Parallele Leben

Der folgenden Text war geplant als Gastbeitrag für das neue Kolumnenbuch meines alten Freundes Joe Bauer, Einstein am Stuttgartstrand. Er fand Joes Wohlwollen, doch Verleger Klaus Bittermann hat den Text aus nachvollziehbarem Grund gecancelt. Ich habe es ohne Gram und Groll akzeptiert. Der Text ist ja nicht verloren und kann jetzt hier gelesen werden.

Parallele Leben

Wenn der größte Teil des Weges zwischen „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne“ und „This is the End, my only Friend, the End“, also dessen, was wir Leben nennen, zurückgelegt ist, scheint es verlockend, den Blick zurück zu wenden in die Erinnerung. Da ist einfach mehr los als in der Zukunft. Ich ertappe mich gelegentlich dabei, dass ich mich in dieser verflossenen Zeit rumtreibe, was eine ziemlich frustierende Tätigkeit ist; gemachte Fehler lassen sich nicht korrigieren und empfundenes Glück nicht wiederholen. Ich tauche also immer mit leeren Händen aus dieser Rückschau auf und versuche, mich wieder in der Gegenwart und Zukunft zurecht zu finden.

Gegenwart und Zukunft sind wohl auch die Landschaften, durch die Joe Bauer am liebsten spaziert, ohne jedoch die Vergangenheit aus dem Blick zu verlieren.

Lieber zu weit gehen, als gar nicht, lautet sein Credo, das in seiner Doppeldeutigkeit viel aussagt über Bauer. Zu weit ging er schon, zumindest nach Meinung der Schulleitung des Parler Gymnasiums zu Schwäbisch Gmünd, mit der Schülerzeitung Pappa Dadda, die auf dem Schulgelände selbstverständlich nicht verkauft werden durfte. Schon wenig später tauschte er dann die harte Schulbank mit einem Praktikumsplatz in der Redaktion der lokalen Rems Zeitung. Der Weg war beschritten und den sollte Joe nie wieder verlassen.

Zu dieser Zeit saß ich noch unwillig in der Schulbank, völlig ahnungslos, was ich mit diesem Leben anfangen könnte. Dass doch noch etwas halbwegs Vernünftiges dabei rauskommen sollte, ist weitgehend dem Zufall geschuldet. Die Bauer`sche Zielstrebigkeit war mit leider nicht gegeben. Ganz anders als er hatte ich nichts geplant. So wurde aus mir ein Buchhändler in Berlin, was mir durchaus entgegen kam. Dass ich später selbst Bücher machen sollte, zunächst als Herausgeber und jetzt auch als Autor, hätte ich mir niemals vorstellen können, auch das war mehr oder weniger einem Zufall entsprungen.

Zu meinem Buch „Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten“, das ich gemeinsam mit Jürgen Roth herausgegeben habe, bat ich Joe um ein Vorwort. Er hatte noch nie ein Vorwort geschrieben, wusste aber, mit dem Thema umzugehen, wie er es über die Jahre in seiner Kolumne „Joe Bauer in der Stadt“ und jetzt vierzehntägig in der Wochenzeitung „Kontext“, mit „Auf der Straße“ überzeugend beweist. Diese Kolumnen haben bewirkt, dass ich selbst mich immer mehr dem Thema Stadt zuwandte. Aber es dauerte, bis ich ungeplant zu einem Stadtwanderer wurde. Unter diesem Titel erschien dann auch mein erstes Buch, ausschließlich mit eigenen Texten.

Wenn ich die sechzig Jahre, die Joe und ich uns schon kennen, Revue passieren lassen, dann war Joe mir und allen anderen immer mindestens ein-zwei Schritte voraus. Jetzt sieht es aus, als hätte ich ein wenig aufgeholt.

Niemals aufholen werde ich ihn allerdings in Sachen selbstlosem Engagement, das für Joe völlig selbstverständlich, ja notwendig ist.

Der 18. März 2020 war der erste Tag des Shutdowns in der Pandemie. Schon am 16. März 2020 trafen sich vier Männer um Bauer im Stuttgarter Wirtshaus Brunnenwirt und beratschlagten, was zu tun sei. In der Überzeugung, dass eine freie Kultur unabdingbar ist für eine funktionierende Demokratie, wurde die Künster*innen Soforthilfe gegründet, als Startkapital dienten 5000 Euro, „aus eigenem Anbau“ wie Bauer schreibt. Ziel war, plötzlich einkommenslose Menschen aus dem Kulturbetrieb, Künstlerinnen und Künstler, Technik- und Servicepersonal, unbürokratisch und schnell finanziell zu unterstützen. Die notwendige Infrastruktur für eine solche Initiative wurde noch am selben Tag geschaffen und nachmittags gegen 16 Uhr hatte der erste Musiker Geld erhalten. Joe und seine Mitstreiter gingen davon aus, dass die Aktion wohl einen Monat dauern würde, dass es später anderthalb Jahre wurden, hatte niemand erwartet. In dieser Zeit wurden 1,6 Mio Euro Spenden, darunter auch höhere fünfstellige Spenden von Unternehmen und anderen, eingesammelt und verteilt. Diese Initiative sah sich als „Kühlschrankfüller“, wie Bauer in einem Interview der Wochenzeitung „Zeit“ anvertraute. Eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen, die jede Hochachtung verdient, aber andernorts leider keine Nachahmer fand.

Aus diesem Geist ist auch die Initiative „Stuttgart gegen rechts – für eine bessere Demokratie“ entsprungen. Für Joe gilt, sich auf allen Ebenen dem rechten Vormarsch entgegen zu stellen. Er sieht es als eine Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit.

Während ich durch Frankfurt spaziere und notiere, was ich sehe und höre, etwas das ich von Joe Bauer gelernt habe, bereitet er die nächste Aktion, das nächste Treffen oder den nächsten Flaneursalon vor.

