Spaziergangstagebuch 6

21.01.22

Von Ost nach West.

Schon seit einiger Zeit habe ich vor, das abseits aller meiner Wege gelegene, sogenannte „Europaviertel“ im Frankfurter Westen zu erkunden. Der konkrete Anlass war ein neues Hochhaus an der Messe, das fast fertig ist. Mehr dazu später. Gutes Spaziergangswetter an diesem Freitag. Sonne-Wolken-Gemisch, kühl und trocken. Die Platanen warfen lange Schatten auf die erfreulich breiten Gehwege an der Wittelsbacher Allee. Selbst die Autohölle zeigte sich freundlich. Bei Camino stärkte ich mich mit einem Cappucchino. Dann zunächst durch die mir sehr vertraute Gegend, vorbei an einem kämpferischen und auch amüsanten Graffitti, Richtung Nordend spaziert. Der Aufforderung von Peng kann ich leider nicht nachkommen. Wie so oft gibt es auch hier in manchen Höfen Kleinode zu entdecken.

Die Balkonbrüstungen am Grünen Haus an der vierspurigen Nibelungenallee erinnern mich an Frontscheiben von DDR-Bussen. Keine Ahnung weshalb. An der dort gelegenen Fußgängerampel wartete ich neben einer jungen Frau bei Rot. Es war nicht nötig, kein Auto in Sicht. Ich hatte es nicht eilig. Ein Passant kümmerte sich nicht um die Ampel und querte von der anderen Seite. Auf unserer Höhe raunte er „Lasst euch nicht impfen, geht bei Rot!“. Er muss sich sehr rebellisch gefühlt haben. In der Egenolfstraße warten eine ausgesetzte kleine Vase und ein Kerzenständer auf neue Besitzer. Ich hatte kein Interesse, aber durchaus gelegentlich von derartig freigelassenen Dingen am Wegesrand profitiert. Erst unlängst kam so ein kleiner Klapphocker in meinen Besitz, der jetzt im Bad eine sinnvolle Verwendung gefunden hat.

Ich werde etwas wehmütig, bin ich doch durch Nordendstraßen unterwegs, die ich gerne auf meinen Gängen zur Nationalbibliothek genutzt habe. Nichts vermisse ich mehr, als die spontanen, jederzeit möglichen Besuche in der Bibliothek, und die Spaziergänge dorthin. Das war vor Corona. Heutzutage muss man sich ein Woche vorher anmelden und dann auch noch ein Zeitfenster wählen. Das passt überhaupt nicht in mein Leben. Ein verlassener Balkon im Erdgeschoss, bunte Abdrücke von Kinderhänden neben toten Fenstern erinnern an Leben.

Bereits im Westend. Bin jetzt auf Straßen unterwegs, auf denen ich damals zum Suhrkamp Verlag geradelt bin. Die Wehmut steigt. Damit hatte ich nicht gerechnet. So vieles ist mir vertraut. An der Straße Im Trutz weisen zwei merkwürdig geformte Sitzmöbel auf im Gebäude dahinter arbeitende „Design Offices“. Ein Stück am Grüneburgweg, kurzer Stopp für einen Blick in das Schaufenster der guten Buchhandlung Marx & Co. Die Straße soll im Laufe des Jahres zu einer fahrradfreundlichen Nebenstraße umgestaltet werden, wie auch einige andere. Im Hintergrund das ehemalige IG Farbenhaus. In Frankfurt noch immer der meist genannte Namen für das Gebäude. Nicht etwa Goethe Universität, die dort seit einigen Jahren untergebracht ist. Erbaut wurde dieses mächtige Gebäude von Hans Poelzig in den Jahren 1928 – 31. Sicherlich ein Vorbild für die Nazis und ihre Vorstellung von Architektur, der Flughafen Tempelhof ist dafür ein gutes Beispiel. Ich mag es, aber ich mag auch den Flughafen Tempelhof.

