienen ist. So schafft man Legenden.

Harold ist betitelt nach seinem Helden, einem arbeitslosen Wurstverkäufer. Und schon ist man in die Falle getappt. Denn Harold ist eine Null, ein Antiheld, niemand, der eine Geschichte von doch immerhin 222 Seiten zu erzählen hätte. Der wahre Held ist der elfjährige Melvin, und der beschwert sich im Umschlagtext zu Recht, dass er nicht im Titel erwähnt wird. Melvin ist ein Genie, ein vermeintliches freilich.

Selbstverständlich kennt Melvin sich bei Pferden und Trabrennen aus. Mit Kennerblick studiert er Pferde und Jockeys. Die 8 wird gewinnen, Orpheus, ganz sicher! Harold verballert seine letzten 20 Pfund. Orpheus wird Letzter. Auch verliert Melvin eine Schachpartie, bei der es immerhin um 100 Pfund geht. Unserem Superhelden sind Grenzen gesetzt. Harold und Melvin sind also Ein arbeitsloser Wurstfachverkäufer, der sich chronisch selbst umbringt und das wahrscheinlich größte lebende Genie seit Hegel. Und zusammen begeben sie sich auf die Suche nach Melvins leiblichen Vater.

Um dieses Roadmovie zu erzählen, greift einzlkind völlig ungeniert in die große Kino- und Literaturkiste. Hier ein bisschen Harold and Maude und Frühstück bei Tiffany, dort etwas Nick Hornby, eine Prise John Irving, ein Schuß britischen Humor a la Monty Python und schon sind die wesentlichen Zutaten zu diesem aberwitzigen Buch beisammen. Selbst James Joyce findet seinen Niederschlag. Im Ulysses hat Melvin gesparte 800 Pfund versteckt, die er im Laufe der Zeit in der Geldbörse seiner Mutter gefunden hat. Später landen die beiden in einer üblen Absteige, namens Molly Blooms Pension. Auch hier gelingt es Melvin, trotz seiner außerordentlichen rhetorischen Fähigkeiten, nicht, den Preis für die Präsidentensuite zu drücken. Allein der Versuch ist jedoch ein großes Lesevergnügen.

Ein großes Lesevergnügen ist indes der ganze Roman. Trotz aller Patchworktechnik habe ich mich prächtig amüsiert. Wer Spaß hat an seltsamen Wortschöpfungen und Formulierungen wie die Milch war um, oder auch pimaldaumen, Melvin strohhalmt Cola, findet in diesem Roman reichlich Stoff. Schön ist eine kleine Episode um ein deutsches Touristenpaar in Liverpool, das dort, „Ferry Cross The Mercy“ singend, weltkulturerben darf. Da nützen auch alle Beschimpfungen Melvins nichts.

Nein, ein Engländer ist der Autor nicht. Wer immer einzlkind ist, wer immer diesen kleinen Roman geschrieben hat, es muß einen höllischen Spaß gemacht haben. Und dieser Spaß überträgt sich auf die Leser. Sollte sich hinter einzlkind der Verleger Klaus Bittermann selbst verbergen, wie die Frankfurter Rundschau mutmaßte, würde das nicht verwundern. Wer in Bittermanns Blog stöbert, wird feststellen, dass der Verleger viel Spaß hat am Fabulieren. Letztendlich ist es auch egal, wer diesen Roman geschrieben hat. Unser Vergnügen wird durch dieses Rätsel nicht geschmälert, den bleiben wird Harold.

Lassen wir Jim, dem Tankwart, das Schlusswort: „Lieber Einzelkind als gar keine Geschwister.“

Edition Tiamat Berlin 2010

Critica Diabolis 173

ISBN 978-3-89320-142-6

€ 16,-