Der Flaneursalon war ursprünglich nichts anderes als eine einmalige Aktion zur Präsentation seines ersten Kolumnenbuches, „Stuttgart – My Cleverly Hills“, 1998 im Stuttgarter Theiss Verlag erschienen. Sich an einen Tisch zu setzen, ein Glas Wasser neben sich und Texte vorzulesen, also eine sogenannte Wasserglaslesung, ist Joe Bauers Sache nicht. Er holte sich musikalische Unterstützung. Nun, die Veranstaltung muss ein Erfolg gewesen sein. Sie war der Startschuss zu einer völlig neuen Form der intelligenten Unterhaltung, in der Gegensätze nicht vermieden sondern gesucht und Genregrenzen überwunden werden; eine mixed Show, die von Kontrasten und scheinbar Unvereinbarem lebt. Musik unterschiedlichster Richtungen, Kabarett, Satire und seine eigenen Texte prägen den unverwechselbaren Stil von Joe Bauers Flaneursalon, der auch nach über 25 Jahren noch prächtig gedeiht. In all diesen Jahren zog die Show über diverse Stuttgarter Bühnen, sehr kleine und sehr große, Bars, Wirtshäuser und auch das Theaterhaus. Die Zahl der stets wechselnden Mitwirkenden ist beeindruckend und wächst weiter. Allen bezahlt Bauer ein Honorar, sich selbst nicht. Er ist froh, nicht draufzahlen zu müssen, „aus eigenem Anbau“. Seit einiger Zeit ist auch der Frankfurter Autor und Satiriker Oliver Maria Schmitt gelegentlich auf einer Flaneursalonsbühne anzutreffen. Er hat sich bei Bauer gemeldet, weil es Vergleichbares in Frankfurt nicht gibt. Das gilt nicht nur für Frankfurt; das Konzept von Joe Bauers Flaneursalon hat es, wie die Künster*innen Soforthilfe, nicht über die engen Grenzen Stuttgarts hinaus geschafft. Dafür braucht es wohl jemand wie Joe Bauer. Stuttgart kann sich glücklich schätzen, einen wie ihn zu haben.

Über Alfred Kazin oder Ein Autor, der (neu) entdeckt werden sollte

Im Rahmen von Recherchen zu der von mir herausgegebenen Anthologie Die Kunst des Gehens (marixverlag, Wiesbaden, 2019), stieß ich auf einen Autor, dessen Namen ich noch nie zuvor gehört hatte. Ich las das Buch in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt und war fasziniert. Der Mann ließ mir keine Ruhe mehr, ich beschäftigte mich intensiver mit ihm und seinem Werk. Sein Name ist Alfred Kazin. Das Buch, das ich las, heißt Meine Strassen in New York, im amerikanischen Original A Walker in the City. Erschienen war die deutschsprachige Ausgabe im Walter Verlag, Olten und Freiburg, 1966. Sehr aufwendig gestaltet, Leinen, Fadenheftung, Bleisatz, tolles Schriftbild mit einem schlichten aber schönen Umschlag, der nochmal mit einem Kunststoffschutz umgeben. Ein Vergnügen, dieses Buch in der Hand zu halten und zu lesen. Ich bestellte es antiquarisch und bekam eine Ausgabe in bestem Zustand. Das amerikanische Original, das noch heute lieferbar ist, bestellte ich ebenfalls.

Alfred Kazin war ein amerikanischer Literaturwissenschaftler und Kritiker. Er wurde am 5. Juni 1915 als Sohn polnisch-russischer Einwanderer in New York geboren. Seine Mutter war Schneiderin, sein Vater Anstreicher. Aufgewachsen ist Kazin in Brownsville, einem armen Stadtteil von Brooklyn, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Großteil jüdisch geprägt war. Man sprach vom „Jerusalem Amerikas“ oder auch vom „American Shtetl Brunzvil“.

1942 veröffentlichte Kazin im Alter von 27 Jahren eine dreibändige amerikanische Literaturgeschichte unter dem Titel On Native Grounds, die die Jahre 1860 – 1940 behandelt. (Gekürzte deutsche Ausgabe als Amerika – Selbsterkennung und Befreiung, Karl Alber Verlag, Freiburg, München, 1951). Diese Veröffentlichung machte ihn zu einem anerkannten Intellektuellen in New York und darüber hinaus. Kazins Lebenslauf ist daher dem von Didier Eribon (Die Rückkehr nach Reims) ähnlich, der sich ebenfalls aus seiner ärmlichen Herkunft buchstäblich herausgelesen hatte und zu einem der wichtigsten Intellektuellen Frankreichs wurde. Die New York Times schrieb im Nachruf auf Kazin: „He escaped the poverty of his youth trough the pages of books.“

Von 1952 an lehrte er als Gastprofessor an diversen amerikanischen Universitäten. In den 60iger Jahren war Kazin der wichtigste Rezensent der USA. Kritiken und Essays erschienen unter anderem im New Yorker. Neben diesen Tätigkeiten schrieb er sein Leben lang Tagebücher und autobiographische Texte. 1951 erschien der erste Teil dieser Autobiographie, A Walker in the City. 1965 folgte Starting out in the Thirties und 1978 New York Jew. Alle drei Bände sind bis heute in den USA lieferbar. 2011 wurde bei Yale University Press unter dem Titel Alfred Kazin`s Journals eine Auswahl aus den sechs Bänden der Tagebücher veröffentlicht. Alfred Kazin ist ein moderner Klassiker der amerikanischen Literatur.

Sich selbst bezeichnete er als „a child of Jewish history und literary journalist“. Kazin hielt sich auch regelmäßig in Deutschland auf, unter anderem lehrte er Anfang der Fünfzigerjahre an der Universität Köln Amerikanistik. Leider waren hierzu keine Dokumente zu finden.

Eine deutsche Ausgabe von A Walker in the City erschien 1966 im Walter Verlag, Olten und Freiburg, unter dem Titel Meine Strassen in New York, übersetzt von Erika Meier. Kazin lebte bereits einige Jahre in Manhattan, als er nach Brownsville zurückkehrte und die Straßen und Umgebung seiner Kindheit und Jugend erneut zu Fuß durchstreifte. In A Walker in the City schildert er sein Heranwachsen in Brownsville. Er beschreibt eine untergegangene Welt und ihre Bewohner, denen der Sozialismus näher steht als die Religion. Es geht um das Stummfilmkino, die heruntergekommene Synagoge sowie den Überlebenswillen der armen Bevölkerung, die sich mit Humor und Lebensenergie über Wasser zu halten versucht. All das ist eine liebevolle Hommage an das jüdische Leben und die Umgebung, in der dieses Leben stattfindet. Mit aufmerksamem, genauem Blick und Empathie beschreibt Kazin die Welt und die Menschen seiner Kindheit und Jugend. Kazin war Stotterer und notierte: „Es bedrückte mich, daß ich nur in einsamen Straßen laut und ungehemmt sprechen konnte.“ (S. 35).

A Walker in the City handelt von New York, von Migration und von jüdischem Leben aus der Sicht eines Beteiligten und Flaneurs. Es ist vergleichbar mit Texten berühmter Flaneure wie beispielsweise Franz Hessel, Spazieren in Berlin, Louis Aragon, Der Pariser Bauer, Léon-Paul Fargue, Der Wanderer durch Paris sowie Walter Benjamin, Berliner Kindheit um 1900. Daher ist das Buch auch aus heutiger Sicht aktuell und lesenswert. Eine literarische Entdeckung.