In der großbürgerlichen Friedrichstraße empört ein offensichtlich schon länger dort stehendes Auto andere Autofahrer. Er blockiert wohl zwei Parkplätze. Das ist es, was Autos gemeinhin so tun, Plätze blockieren. Am Palmengarten vorbei, war lange nicht da. In der Siesmeyerstraße linkerhand die Villa Bonn. Ende des 19. Jahrhunderts für den Bankier Wilhelm Bernhard Bonn gebaut. In meinen Anfangszeiten bei Suhrkamp Anfang der zweitausender Jahre fanden dort Empfänge und Buchhändlerabende statt. Das hörte zum Glück bald auf, ich habe das Gebäude gehasst. Erdrückend, bombastisch, es fehlten noch einige Hirschgeweihe an der Wand oder gar exotischere Trophäen. Schließlich die Mendelssohnstraße, ich nähere mich der Messe, Hochhäuser weisen den Weg. Gegenüber der Festhalle fristet ein stattliches aber totes Gebäude ein tristes Dasein. Das Dach war saniert, sonst nichts. Keine Anzeichen davon, es wieder zum Leben zu erwecken, nirgends. Der Hammering Man tut zuverlässig, was er tun muss. In der Festhalle holte ich im April 2021 meine erste Impfung ab, Astra.

Dann das neue Hochhaus. Es gefällt mir. Die Fassade interessant gerastert, und natürlich der kesse Überhang oben. Kleinigkeiten, die so viel bewirken. Es hat alle Chancen mein Liebling in der Skyline zu werden. Das Europaviertel ist nahe. Vorher Skyline Plaza angesteuert, erstmals. Im Hintergrund lauert Halle 3 der Messe, in der sich im letzten Jahr das Messegeschehen hauptsächlich abgespielt hat. Im Einkaufszentrum Cappucchino und Muffin zur Stärkung. Hat geschmeckt, die Bedienung war freundlich. Viel los war dort ansonsten nicht. Dann der Schock. Ich wusste ja, was mich erwartet, aber mitten drin zu sein ist schon was anderes. Die Europallee, im Volksmund längst „Stalinallee“ genannt. Sehr treffend. Der Begriff stammt wahrscheinlich von Dieter Bartetzko, dem leider viel zu früh verstorbenen Architekturtheoretiker, Kritiker und Autor der FAZ. In seinem Buch „Architekturstadt Frankfurt“ von 2014 hat er ihn für diese „Allee“ verwendet, zurecht. Ich denke nur, wie kann man so etwas bauen? Eine 60 Meter breite Straße, gesäumt von gleichförmigen und leblosen Kästen, leblos wie das ganze Viertel. Wenn die U-Bahn fertig ist, wird es wahrscheinlich mehr Grün geben, viel wird das nicht ausrichten. Ein Boulevard wird das nicht werden. Im Hintergrund überragt Halle 3 wie ein gigantisches Raumschiff oder ein Kreuzfahrtriese das Grauen.

Dann ein erlösender Blick nach links. Dort ist Leben, im Europaviertel nicht. Das Gallus, direkt nebenan. Vergleichbar mit Neukölln in früheren Jahren, jetzt die Verlockung. Das Kölner Eck ein Hoffnungspunkt. Ich gehe weiter. Hinter der Eisenbahnbrücke drehe ich um und fliehe. Ins Gallus. Gegensätze wie zwischen Ost und West. Mein Sympathien sind klar verteilt. Ich fühle mich regelrecht befreit, atme freier. Ein wenig Eisenbahnromatik tröstet das Auge. In einem unscheinbaren, nicht sehr gepflegten Gebäude, direkt an der „Mauer“ wie damals in Berlin gesagt wurde, verbirgt sich ein unvermuteter Galvanikbetrieb. Vor dem Kölner Eck freut sich ein einsamer Zecher an seinem Bier. Wieder unter Menschen.

In der Frankenallee ein gelber Gitterkäfig, ein Bolzplatz. Vor vielen Jahren habe ich dort auch mal gekickt, für etwa zwei Minuten. Länger hat mich die Trainerin nicht eingewechselt. Es ging gegen eine Kneipenmannschaft. Aber Fußball war da eher nebensächlich. Hauptsächlich wurde Bier getrunken und gelacht. Das nahe gelegene Wasserhäuschen freute sich über den Umsatz. Organisiert hatten das Ganze Jürgen Roth, der in der Nähe wohnt, und der Wirt einer griechischen Kneipe. Es war ein schöner und sehr lustiger Nachmittag. Roth hat über dieses „Spiel“ einen Artikel auf der Wahrheitsseite der TAZ untergebracht.

