Spaziergangstagebuch 4

03.12.21

Vom Ernst-May-Platz zum Schillermarkt und zurück.

Der Wind hat schlechte Laune

Ein grau-kühler Herbsttag, sehr windig aber trocken. Warm anziehen, dann los. Die Wittelsbacher Allee ist Teil der Ernst-May-Siedlung in Bornheim Ost, gleich am Bornheimer Hang. Es gibt über Frankfurt verteilt mehrere dieser Siedlungen, alle nach deren Baumeister Ernst May, dem damaligen Stadtbaudirektor der Stadt, benannt. Entstanden sind sie in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Bekannt sind diese Siedlungen unter dem Begriff „Das neue Frankfurt“. Ich wohne in einem solchen Haus und weiß es zu schätzen, auch wenn meine Wohnung von May nicht als eine solche geplant wurde, sondern als Mansarde.

Wie immer ist die Kreuzung Freiligrathstraße / Fechenheimer Straße zugeparkt. Das ist hier immer so in der Autohölle Freiligrathstraße. Kein Baum, aber alles voll mit parkenden Autos. Menschen mit Rollstuhl, Kinderwagen oder Rollator haben hier große Probleme, die Straße zu queren. Vor einigen Jahren gab es eine Nachbarschaftsinitiative, die versuchte, etwas Grün in die Straße zu bringen. Das wäre nur auf Kosten von Parkplätzen gegangen. Das Geschrei war groß, die Leute wollten lieber parken statt wohnen. Der einzige Lichtblick in dieser öden Straße ist die Jazz- und Chansonbar Mosaik mit ihrem wunderbaren, liebenswerten Wirt. Sie liegt an dieser Kreuzung.

In der Fechenheimer Straße wurde im Juni 1927, also jenem Jahrzehnt, in dem das Neue Frankfurt entstand, der Gangsterboss und Bestsellerautor Henry Jaeger geboren. Er war der Chef der berüchtigten Jaeger-Bande, die in den frühen Fünfziger Jahren mit Einbrüchen und Raubüberfällen die Stadt in Atem hielt. Im Dezember 1954 überfiel die Bande eine Rentenzahlstelle der Post im Oeder Weg. Damals wurden die Renten in bar ausbezahlt. Sie erbeuteten 80000 Mark, eine riesige Summe. Allerdings hatten sie nichts von ihrer Beute, denn die Bande wurde geschnappt und die Mitglieder später zu jeweils 12 Jahre Gefängnis verurteilt. Im Knast fing Jaeger an mit Bleistift auf Klopapier einen Roman zu schreiben. Der Gefängnispfarrer schmuggelte das Manuskript nach draußen und fand tatsächlich einen Verlag. Außerdem besorgte er eine Praktikumsstelle für Jaeger bei der Frankfurter Rundschau. Aufgrund dieser positiven Sozialisierungsprognose wurde er von Bundeskanzler Adenauer begnadigt. Der Roman erschien 1962 unter dem Titel „Die Festung“ und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Die Verfilmung unter dem Titel „Verdammt zur Sünde“ mit Hildegard Knef und Martin Held in den Hauptrollen, war ebenfalls sehr erfolgreich,. Jaeger wurde berühmt und reich, diesmal auf legale Weise. Seinen Reichtum kostete er in einer Künstlerkolonie in Ascona aus und feierte ausschweifend mit schönen Autos und schnellen Frauen. Weitere Bücher waren weniger erfolgreich. Jaeger starb verarmt im Dezember 2000 in einem Frankfurter Armenhospiz.

Gleich nebenan hat die Gaststätte Henscheid, Nachfolger des legendären Wirtshauses Klabunt in der Berger Straße, an diesem frühen Nachmittag ihre Pforten noch geschlossen.

Die Roßdorfer Straße ist im Vergleich mit der Freiligrath ein Paradies. Wenig Durchgangsverkehr, einige Bäume auf einer Seite und recht ruhig. Alles ok für eine städtische Straße und doch mag ich sie nicht. Bis heute habe ich nicht ergründen können weshalb. Aber auch hier gibt`s interessante Einblicke hinter die Kulissen. Diese Höfe, noch dazu wenn sie nicht zugänglich sind, machen neugierig, sie bergen Geheimnisse und Geschichten.