Alfred Kazin verband eine jahrelange Freundschaft mit Hannah Arendt. Sie lernten sich 1946 auf einer Dinerparty in N.Y. kennen. Für die nächsten 10 Jahre sollte Arendt und Kazin eine innige Freundschaft verbinden, die sich auch in insgesamt 40 Briefen manifestierte. Der letzte Brief datiert vom 24. Mai 1974 und enthält Genesungswünsche Kazins an Hannah Arendt. Es sind vorwiegend kurze Briefe. Arendt und Kazin waren quasi Nachbarn und haben sich regelmäßig gesehen. Da gab es nicht so viel zu schreiben. Dieser Briefwechsel ist komplett im Netz nachzulesen.

Anfang der 60iger Jahre entfremdeten sie sich allerdings wieder. Die genauen Gründe für diese Entfremdung sind nicht bekannt, sie könnte aber durch Arendts Bericht Eichmann in Jerusalem ausgelöst worden sein, über den Kazin schrieb, der Tonfall, in dem sie über die Ermordeten schrieb „made me suffer“. Dennoch waren die Jahre ihrer engen Freundschaft für beide Seiten überaus fruchtbar. Arendt hatte den ersten Teil von Kazins New-York-Trilogie A Walker in the City, um den es hier geht, durchgesehen und teilweise korrigiert. Kazin seinerseits vermittelte Arendts Manuskript ihres Totalitarismus-Buches an den amerikanischen Verlag Harcourt and Brace, der das Buch dann auch veröffentlichte. Er hatte zuvor ebenfalls das Manuskript redigiert.

Alfred Kazin starb an seinem 83. Geburtstag 1998 in New York. Philip Roth sagte über ihn: „He was America`s best reader of American Literature in his century.

Vielleicht hat er seinen Himmel ja so vorgefunden, wie er ihn sich gewünscht hat: „My idea of heaven is to settle down in a jet with a book, a notebook and a martini.“

Es wäre überaus zu begrüßen, dieses Buch, und vielleicht auch weitere, neu zu übersetzen und zu veröffentlichen. Ich schrieb ein Exposé, das in diesen Text eingeflossen ist, kopierte aus der deutschen und der amerikanische Ausgabe die entsprechenden Kapitel und ließ alles zu einer Mappe binden. Diese Mappe gab ich dem Autor und Übersetzer Henning Ahrens, der folgendes dazu anmerkte: „…habe mir nun endlich den Kazin angeschaut: Ein sehr charmantes, anschauliches Buch, gar nicht nostalgisch, obwohl es sehr liebevoll ist. Ich war sofort drin, und damit auch im New York jener Zeit. Man kann es noch heute mit Gewinn und Vergnügen lesen, denke ich.“

Im Laufe weiterer Recherchen stieß ich auf eine Großnichte Kazins. Sie war 1993 nach New York ausgewandert, und zwar aus Frankfurt, der Stadt, in der ich wohne. Dort lebt sie als Fotografin. Viel mehr war nicht in Erfahrung zu bringen, keine Website, kein Facebook, kein Twitter, geschweige denn eine Mailadresse. Schließlich entdeckte ich sie auf Instagram, und folgte ihr sofort. Dort zeigt sie regelmäßig ihr Straßenfotografie. Ich war begeistert, endlich eine Spur, denn sie hat schon fünf Jahre in New York gelebt bevor ihr Großonkel dort gestorben ist. Möglicherweise hat sie ihn in dieser Zeit getroffen. Ich versuchte, sie über Instagram anzuschreiben. Das klappt fast nie, wenn das Gegenüber nicht ebenfalls folgt. Es gab also keine Reaktion. Dann, irgendwann, folgte sie mir auch, worüber ich sehr erfreut war. Gelegentlich liked sie sogar meine Fotos. Das machte mir Hoffnung. Ich schrieb ihr erneut, aber wieder keine Reaktion. Das ist aber kein Grund, es nicht erneut zu versuchen.

Es wird Zeit, dass sich ein deutschsprachiger Verlag findet, der sich Alfred Kazin widmet und diesen wunderbaren Autor dem deutschsprachigen Publikum bekannt macht. Verdient hätte Kazin es alle Mal. Für ein literarisch interessiertes Publikum wäre es ein Gewinn, und für den Verlag möglicherweise auch.

P.S. Die von mir ausgewählte Passage ist leider nicht in der Anthologie enthalten. Die Rechte seien zu teuer gewesen, sagte der Verlag.

Spaziergangstagebuch 5

29.12.21

Verregnete Nachtwanderung nach Offenbach.

Lange habe ich überlegt, ob ich losgehen soll. Das Wetter zeigte sich unfreundlich, immer wieder Regen. Es sind gute sieben Kilometer nach Offenbach. Stell dich nicht so an, sagte ich mir, schließlich hast du schon mal bei strömendem Regen mit dem Rad einen Alpenpass erklommen und dich dabei sehr gut, sogar euphorisch, gefühlt. Derart motiviert zog ich die Timberlands an (ich müsste sie dringend mal einfetten). Mit Regenjacke, Schal und Mütze konnte nichts passieren, zumal der Regen auch vor Kurzem aufgehört hatte. Kaum war ich aus dem Haus, später als geplant, das Telefon verlangte nach einer Ladung, fing es an zu regnen, aber nicht sehr stark. Mütze auf und los ging`s.

Ich hatte mich seit Tagen auf diesen Spaziergang gefreut, endlich war es soweit. Und gefreut habe ich mich besonders auf das Wiedersehen mit M, die in OF wohnt und kürzlich Geburtstag hatte. Meiner ist auch noch nicht so lange her. Darauf wollten wir anstoßen und Bescherung machen. Geschenke hatte ich wasserdicht verstaut.