Ich bin auf dem Rückweg durch das Westend und mache einen Abstecher in die Lindenstraße. Die gigantische Gründerzeitvilla beherbergte in der Nazizeit Frankfurts Gestapozentrale. Eine Gedenktafel erinnert daran. Heute dient die Villa einer Bank als Geschäftssitz. Direkt daneben stand einst das Suhrkamphaus. Ein, wie ich fand, ganz schöner sechziger Jahre-Bau. Durchaus sanierungsbedürftig, aber gelungen. Ich habe in dem Gebäude einige gute Jahre verbracht. Ein Investor hat sich für Abriss und Neubau entschieden. Seit dem steht dort ein Gebäude mit Tiefgarage und teuren Eigentumswohnungen. Den Abriss des Suhrkamp-Gebäudes habe ich damals einen Monat lang zweimal täglich dokumentiert Einen Schwung Wehmut nehme ich noch mit, dann geht’s weiter durch den Kettenhofweg. Adorno wohnte hier einst. Soll auch in diesem Jahr in eine fahrradfreundlich Fahrradstraße umgestaltet werden.

Auf dem Opernplatz, dem Ort, an dem Frankfurt versucht, wie Paris auszusehen, erfreut ein Seifenblasenjongleur einige Kinder. Es ist Freitag, auf der Schillerstraße ist Wochenmarkt. Ich gönne mir ein Kochschinkenbrötchen von Schinken Becker und trinke bei Schoppe Otto heißen Apfelwein dazu. Es war besser als das Photo. Füllhalter Haizmann leider auch Vergangenheit, leere Fenster und auch kein überdimensionierter Montblanc Füller mehr, der zu Werbezwecken die Fassade zierte. Ich bin froh, ihn noch photographiert zu haben. Bald bin ich wieder in Bornheim.

Fundsachen

Ich bin Fußgänger, durchaus auch Spaziergänger, Fußgänger im Sinne von zielgerichteter Fortbewegung gemeint, von A nach B. Mein Verkehrsmittel sind Beine und Füße. Natürlich gehe ich auch sehr gerne spazieren, auch sehr lange. Zwanzig Kilometer sind kein Problem. Ich mache fast alle meine Wege in der Stadt zu Fuß. Das liegt auch daran, dann ich nur selten Termine vor dem Nachmittag habe. Manche dieser Spaziergänge sind wöchentliche Rituale geworden, der donnerstägliche Gang zum Markt an der Konstablerwache etwa, meist auch am Samstag. Schon immer bin ich gerne zu Fuß durch mir fremde Städte spaziert, New York, Madrid, Istanbul. Aber ich habe mich im Alltag immer als Radfahrer gesehen. Mittlerweile steht das Rad oft tage- und wochenlang im Keller. Wenn ich weitere Strecken zurücklegen muss, nach Sachsenhausen z.B. und abends erst spät zurückkomme, dann nehme ich das Rad. Bus oder Bahn fahre ich nur, wenn ich mit Gepäck zum Bahnhof muss.

Die Lektüre von Erling Kagges Buch „Gehen. Weiter gehen“ hat mich zum Fußgänger gemacht. Er schildert dort unter anderem die morgendlichen Wege zu seinem Verlag in Oslo und was diese Gänge mit ihm machen. Wie frisch und wach er beispielsweise in seinem Büro ankommt. Nach der Lektüre dieses schmalen Bandes wurde aus dem Radfahrer der Fußgänger.

Vor da an bin ich nicht mehr mit dem Fahrrad in die Nationalbibliothek gefahren, sondern zu Fuß gegangen. Ich varierte immer die Wege, wollte soviel wie möglich entdecken. So dauerten diese Spaziergänge zwischen 30 und 45 Minuten. Ich kam mit wachem Geist in der Bibliothek an, die Luft hatte mir gut getan und das Gehen ebenfalls. Die positiven Auswirkungen des Zufußgehens auf Körper und Geist sind hinlänglich bekannt. Darum soll es hier nicht gehen. In diesem Text geht es darum, das Fußgänger mehr und anders sehen als andere. Eine kleine Reihe auf Instagram, die ich immer „Hinter den Kulissen“ nenne, gibt davon ein Beispiel. Blicke in Einfahrten, Hinterhöfe oder auf Brandwände. Photos die nur Fußgänger machen können, alle anderen fahren dran vorbei. Und wer mehr sieht, findet auch mehr. Darum soll es gehen, um die Fundsachen auf meinen Wegen, die mir gute Dienste leisten.