Im Sandweg sagt ein kleiner Junge, bevor er in das Lastenrad klettert, zu seinem Vater: Der Wind hat schlechte Laune. Das klingt vielleicht absurder als es ist. Tatsächlich hat der Wind sehr viele Eigenschaften. Bei Jimi Hendrix kann er einen Namen flüstern, schreien und kreischen, Mary. Und bei Ruiz Zafon hat er sogar einen Schatten. Ich gehe durch eine enge, unansehnliche Straße, in der ein einsames Bäumchen vergeblich gegen die Tristesse anzukämpfen versucht. Es ist die Seumestraße. Ich hätte dem großen Spaziergänger und Schriftsteller eine repräsentativere Adresse gewünscht. Vor dem Testzentrum am Merianplatz warten drei Leute auf ihren Schnelltest.

Ich komme in die Stephanstraße, zwischen Zeil und Bleichstraße gelegen. Dort gehe ich gerne, breite Gehwege, viel Grün und keine Parkplätze. Ein Obdachloser zieht seines Weges, den Kopf gesenkt, über der Schulter eine große, gefüllte IKEA Tasche. Er brummelt vor sich hin, vielleicht seinen Welthass. Auf dem angrenzenden Peterskirchhof, städtische Begräbnisstelle seit dem 15. Jahrhundert, haben Goethes Eltern ihren letzten Ort gefunden, getrennt für alle Ewigkeit. Wobei Goethes Mutter „umgezogen“ ist, und inzwischen auf dem Hof der benachbarten Schule liegt. Und dann gibt es direkt nebenan ein ausgesprochen schönes neues Gebäude mit einer Backsteinfassade zu entdecken. Ist ja nicht allzu oft so zu finden in Frankfurt.

Auf dem nahe gelegenen Markt an der Schillerstraße bei Schinken Becker ein Brötchen mit Kochschinken erstanden. Wollte bei Schoppe Otto einen heißen Apfelwein dazu trinken, aber sein angestammter Standort war an diesem Tag verwaist. Schade. An der benachbarten Hauptwache standen einige Buden des diesjährigen Weihnachtsmarktes, der sich über die halbe Innenstadt zieht. Dort würde ich einen heißen Schuppen bekommen. Es galt Maskenpflicht, nicht aber am Schillermarkt. Weshalb entzieht sich der Logik. Zunächst aber in das Schuhgeschäft hinter der Katharinenkirche. Ich brauchte dringend gute Schuhe für den Winter. Es war klar, ich musste nicht überlegen, es sollten wieder (Achtung Reklame) die bewährten Timberlands sein. Fünf Minuten später war ich wieder draußen, die begehrten Schuhe ohne Karton im Stoffbeutel. Jetzt also heißer Apfelwein. Nach einer Weile entdeckte ich in einer Ecke einen Stand der Kelterei Possmann. Ich hatte es befürchtet. Aber was anderes gab`s nicht, also dort einen quitschsüßen, aber immerhin heißen Schoppen, getrunken. Das Schinkenbrötchen dazu verzehrt. Wenigstens gewärmt ging es zurück.

Immer wieder ein Lichtblick, das Wasserhäuschen Fein in den Wallanlagen an der Petersstraße. Ein stets gern angesteuerter Rastpunkt. Dort bestellte ich einen Cappuchino und zog meine neuen Schuhe an. (Achtung Reklame) Timberlands sind perfekte Schuhe für alle, die viel zu Fuß unterwegs sind. Total uncool, aber sehr bequem, stabil und haltbar. Sie passen sich an und mit der Zeit entwickeln sie so etwas wie einen eigenen Charakter. Anziehen, wohlfühlen und losgehen. Sie sind natürlich nicht ganz billig, aber ich bin zu arm, um billige Schuhe zu kaufen. Mit warmen Füßen geht`s zurück nach Bornheim. In der Scheffelstraße erinnern Stolpersteine an die Familie Strauss, der es gelungen ist 1937 nach Uruguay zu fliehen. Das hat was tröstliches. Am Merianplatz schaue ich in ein erleuchtetes Zimmer im Erdgeschoss. Platten, viele CDs, Bücher und Musikinstrumente, ein Keyboard und zwei Harfen, zieren die Wände.

Die Füße sind warm, der Rest nicht. Überall zieht es rein, ich friere. Der Wind hat schlechte Laune.

Der erste Satz.