Auf dem Festplatz tanzte ein Kran über dem Zirkus, der dort sein mächtiges Zelt aufgeschlagen hatte. Typische Musik drang nach außen. Wann war ich zum letzten Mal im Zirkus? Ich kann mich nicht erinnern. Am Röderbergweg oberhalb des Ostparks begegnete mir das Glück des Spaziergängers, und zwar in Gestalt eines Umzugkartons voller Schallplatten. Daran komm ich nicht vorbei. Der Inhalt war nicht allzu nass geworden und der Ertrag erfreulich. Zwei Alben von Police, eines von Prince, sowie eines von Spliff.* Die Achtziger grüßten. Neben dem Karton ein alter, kleiner Fernseher, bunt bemalt. Eine Hippieglotze. Hier wurde ein Jugendzimmer entrümpelt. Was andere wegschmeißen, erfreut wiederum manches Herz. Die Nacht (genau genommen war es früher Abend) hat ihren eigenen Reiz. Straßen und Hauseingänge verwandeln sich in geheimnisvolle Orte, das Leben hat sich in die Häuser zurückgezogen. Ich denke an Harry Potter, obwohl ich das nie gelesen habe. Aber ich stelle mir vor dass es bei Potters ähnlich aussieht. Am Ostbahnhof wird der Regen stärker, ich überlege die U-Bahn zu nehmen, denke an den Alpenpass und gehe weiter.

Selbst die Skyline versteckt sich im Dunst. Gefällt mir gut. Ohnehin schätze ich Photos der Skyline am meisten, wenn diese gar nicht zu sehen ist. Auch Familie Montez, Café, Club und Kunstort, wirkt verzaubert und verlockend. Ich habe Lust einzutreten, aber M wartet. Ein anderes Mal. Auch Honsel- und Osthafenbrücke zeigen sich festlich. Über die mächtige Deutschherrnbrücke rollt ein ICE stadtauswärts ins Nirgendwo. Es ist sehr dunkel am Mainweg, der Fluss flimmert. Ich gehe ganz rechts, bin dunkel gekleidet. Das kenne ich von manch nächtlicher Fahrt mit dem Rad. Oft sind andere erst im letzten Moment zu sehen. Aber es ist nicht viel Verkehr auf dem Uferweg, die Lage ist entspannt. Alle paar Meter bleibe ich stehen, um zu photographieren.

Die Nacht lässt mich nicht los. Einige Photos werden unscharf, haben aber wegen des Lichts trotzdem ihren Reiz. Ein Hotelschiff schwebt in die Kammer der Staustufe Offenbach. Die Gerbermühle in weihnachtlichem Gewand. Kurz darauf das Tor zu Offenbach, die Kaiserleibrücke. Sie wäre die kürzeste Verbindung von mir zur Nachbarstadt (Nein, ich schreibe nicht Verbotene Stadt. Offenbach-Bashing mache ich nicht mit.), aber ich hasse diese Brücke. Eine Autobahnbrücke, die zwar beidseitig einen Weg für Leute mit Rad oder Füßen bereithält, der ist aber gräßlich, ich habe es ein paar Mal versucht. Mittlerweile nehme ich gerne den Umweg über die Osthafenbrücke in Kauf, auch wenn mich das viel Zeit kostet. Gleich hinter dieser Brücke findet sich linkerhand am Mainufer ein grauer, unförmiger Klotz. Nichts deutet darauf hin, was sich hinter diesen Mauern verbergen könnte. Es ist nichts anderen als einer der berühmtesten Technoclubs der Welt, das Robert Johnson. Ein solcher Club braucht keine Transparente oder Leuchtschriften. Ich war nie drin, aber das liegt daran, dass ich ein alter Sack bin und Techno nicht meine Musik ist. Ein paar Meter weiter am Ufer der Hafen 2, ein städtischer Kulturort, gefördert von der Stadt. Konzertsaal, Kino, Café, Kneipe, Biergarten, Open-Air-Bühne, ein Lieblingsort. Viele junge Leute, die anderswo keinen Job finden, bekommen hier eine Aufgabe. Die Lichtkunst am Kohlekran, der noch in Betrieb ist, erleuchtet das Ensemble. Nachts haben sogar die einfallslosen Eigentumskisten am neuen Offenbacher Hafen ihren Reiz. An der Treppe, im Sommer ein beliebter Treffpunkt, schreibe ich M eine Nachricht, dass ich bald da bin. Vorbildlich dann ein kurzes Stück weiter die getrennten Wege für Radler und Fußgänger, auch wenn sich nicht alle dran halten. Am Mainstrand versammelten sich etliche Graugänse und Schwäne zu einem abendlichen, lauten und vielstimmigen Konzert. Kurz darauf heißt mich Offenbach willkommen.

Auf dem Wilhelmsplatz ein Grüppchen von etwa 15 Leuten, sie stehen rum, reden miteinander, keine Transparente, keine Fahnen. Aus dem Lautsprecher schallt leise „We Shall Overcome“, Querschläger. Sie dürfen hier nirgendwo rein, überall 2G. Ich gehe zu Beau d`Eau, zeige Nach- und Ausweis, bestelle ein Bier und rufe M an. Kurz darauf kommt sie, trinkt ein kleines Pils.

Sie hat für uns das Tarantino`s ausgesucht. Einverstanden. Ein etwas edlerer Italiener, weiße Tischdecken, Stoffservietten zu Alpengipfeln getürmt. Normalerweise nicht mein Fall, aber es wurde ein schöner und kulinarisch durchaus befriedigender Abend. Er begann mit einem Martini als Aperitif, dann Vor- und Hauptspeise, Lugana dazu. Später, nachdem auch dieser Gipfel bezwungen war, einen Espresso nebst Grappa. Ein weiterer folgte beim Bezahlen. Zwischendrin Bescherung zu beiderseitigem Vergnügen und Gefallen. Alles gut. Der Abend endete in Willy`s Bar. Kurz nach Mitternacht brachte mich der 103er zuverlässig und schnell fast vor die Haustür.

Spaziergangsbeute

* Die Platten mittlerweile gehört. Sie wurden pfleglich behandelt und sind in einem erstaunlich guten Zustand.

Herbstlicher Spaziergang durch die Riederwaldsiedlung

In vergangenen Zeiten verband ich den Begriff Riederwald vor allem mit Eintracht Frankfurt. Der Verein spielt allerdings schon lange nicht mehr in diesem Stadion, das nicht mal im Stadtteil Riederwald liegt, sondern im benachbarten Seckbach. Schon seit Start der Bundesliga bestreitet die Eintracht ihre Spiele im größeren Stadion im Stadtwald, das Fans noch heute Waldstadion nennen, obwohl der Name längst verkauft wurde und einer großen Bank gehört. Hier sind auch die Trainingsplätze der Fußballer und vor kurzem wurde auch die neue Geschäftsstelle im Stadtwald eröffnet, die bis dahin tatsächlich noch am Riederwald beheimatet war. Heute dient das Stadion am Riederwald noch als Trainingsgelände für den Eintracht-Nachwuchs.