Da wäre zunächst dieser wunderbare Thonet-Barhocker. Er stand vor ungefähr zwei Jahren nächtens allein und unbeachtet irgendwo im Nordend. Ich habe ihn aus dieser misslichen Lage befreit und an mich genommen. Er ist vollkommen intakt. Mir ist es bis jetzt völlig unbegreiflich, wie so ein derart schönes Möbelstück auf diese Weise entsorgt werden kann. Ich bin dankbar.

Ergänzt wird dieser Barhocker durch einen zweiten, aber völlig anders gearteten Kollegen. Er ist aus Kunststoff, wahrscheinlich von Ikea. Das ist praktisch, denn er kann bei Wind und Wetter draußen auf dem „Balkönsche“ stehen bleiben. Dieser Hocker wartete vor REWE in Bornheim darauf, dass sich jemand seiner erbarme. Beim ersten Vorbeigehen hatte ich ihn noch stehen lassen, mich zuhause darüber geärgert. Als ich später wiederkam, war er noch da. Das „Balkönsche“ ist gar keins, sondern ein Fluchtweg. Ich musste durch eine Unterschrift bestätigen, das zur Kenntnis genommen zu haben. Im Ernstfall kann ich von dort auf die Leiter klettern oder mich ins Sprungtuch fallen lassen. Diese zwei Barhocker ergänzen sich perfekt, denn auf diesem Fluchtweg lässt es sich im Sommer trefflich sitzen, die Weingläser auf der breiten Brüstung abgestellt. Wie an einem Tresen.

Bleiben wir bei Stühlen. Mehrere Stunden am Tag sitze ich auf diesem Exemplar. Ich sitze dort wenn ich esse oder schreibe. Er ist sehr bequem und gut erhalten. Er fand sich irgendwann im letzten Jahr vor einem Haus unweit meiner Wohnung. Ich habe nicht gezögert.

Ebenfalls in meiner Straße kam ich in einer betrunkenen Sommernacht an Sperrmüll vorbei, abgestellt an einer Hauswand. Darunter ein Umzugskarton mit Schallplatten. Ich stöberte und fand diese vier Platten. ich konnte sie nicht stehen lassen. Gehört habe ich sie auch, alle in guter Verfassung, was ich beim äußeren Anschein eher nicht vermutet hätte. Aber die Geschichte um diese Platten muss noch erzählt werden, es war denkwürdig.

Nicht in meiner Straße, aber auch in Bornheim, war diese Stehlampe mit dem Schwenkarm freigelassen. Ein Zettel hing dran „Funktioniert noch“. Wieder musste ich nicht überlegen, nach so einer Lampe stand mir schon länger der Sinn. Zuhause probierte ich sie aus, der Zettel hat nicht gelogen. Sie ist jetzt jeden Tag in Gebrauch.

Der neueste Zuwachs ist dieses Tischchen, es stand ebenfalls in meiner Straße. Ist etwas lädiert, was ich aber ganz charmant finde. Irgendwann stelle ich eine Pflanze drauf. Derzeit dient es mir als Ablage für das Tablet, wenn es geladen wird.

Verlassen wir mein Wohn- und Esszimmer und begeben uns in die sehr kleine Küche. Dort leistet mir seit geraumer Zeit dieses kleine quadratische Regal gute Dienste. Oft sind es aber auch einfache praktische Dinge, die ich finde. Diese kleinen Drahtkörbe, die mit Saugnäpfen an den Kacheln befestigt, die Abwaschuntensilien griffbereit für mich bereithalten. Praktische Dinge.

Zum Schluss sei erwähnt, dass ich vor einigen Wochen in Berlin während eines langen Spaziergangs durch Kreuzberg und Tempelhof, 120,- € auf der Straße gefunden habe. Zu Fuß gehen lohnt sich also.

Zu Fuß gehen

davMein Verkehrsmittel ist das Fahrrad. In der Stadt ist es allen anderen Fahrzeugen überlegen. Es ist schnell, leise, preiswert und hält fit. Einen Stellplatz wird man in der Regel finden, auch wenn man gelegentlich etwas suchen muss. Kurz: Radfahren ist sozial und ökologisch verträglicher Individualverkehr in Reinkultur, ganz im Gegensatz zum Autofahren. Um so unbegreiflicher ist es, dass Städte immer noch viel zu wenig unternehmen, um das Radfahren in der Stadt attraktiver und sicherer zu machen. Aber immerhin sind einige zaghafte Versuche in diese Richtung zu bemerken, wenn sie auch bei Weitem nicht ausreichen. Diese unbefriedigende Situation sorgt dafür, dass Fahrradfahren in der Stadt eines nicht ist: entspannend. Im Gegenteil, Radfahrer sind in jeder Situation gefordert, den Überblick zu behalten. Kleine Unachtsamkeiten können schwerwiegende Folgen haben, bis hin zum Tod. Durch die Natur zu radeln ist hingegen ein Vergnügen sondergleichen.