Der neue Minister war erleichtert, ja befreit. Soeben hatte er den ersten Satz in seinem neuen Büro gesprochen, nein, nicht gesprochen, geschrien hatte er ihn, gegen die noch unvertrauten Wände geschleudert hatte er diesen Satz, dieses Mantra, auf dass sämtliche bisher in diesem Büro gesprochenen Sätze verstummen mögen hinter diesem einen Satz: DER ISLAM GEHÖRT NICHT ZU DEUTSCHLAND! Jetzt war er angekommen in seinem neuen Job, in seinem neuen Büro, aber bevor er sich zufrieden in seinen Ministersessel fallen ließ, hängte er rasch noch das 1 x 2 Meter große Stickdeckchen an die Wand hinter seinem Schreibtisch, das in schwarz-rot-goldenen Lettern jenen Satz trug, den er soeben gesprochen hatte.
Gefertigt hatte das Deckchen die Ministergattin höchstpersönlich. Es sollte eine Überraschung sein für ihren frisch gekürten Minister. Sie vertrieb sich die Zeit der Abwesenheit des Gatten in der fränkischen Heimat mit dieser Handarbeit. Der Minister zeigte sich sehr erfreut über den Einfall seiner fleißigen Frau Gemahlin und beauftragte sie umgehend weitere, allerdings deutlich kleinere, dieser Deckchen herzustellen. Schließlich sei er künftig als Minister noch weniger am häuslichen Herd anzutreffen als bislang. Da wäre es gut, die Gattin ginge einer sinnvollen Beschäftigung nach.
In jedem Büro seines Ministeriums solle ein solches Deckchen hängen, ausnahmslos, vom Büro des Staatssekretärs bis hin zur Empfangsdame. Es gibt viele Büros in seinem Ministerium, die Frau Minister würde lange sticken müssen. Das Gerücht, sie hätte sich die Unterstützung einer türkischen Schneiderei gesichert, konnte bislang nicht bestätigt werden.
Gleich nachdem der Minister das Präsent der Gattin aufgehängt hatte, bat er seine Sekretärin zu sich. Sie möge per Mail die Bediensteten bitten, in ihren Büros schon mal nach schönen, gut sichtbaren Plätzen für das Deckchen zu suchen. Wer ein zweites Deckchen wünsche um es vielleicht gerahmt neben das Foto des oder der Liebsten auf den Schreibtisch zu stellen, möge sich melden. Auch sei die Ministergattin willens, die leider zu unrecht etwas in Vergessenheit geratenen Häkelhütchen für Klorollen auf Wunsch mit einer entsprechenden Aufschrift zu fertigen. Der Minister wolle die Wünsche gerne an seine Frau Gemahlin weiterleiten. Allerdings werde in diesem Fall um etwas Geduld gebeten.
Als Zweites bat der Minister seine Vorzimmerdame, sie möge den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses die neue Grußformel innerhalb des Hauses, seines Hauses, mitteilen. Ab sofort erwarte der Minister wie folgt gegrüßt zu werden: „Guten Morgen, Herr Minister. DER ISLAM GEHÖRT NICHT ZU DEUTSCHLAND!“ Der Minister versprach sich, dass dieses Mantra half, die Bediensteten des Hauses vergessen zu lassen, was sie auf dem Weg ins Ministerium auf den Straßen der Hauptstadt gesehen hatten.
Für die Weihnachtszeit hatte sich der Minister eine ganz besondere Maßnahme einfallen lassen, um seine Botschaft unter das Volk zu bringen. Schließlich musste er sich gegen das Staatsoberhaupt durchsetzen, sein Revier abstecken und Duftmarken setzen. Eine befreundete Lebkuchenbäckerei in Nürnberg, deren Inhaber die Partei des Ministers regelmäßig mit großzügigen Spenden bedenkt, wurde beauftragt für das kommende Weihnachtsfest zehntausende Lebkuchenherzen mit dem Mantra des Ministers zu verzieren. Er versprach sich einen großen Erfolg von dieser Aktion, sicher würden diese Herzen der Renner auf den Weihnachtsmärkten der Republik werden. Das Ministerium selbst hat die Abnahme von zehntausend Exemplaren fest zugesagt. Denn schließlich eigne sich die Weihnachtszeit wie keine andere, die christliche Botschaft in die Welt zu tragen: „DER ISLAM GEHÖRT NICHT ZU DEUTSCHLAND!“