Es dauerte dann auch eine lange Zeit, bis ich zum ersten Mal durch die Riederwaldsiedlung spaziert bin, obwohl ich seit Jahren quasi in der Nachbarschaft wohne. Beim ersten Mal hielt ich auch vergeblich nach dem legendären Stadion Ausschau und war enttäuscht, es nicht zu finden. Dennoch war ich beeindruckt, hatte das, was sich mir bot, nicht erwartet. Ich nahm mir vor diesen Weg künftig häufiger zu gehen. Das habe ich durchaus getan, aber immer in Begleitung. Jetzt war es wieder soweit, diesmal alleine. Es war ein perfekter Herbsttag, einer dieser Tage, die gemeint sind wenn vom Goldenen Oktober die Rede ist. Ohnehin mein Lieblingsmonat, der Oktober. Also schnürte ich nach dem, wie immer späten Frühstück, meine Schuhe und spazierte los. Es ist nicht weit. Zum Ernst-May-Platz, dann zum Bornheimer Hang, vorbei am FSV Stadion und an der U-Bahn Station Johanna-Tesch-Platz über die Straße. Schon bin ich im Riederwald.

Die 1875 in Frankfurt geborene Johanna Tesch war Sozialistin, Frauenrechtlerin und Reichstagsabgeordnete der SPD. Seit 1933 lebte sie mit ihrem Mann, auch er SPD Mitglied, zurückgezogen in der Riederwaldsiedlung. 1944 wurde sie verhaftet und im KZ Ravensbrück interniert. Dort starb sie, kurz vor ihrem 70. Geburtstag, im März 1945 an den Folgen der Haft.*

Dass ich so viele Jahre brauchte, um erstmals die Riederwaldsiedlung zu erkunden hat wohl auch damit zu tun, dass sich die Siedlung hinter der viel befahrenen und lauten Straße mit dem idyllischen Namen Am Erlenbruch gleichsam versteckt. Die Fassaden zur Straße hin grau und rußig, die Fenster blind. Man möchte dort nicht wohnen. Ein unendlicher Strom von Autos, dazu die U-Bahnen der Linien 4 und 7 , sorgen für entsprechend schlechte Luft und Krach. Aber wer sich davon nicht abhalten lässt und dieses fast schon abgeschottete Gebiet dennoch betritt, findet sich in einer unerwarteten Welt. Als erstes fällt auf, dass sich die Rückseiten dieser grauen Häuser zu einem großen und begrünten Hof wenden, Balkone überall. Das relativiert den ersten Eindruck schnell. Schon während der ersten Schritte durch die Siedlung wird deutlich, wie ungeheuer grün dieses Gebiet ist. Bäume und Wiesen überall, immer wieder kleine grüne Plätze und ein großer Spielplatz. Nicht umsonst wird auch von der Gartensiedlung Riederwald gesprochen. Gegründet wurde sie 1910 als Arbeitersiedlung. Etliche der Bewohner arbeiteten beim nahe gelegenen Güterbahnhof. *

Bald fällt auch das erste typische Siedlungshaus auf mit seinem markanten Mansardendach. Eine Dachform, die sich durchzieht. Robuste, charaktervolle Häuser, ohne Balkone aber immer umgeben von Wiesen, Gärten, Wäschespinnen und mächtigen Bäumen. Nach ein paar Minuten fällt ein weiteres Charakteristikum dieser Siedlung auf, die Stille. Zunächst hatte ich sie „überhört“ aber dann wurde sie auffallend und natürlich sehr angenehm. Es gibt keinen Durchgangsverkehr, auch aus den Häusern dringt kein Laut nach draußen, als wollten diese Gebäude ihre Geheimnisse für sich bewahren, wie dem ersten Eindruck nach der gesamte Stadtteil. In der Schäfflestraße öffnet sich diese ruhige Wohngegend durch ein Torhaus der Umgebung. Das Kerngebiet der Siedlung, das von diesen Bauten dominiert wird, steht heute unter Denkmalschutz. Die Siedlung in der Friedrich-Liszt-Straße weiter östlich wurde Mitte der zehner Jahre von Christoph Mäckler saniert und umgebaut. Hier nun Balkone und Terrassen und natürlich auch wieder Gärten. Das Ensemble fügt sich gut in die Umgebung und ist mit einigen Reihenhäusern von Ernst May in bester Gesellschaft. Am östlichen Ende des Gebiets überspannt seit kurzem eine Fahrrad- und Fußgängerbrücke die Gleise des Güterbahnhofs. Sie endet an der Hanauer Landstraße. Dort mündet die Carl-Benz-Straße, die ausgeschilderte Radverbindung nach Offenbach. Für mich der direkteste und schnellste Weg in die Nachbarstadt. Eine sehr angenehme Wohngegend also, allerdings hat auch sie ihre Nachteile. Wer ein Bier trinken gehen will oder einkaufen muss, muss woanders hinfahren, ins Ostend oder nach Bornheim. Beides ist nicht weit.

Ich verlasse die Riederwaldsiedlung, vorbei am Gelände eines Geflügelzuchtvereins, einem türkischen Kulturverein sowie einer Kleingartensiedlung. Ein stolzer Hahn begrüßt mich. Der Wald, der so heißt wie die Siedlung, zeigt sich in herbstlicher Vielfalt. Ich folge dem ausgeschilderten, teilweise abenteuerlichen Radweg in Richtung Ostbahnhof, immer wieder erstaunt, wie die Radverbindungen in Frankfurt mittlerweile ausgeschildert sind, und lande, nach der Unterquerung der Autobahnbrücke, im Ostpark. Ich drehe noch eine halbe Runde. Bis vor einigen Jahren herrschte in diesem Park noch eine regelrechte Plage mit Nilgänsen. Wege und Wiesen waren verdreckt, es waren einfach viel zu viele. Irgendwie wurde es geschafft, die Tiere von hier zu vertreiben, so dass heute nur Graugänse zu sehen sind. Voller Eindrücke schlendere ich durch das Ostend nach Bornheim, quere vorher jedoch das Viertel rund um den Parlamentsplatz oberhalb des Ostparks. Grzimek soll hier irgendwo gewohnt haben. Nach 7.5 km war ich wieder zuhause. Ein schöner Spaziergang, vielleicht auch, weil die Eintracht am Vortag mit 1:2 bei Bayern München gewonnen hatte.

*alle Informationen aus dem Internet.