Von meiner Wohnung bis zur Nationalbibliothek, die ich regelmäßig aufsuche, brauche ich mit dem Rad ungefähr 13 Minuten. Das ist keine Entfernung, und doch bereitet mir diese kurze Strecke kein Vergnügen. Es geht, zumindest auf dem Hinweg, permanent leicht aber spürbar bergauf. Ich muss mich also ein wenig anstrengen. Und ich bin gefordert, auf den Verkehr zu achten. Wenn ich dann, nach zugegeben kurzer Fahrt, mein Ziel erreiche, bin ich, vor allem im Sommer, verschwitzt und nicht entspannt. An einigen dieser Bibliothekstage arbeite ich abends in einer Kneipe bei mir um die Ecke. Die erreiche ich von der Bibliothek aus mit dem Rad in zehn Minuten. Das ist mir eindeutig zu schnell, um zwischen diesen unterschiedlichen Welten zu pendeln. Da brauche ich einen Puffer. Gelegentlich bin ich so früh losgefahren, dass ich vor meiner Schicht noch ein paar Minuten durch die Gegend schlendern konnte. Das schuf dann wenigstens ein bißchen Distanz.

dav

Herbstlicher Günthersburgpark

Ich bin schon immer viel zu Fuß gegangen. Der donnerstägliche Gang zum Markt auf der Konstablerwache und auch wieder zurück, ist mir zu einem liebenswerten Ritual geworden, auf das ich nicht verzichten möchte. Samstags wiederhole ich das meistens auch. Fremde Städte erkunde ich bevorzugt per Pedes, ich habe kein Problem damit, stundenlang durch die Straßen zu ziehen und soviel Eindrücke wie möglich zu sammeln. Seit ich das Zufußgehen jedoch in meinen Alltag integriert habe, erreiche ich meinem Arbeitsplatz wesentlich entspannter. Auf dem Weg gehen mir irgendwelche Gedanken durch den Kopf und ich sehe Details, die mir auf dem Rad entgehen würden. Ich muss nicht ständig auf Autos achten oder Fußgänger, die gedankenlos Radwege kreuzen.

Statt dessen kann ich mich an herbstlich bunten Bäumen im Günthersburgpark erfreuen und den freundlichen Hund in der Nordendstraße begrüßen. Dort komme ich dann auch an dem legendären Lokal Größenwahn vorbei, dass seit beinahe vierzig Jahren die Frankfurter Gastronomie bereichert.dig

Nach stundenlangem Sitzen in der trockenen Luft der Bibliothek ist der Heimweg zu Fuß eine reine Wohltat. Zumal ich zwischen verschiedenen Wegen wählen kann. Ich gehe niemals den selben Weg zurück, den ich auch auf dem Hinweg genutzt habe.

Es bedurfte der Lektüre des empfehlenswerten kleinen Buches von Erling Kagge Gehen. Weiter gehen. Eine Anleitung, das 2018 im Insel Verlag erschienen ist. Der Autor berichtet u.a., wie er jeden Tag in Oslo zu Fuß zur Arbeit in seinen Verlag geht und was dieser morgendliche Gang für ihn bedeutet. Das hat mich überzeugt, es ihm gleich zu tun. Keine Ahnung, weshalb ich nicht von selbst auf diese Idee gekommen bin.

Aber jetzt ist es so und es ist gut so.