Spazieren an einem herrlichen Herbsttag

Jahrelang habe ich das Quartier zwischen Ostpark und Wittelsbacherallee, rund um den Parlamentsplatz, im Frankfurter Ostend buchstäblich links liegen gelassen, obwohl es zu meiner unmittelbaren Nachbarschaft zählt. Meine regelmäßigen und häufigen Wege führten mich immer in die andere Richtung, zum Günthersburgpark oder in das Nordend, gelegentlich auch durch die Berger Straße, aber immer Richtung Innenstadt. Bis ich vor einigen Monaten erstmals durch diese bisherige Terra Incognita spazierte. Es gefiel mir, unspektakulär, eine ruhige Wohngegend mit dem einen oder anderen interessanten Gebäude. Mein Frankfurt ist durch diesen Spaziergang etwas größer geworden.

Eigentlich hatte ich Lust auf einen faulen Tag zuhause, mit Lesen, Musik hören, Kochen. Das Wetter machte mir jedoch einen Strich durch die Rechnung. Der Tag empfing mich mit herrlichstem Herbstwetter, Sonne, strahlend blauer Himmel, klare Luft, recht kühl. Das lies mir keine Wahl, Schuhe schnüren, herumgehen, Kopf lüften. Nach wenigen Minuten spazierte ich zum zweiten Mal in diesem Jahr durch die Gagernstraße im Ostend. Auffallend die breiten Gehwege, ist in Fankfurt ja nicht allzu oft anzutreffen. Es waren nur sehr wenige Passanten unterwegs, ich konnte problemlos auf die Maske verzichten. Auch Autos störten kaum die Ruhe. Ich genoss die Stille und betrachtete die teilweise recht schmucken Häuser. Hinter dem unscheinbaren Parlamentsplatz wandte ich mich nach links, bei nächster Gelegenheit wieder nach rechts. Wenn ich irgendwo gerne wohnen würde, dann am Röderbergweg im Frankfurter Ostend und zwar in vorderster Reihe. Grzimek soll hier irgendwo gewohnt haben. Der Blick ist sensationell.

Blick nach Nord-Westen

Nach Süd-Osten schweift der Blick, über Offenbach und Hanau, bis zum Odenwald. Im Nord-Westen ist am Horizont der Stadtwald auszumachen und dort ragt tatsächlich der neue Goetheturm aus den Wipfeln. Dieses wahre Frankfurter Wahrzeichen, das von Idioten abgefackelt wurde und jetzt endlich wieder nachgebaut ist. Mein Frankfurt ist wieder komplett. Und an den alten Turm habe ich noch reichlich Kindheitserinnerungen, die kann mir niemand abfackeln. Selbst den Geruch nach Harz und Holz habe ich noch im olfaktorischen Gedächtnis. Das allerdings wird der neue nicht können, noch nicht. Ich muss ihn mir auf jeden Fall bald aus der Nähe ansehen. Und dort, am Röderbergweg, habe ich ihn erstmals wieder gesehen. Mein Herz hüpfte vor Freude.

Immer der Nase nach, durch bislang unbekanntes Gebiet, vorbei an der schönen, mir bislang aber unbekannten Luxemburgerallee, landete ich bald am Ostbahnhof.

Luxemburgerallee

Und dort, ich hatte davon gelesen und natürlich wieder vergessen, eine Wagenburg. Alte Camping- und Bauwagen standen dicht gedrängt am Bahndamm. Unmittelbar fühlte ich mich nach Berlin und Kreuzberg zurückversetzt. Das wurde verstärkt durch Transparente mit dem Besetzerzeichen und vertrauten Forderungen „Frankfurt besetzen“. Außerdem „Ihr baut Mist“ (o.s.ä.). Angesichts der benachbarten Neubauten eine nachvollziehbare Bemerkung. Ich war begeistert von meinem Spaziergang, hatte so viel Neues gesehen in kurzer Zeit.

Wagenburg

Weiter zum Main. An der Osthafenbrücke wieder der Goetheturm, jetzt etwas größer.

Osthafenbrücke mit Goetheturm

Auch am Mainufer war es kein Problem auf die Maske zu verzichten, es waren nur wenige Leute unterwegs. Ich spazierte der untergehenden Sonne entgegen und konnte mich nicht satt sehen am Licht und den herbstlich leuchtenden Bäumen.

Mainufer

Auf der gegenüberliegenden Mainseite das Literaturhaus Frankfurt, dahinter der Schwesternwohnturm des Hospitals zum Heiligen Geist, der das Literaturhaus fast erdrückt. Dieses, tatsächlich unansehnliche, Gebäude hat mich dazu gebracht, über Hässlichkeit in der Stadt nachzudenken. Meinen früheren, spontanen Gedanken ABREISSEN! überdenke ich mittlerweile. Ich habe gelernt, dass auch diesen Gebäuden mit Respekt begegnet werden muss. Stadt braucht Hässlichkeit. Vielleicht irgendwann mehr dazu.

Literaturhaus mit Turm des Hl. Geist Hospitals

Weiter am Main, die Skyline bestimmt das Bild. Ich wechsle jedoch über die Alte Brücke auf die andere Seite, von Dribbdebach nach Hibbdebach. Dort steht sie wieder, am angestammten Platz, die Statue Karls des Großen, in Sandstein. Es handelt sich um eine Kopie, das Original befindet ich im wunderbaren Historischen Museum. Der Original-Karl ist wohl auch noch im Besitz eines Schwerts, was der Doppelgänger nicht von sich behaupten kann. Das Schwert, das Karl auf der Brücke stolz und auch durchaus Respekt fordernd, himmelwärts richtete, war wohl ein beliebtes Souvenir. Daher wurde der Kaiser regelmäßig entwaffnet, letztmals im August 2020. Und so steht er da, der stolze Kaiser, ähnlich dem Ritter der Traurigen Gestalt, als „Karl ohne Schwert“ (Michael Quast).

Karl ohne Schwert

Durch die Wallanlagen spaziere ich zurück gen Bornheim, den Kopf voller Bilder und Gedanken, und erstmals in den zwanzig Jahren, die ich jetzt hier lebe, denke ich, wie interessant, abwechslungsreich, spannend und durchaus aufregend diese kleine Stadt doch sein kann.

Wallanlage

In Bornheim ging ich in meiner Kneipe ein Bier trinken (ich darf das, ich arbeite da und habe einen Schlüssel) und blickte auf einen wundervollen Tag zurück.

Ein schöner Tag

Ein Spaziergang

Wie immer donnerstags verlasse ich am frühen Nachmittag Schreibtisch und Laptop, ziehe bequeme Schuhe an und begebe mich auf einen Spaziergang in Richtung Innenstadt. Ein Ritual, das ich gelegentlich auch am Samstag wiederhole. „Schuhe schnüren, herumgehen, Kopf lüften“ teile ich der Welt via Twitter mit. An diesen beiden Tagen traue ich mich die Konstablerwache zu betreten, diesen Vorhof zur Hölle, auch Zeil genannt. Dann erwacht dieser Platz, diese innerstädtische Ödnis, zu turbulentem Leben. Ungezählte Menschen drängen sich unter den bunten Schirmen des Erzeugermarkts mit seinen verlockenden regionalen Angeboten. Kräuter, frisches Obst und Gemüse, Fisch, Fleisch, Geflügel, unzählige Wurst- und Käsesorten, Backwaren aus handwerklicher Produktion und in unübersichtlicher Vielfalt finden sich neben den eng belagerten Ständen mit Säften, Wein, Bier und selbstverständlich Apfelwein. Sie verweilen, kaufen ein, essen Bratwürste oder Handkäs, belagern die vielen Stehtische, trinken ihren Schoppen und sorgen für ein lebhaftes Stimmengewirr. Ganz Frankfurt ist dort anzutreffen, besonders samstags. Bei gutem Wetter kann es qualvoll eng sein. Dass an diesen Tagen die Konstablerwache mehr oder weniger unsichtbar wird, ist ein willkommener Nebeneffekt des geselligen Treibens. Wer Frankfurt kennenlernen will, sollte den Erzeugermarkt besuchen. Hier ist der Querschnitt der einheimischen Bevölkerung versammelt. Aber fangen wir oben an.

Die Berger Straße

Ich gehe die Berger Straße stadteinwärts, diese Einkaufs- und Vergnügungsstraße, die im ständigen Wandel begriffen ist. Moden und Trends hinterlassen auf der Berger stets ihre Spuren. Oft sind diese nach kurzer Zeit auch wieder passé. Gewachsene Traditionen sind dort kaum zu finden, sieht man mal von der alteingesessenen Apfelweinwirtschaft Solzer im oberen Abschnitt der Straße ab. Das ehrwürdige Wirtshaus Zur Sonne wurde verkauft. Nach Monaten der Ungewissheit hat es unlängst mit neuen Inhabern wieder geöffnet. Eine gute Nachricht. Das Gebäude des ehemaligen Elektrokaufhauses wurde komplett umgestaltet und mit einem anderen Angebot und unter anderem Namen neu eröffnet. Berger-Village haben sich die Marketingleute ausgedacht, vielleicht in Anlehnung an den Stadtteil, den etliche Frankfurter auch heute noch als das „Lustige Dorf“ bezeichnen. Das Aus für „Saturn-Hansa“ bedeutete auch das Aus für einige Einzelhändler, die vom Einzugsgebiet des Elektromarkts profitierten. Anderorts herrscht allerdings jahrelanger Stillstand. In der oberen Berger Straße bietet die Brache, an der einst die Kultgaststätte Klabunt beheimatet war, nun Insekten, Vögeln und anderem Getier eine willkommene Heimat. Das Klabunt musste weichen, weil dort ein „Quartiersparkhaus mit Einkaufsmarkt und Wohnungen“ entstehen sollte. Diese Pläne wurden mit dem Ableben des Investors Gaumer beerdigt. Mittlerweile ist zu lesen, dass im Jahr 2020 mit der Bebauung des Geländes begonnen werden soll.

Fußgänger habe es schwer auf der oberen, sehr engen Berger Straße. Die Gehwege sind schmal und der Autoverkehr, der sich durchzwängt, tut ein Übriges. Man fragt sich, weshalb dort überhaupt Autos fahren dürfen. Das ist aber nicht nur ein Problem der Berger Straße. Sind die Gehwege in Frankfurt mal breit genug, um zum Spazieren einzuladen, werden sie oft durch quer parkende Autos zugestellt.

Ich gehe weiter. In immer kürzer werdenden Abständen kauern Menschen auf dem Gehweg und halten den Passanten leere Pappbecher mit der Bitte um etwas Kleingeld hin. Meist werfe ich ein paar Münzen in eines der zerknitterten Behältnisse. Andere durchstöbern Mülleimer während missionarisch gesinnte Zeugen Jehovas erbauliche Schriften feilbielen. Wäre ich gläubig, würde ich Gott danken, gesunde Beine zu haben und unbeschwert gehen zu können. Ein Geschenk.

Bubble-Tea und andere Kuriositäten

Längst vorbei ist einer der kuriosesten Trends der letzten Jahre, der sich natürlich auch auf der Berger Straße manifestierte. Wie eine Seifenblase geplatzt ist der Bubble-Tea-Boom – und das macht ja ein wenig Hoffnung. Mittlerweile werden die Läden von Nagelstudios, Waffelbäckereien und anderen seltsamen Angeboten genutzt. So versucht seit Kurzem ein merkwürdiges Geschäft sein Glück. Geneigte Passanten können sich dort für drei Minuten auf minus 150 Grad Celsius abkühlen lassen, „ohne Schwitzen und ohne Duschen“. Angeblich soll das dazu führen, überflüssige Kalorien zu verbrennen. Ob das eine gute Geschäftsidee ist, wird sich zeigen. Kundschaft habe ich dort noch keine gesehen. Erfolgreicher ist allerdings ein anderer ungewöhnlicher Laden einige Meter weiter, in dem man „Schwarzlicht-Minigolf“ spielen kann. Die Bediensteten tragen neonbunte T-Shirts und haben gut zu tun. Ich bevorzuge jedoch Bewegung an der frischen Luft wie regelmäßiges Gehen, auch wenn ich dabei gelegentlich ins Schwitzen komme.

Südlich der Höhenstraße wird es vorwiegend gastronomisch. Das Angebot ist abwechslungsreich wenn auch oft nur kurzlebig. Fast schon im Wochenrythmus öffnen und schließen entsprechende Betriebe unterschiedlichster Ausrichtung. Vegetarische, vegane und Rohkost-Restaurants wechseln sich ab mit Currywurstbuden, Pizzerien, Ökobäckern, Cafés, Buchhandlungen, Steakhäusern, Burger-Bratereien und Weinhändlern. Ein neu eröffneter Laden, der sich auf Donuts spezialisiert hat, ist offensichtlich, und zu meiner Verwunderung, sehr erfolgreich. Regelmäßig belagern vorwiegend junge Leute in Dreierreihen den Laden und tragen mit glücklichen Gesichtern die süße Beute in bunten Kartons davon. Manche setzten sich auch an die Bänke vor dem Laden und vertilgen die klebrigen Zuckerkringel gleich vor Ort. Freitagabends lädt eine Buchhandlung mit dem pragmatischen Namen Buch & Wein zum „Betreuten Trinken“ in ein ehemaliges Fotostudio im Hinterhaus. Für den Spaziergänger also genügend Möglichkeiten, eine Pause einzulegen und die müden Beine zu schonen.