Donnerstags in Frankfurt

Mein liebster Wochentag ist der Donnerstag. Von den Vortagen stecken mir da drei meist anstrengende Kneipenschichten in den Knochen. In der ersten Januarwoche waren es sogar vier, vier harte Schichten. Ausnahmsweise habe ich am Sonntag gearbeitet. Am ersten Januar wird in der Kneipe immer ein Sauerkrautessen veranstaltet. Der Volksmund meint, man müsse an diesem Tag Sauerkraut essen, damit das Geld nicht ausgeht. Ich hab`s probiert und kann sagen, der Volksmund lügt. Egal, so fing das Jahr mit einer Elfeinhalb-Stundenschicht an. Der Donnerstag ist also sowas wie mein Wochenende, auch wenn ich arbeite, wie an den Folgetagen. Aber Donnerstags lass ich es gemächlich angehen. Nach dem späten Aufstehen erledige ich ein paar Dinge, Mails und so. Was halt anliegt. Gegen 15 Uhr mache ich mich dann auf den Weg zur Konstablerwache. Denn der Markt auf der Konstabler macht diesen Tag erst zu einem besonderen.

Ich spaziere dann durch die Stadt, versuche meinen Kopf frei zu bekommen und möglicherweise die eine oder andere Idee auszubrüten. Beim Gehen klappt das am besten. Fast immer laufe ich die Berger Straße stadteinwärts. Andere Wege führen auch in die Innenstadt, aber auf der Berger ist am meisten los und es gibt mehr zu sehen. Ich kann zwischen zwei Varianten wählen, den Spaziergang zu beginnen. Entweder ich gehe rechts, wenn ich aus dem Haus trete, oder links. Letzten Donnerstag bin ich nach rechts gegangen, vorbei an den Ernst-May-Häusern in der Wittelsbacherallee Richtung Saalburgallee. Dort passiert man das Lieblingswasserhäuschen von Jörg Fauser, der mal in der Wittelsbacher gewohnt hat. wasserhauschen Hinter der stark befahrenen Kreuzung schlage ich mich durch ruhige Nebenstraßen zur Berger. Ich komme am Uhrtürmchenplatz an und schaue erstmal ins Schaufenster meiner Lieblingsbuchhandlung, der Buchhandlung Schutt. uhrturmchenplatz1Die Berger zieht sich über vier Kilometer von der Innenstadt durch das Nordend und Bornheim bis nach Seckbach. Sie ist die Haupteinkaufsstraße der beiden Bezirke. Daher nehme ich auf meinem donnerstäglichen Spaziergang meist diese Route. Die Straße ist stets belebt und es gibt was zu sehen. Gegenüber der katholischen Kirche an der Ecke Eichwaldstraße hat im letzten Jahr ein hessischer Devotionalienladen eine neue Filiale eröffnet. Auf die Inhaber dieses Ladens habe ich mich vor einigen Jahren mal zu sehr verlassen. Es war der wahrscheinlich größte Fehler meines Lebens. Anfangs wechselte ich immer die Straßenseite, wenn ich dort vorbeiging, mittlerweile nicht mehr. Rechterhand folgt das seit Jahren verlassene Gebäude des Elektrokaufhauses Saturn, Frankfurter reden immer noch von „Saturn-Hansa“. So hieß das wohl mal vor vielen Jahren. Gegenüber des toten Gebäudes stehen seither einige Läden leer. Immer wieder rauschen neue Pläne und Gerüchte durch den Blätterwald, was aus der Immobilie werden soll. Passieren tut nichts und so steht der hässliche Klotz sinnlos in der Gegend rum und verschandelt das Stadtbild. Allerdings dient der ehemalige, überdachte Eingangsbereich einigen Obdachlosen als Schlafplatz. saturnAn der Kreuzung Höhen- und Berger Straße wurde im letzten Jahr eine Fußgängerin von einem Baustellenfahrzeug überfahren und tödlich verletzt. Der LKW war entgegen der Einbahnstraße zur Kreuzung gefahren und rechts in die Höhenstraße abgebogen. Das Opfer wollte bei Grün die Straße überqueren. Bis heute erinnern Blumen und Kerzen an den grausamen Unfall. Gegenüber der Unfallstelle wird jetzt ein seit Ewigkeiten brach liegendes Gelände bebaut. Der Entwurf des Hauses, der dort hängt, macht auf mich einen guten Eindruck. Es wird sich erfreulich von der heute so verbreiteten „Würfelhustenarchitektur“ unterscheiden. Warten wir ab, wie es in der Realität wirkt. baustelle-berger-hohen

Ab dieser Kreuzung beginnt die untere Berger Straße. Wir sind im Nordend. Vielleicht liegt es daran, dass sich die Straße fast zu einer reinen Fressmeile entwickelt hat. Klassische Einzelhandelsgeschäfte können sich die Mieten hier nicht mehr leisten. Cafés, Restaurants, Burgerläden, Sushi-, Waffel- und Pizzabuden wechseln sich ab. Fast im Wochenrythmus eröffnen neue Gastrobetriebe, die die kochfaule und solvente Anwohnerschaft vorm Hungertod bewahren wollen. Ich wundere mich immer, wer das alles essen soll. Auch Frankfurts berühmteste Curryanstalt hat sich dort mit einem Ableger niedergelassen, „Best Worscht in Town“. Sie ist berühmt für ihre Soßen, die in verschiedensten Schärfegraden angeboten wird. Wer die schärfste wählt, muss wahrscheinlich eine Erklärung unterschreiben, dass die Wurst mit der feurigen Soße freiwillig und bei voller geistiger Gesundheit verzehrt werden soll. Ich bestellte dort mal eine Currwurst „ohne Darm“. Daraufhin wurde ich unschwer als Berliner identifiziert, mein Wunsch konnte allerdings nicht erfüllt werden. Also nahm ich die übliche Wurst, die Soße mit Schärfegrad C, was mir auch eine Warnung einbrachte. Ob ich die schonmal gegessen hätte?

Weiter geht`s stadteinwärts, vorbei am Merianplatz mit dem hässlichen Brunnen, der aussieht wie irgendwas aus einem Automotor. Jetzt ist es nicht mehr weit zum Anlagenring, der der ehemaligen Stadbefestigung folgt. Vorher bleibe ich bei der Buchhandlung Y mit dem kleinen Café stehen und durchstöbere die Ramschkisten vor dem Laden. Kurz dahinter der schöne, wie aus der Zeit gefallene Gemüseladen, der auch leckere Suppen anbietet. Jedesmal nehme ich mir vor, mal eine zu probieren. Jedoch nicht am Donnerstag, denn da bin ich auf dem Weg zum Erzeugermarkt auf der Konstablerwache. Und dort warten andere Köstlichkeiten auf mich. Am Ende der Berger findet sich dann rechterhand der Bethmannpark, eine innerstädische Oase mit dem Chinesischen Garten. Einige Enten spazierten über den zugefrorenen Weiher. bethmannpark

An diesem Donnerstag jedoch macht der Markt einen recht gerupften Eindruck. Viele Besucher, mich eingeschlossen, irrten orientierungslos über den Platz, auf der Suche nach den gewohnten Anlaufstellen. Doch viele Erzeuger sind an diesem Tag zuhause geblieben, machten wohl eine Woche Urlaub nach den Weihnachtstagen. Mein erster Blick auf dem Markt gilt immer dem Stand des Obsthofs Sattler, der den besten Apfelwein ausschenkt, den ich kenne. Gelegentlich treffe ich dort Andeas Maier. Aber der Platz war verwaist, kein Sattler, kein Maier. konstablerDer benachbarte Platz, an dem sonst der Bauer Stranz seine Buden aufbaut war ebenso leer, wie viele andere an diesem Donnerstag. Ich wusste also im ersten Moment nicht, wo ich was essen sollte und wo meinen Schoppen trinken. Also besorgte ich mir woanders eine Kartoffelbratwurst und steuerte einen weiteren Stand an, der heißen Apfelwein anbot. Beides war lecker. bratwurstDennoch blieb ein leicht leeres Gefühl, als ich meine Schritte wieder Richtung Bornheim lenkte. Wie meist wollte ich auf dem Heimweg an einem Lieblingsort vorbeischauen und dort einen Kaffee trinken, dem Wasserhäuschen Fein am Anlagenring. Dieses ehemalige, klassische Wasserhäuschen mit den typischen Bindingtrinkern wurde im vorletzten Jahr von einer sehr engagierten und phantasievollen Frankfurterin übernommen und überaus liebevoll hergerichtet. Es gibt dort guten Kaffee, Kuchen, allerlei anderen Süßkram, auch Wein, Apfelwein und selbstverständlich auch Bier. Der Platz rund um den Kiosk ist immer liebevoll möbliert. Ein Kleinod, das zum Verweilen einlädt. Allerdings nicht am letzten Donnerstag. „Ferien bis 8. Januar“ verkündete ein Zettel an der geschlossenen Jalousie. Jetzt freu ich mich auf den nächsten Donnerstag.fein