Ich lasse mich jedoch nicht beirren, gehe weiter und erreiche den Merianplatz. Da steht dann dieses Ding. Auf den ersten Blick erschließt sich sein Zweck nicht. Das Ding sieht aus wie ein – ja was? Ein Zylinder, ein Kolben, irgendwas aus einem Automotor, nur viel größer. Aber ich kenne mich nicht aus mit Automotoren. Beim Näherkommen erkennt man Wasser, das träge und lustlos die glatte, grafittiverzierte Edelstahlhaut hinabrinnt. Obendrauf hocken Tauben und nehmen ein Fußbad. Aha, ein Brunnen. Frankfurt ist kein guter Ort für Kunst im öffentlichen Raum. Neuerdings hat der Brunnen Gesellschaft bekommen, die moderne Ausführung einer Litfassäule, die den Brunnen um einiges überragt, wurde ihm zur Seite gestellt. Er scheint sich nun dahinter verschämt zu verstecken. Anwohner haben sich schon beschwert über den Werbeträger, er würde den Blick auf den Merianplatz behindern, dabei versteckt er nur dieses silberne Ding. Der den Platz dominierende, achteckeckige, flache Bau, der einst als öffentliches Badehaus diente, beherbergt jetzt ein Lokal, das Kupferstecher heißt und eine etwas edlere Umgebung bietet, was sich auch an den Preisen ablesen lässt. Dennoch bewegt sich alles noch im vertretbaren Bereich. Ein gastronomischer Betrieb wurde also durch einen anderen ersetzt, der übliche Lauf der Dinge auf der Berger Straße.Zwei öffentliche Duschräume stehen allerdings weiterhin zur Verfügung.

Auf zur Konsti

Weiter geht`s in Richtung Konstablerwache. Vor dem Schaufenster der Buchhandlung Ypsilon bleibe ich stehen und betrachte die Auslage. Ein paar Meter weiter, am Anlagenring schaue ich nach rechts zum ummauerten Bethmannpark mit seinem Chinesischen Garten. Der Pavillon dort fiel 2017 einem oder mehreren Brandstiftern zum Opfer. Dieses Schicksal teilt er mit vielen anderen Holzbauten der Stadt, darunter das wahre Wahrzeichen Frankfurts, der Goetheturm im Stadtwald. Der oder die Täter sind bis heute nicht gefasst. Das Gebäude wurde von chinesischen Fachleuten rekonstruiert und im November 2019 wieder eröffnet.

Ich gehe nach links zum Anlagenring, vorbei an einem Weiher, der diverse Wasservögel angelockt hat, und kreuze die Grünanlage. Radfahrer und Fußgänger kommen mir entgegen. Auf einer schattigen Bank sitzen Männer und Frauen mit Bierbüchsen in der Hand. Im Gerichtsviertel kurz vor der Zeil fällt ein heruntergekommenes Gebäude mit vergitterten Fenstern auf, das von einer bunt bepinselten hohen Mauer umgeben ist. Das Klapperfeld, ein ehemaliges Gestapo- und Polizeigefängnis, das seit einigen Jahren einem, natürlich umstrittenen, linksautonomen Zentrum Räume bietet. Die überaus sehenswerte Ausstellung zur Geschichte des Gefängnisses, die der Trägerverein des Klapperfeldes erarbeitet hat, kann samstags ab 15 Uhr besichtigt werden. Eintritt frei, Spende willkommen.

Gelegentlich wende ich mich auch nach rechts zur stark befahrenen Kurt-Schumacher-Straße, um über die kleine Große-Friedberger-Straße von Norden her zur Konstablerwache zu gelangen. Bei meinen Gängen vermeide ich es auf dem Hin-und Rückweg die selben Wege zu beschreiten, denn das mindert die Aufmerksamkeit. Und ist es nicht einer der schönsten Aspekte beim Gehen, Dinge zu entdecken, die anders dem Auge verborgen geblieben wären?

Wie gesagt, es ist Donnerstag, also Markttag. Bald habe ich das erste Ziel meines Spazierganges erreicht, den Erzeugermarkt auf der Konstablerwache. Noch ist genug Platz an den Ständen, erst ab 17 Uhr füllen sie sich mit Angestellten aus den umliegenden Bürohäusern, die hier ihren Feierabend einläuten. Ich esse eine Bio-Bratwurst aus der Rhön und trinke einen Schoppen. Derweil spuckt die Zeil fröhliche junge Menschen auf die Konstabler, die bepackt sind mit braunen Papiertaschen voller Billigklamotten. Auf der Kurt-Schumacher-Straße rauscht vierspurig der Verkehr vorbei. Unweit wurde auf dieser Straße im Sommer 2018 ein Radfahrer von einem LKW getötet. Dieser und einige andere Todesfälle von Radfahrern in Frankfurt sowie der unerwartet erfolgreiche Radentscheid, haben zu einem behutsamen Umdenken in der Frankfurter Verkehrspolitik geführt. Jetzt fallen die roten Radstreifen auf, die in jeder Richtung in einer akzeptablen Breite angelegt wurden. Die Autofahrer mussten dafür eine Spur abtreten. Diese Umverteilung der Verkehrsflächen muss dringend weitergehen.

Am Main

Gestärkt setze ich meinen Weg fort, es zieht mich an den Main. Am Römerberg, dieser Fotokulisse, wird geheiratet, musiziert, geschaustellert und salzgesäult. Von dort zieht es die Besucherschar weiter zur teilweise rekonstruierten Neuen Altstadt, einem Quartier, das hauptsächlich von Touristen aus der ganzen Welt bevölkert wird. Ich mache es wie die meisten Frankfurter, lasse die Altstadt links liegen und gehe statt dessen weiter in Richtung Eiserner Steg.

Dem neuen Historischen Museum, zwischen Römer und Main gelegen, ist ein anderes Schicksal als der Neuen Altstadt widerfahren. Aufgrund seiner sehr gelungenen Architektur, der interessanten und vielfältigen Ausstellungen wird es von den Frankfurtern angenommen. Dieses Museum ist ein Schmuckstück und eine Bereicherung für die Stadt, die an gelungener neuer Architektur nicht gerade allzu viel vorzuweisen hat.

Der Eiserne Steg trägt schwer an tausenden von sogenannten Liebesschlössern, diesem Unfug, der sich überall breitmacht und niemanden so erfreut wie die Schlosser-Innung. Würden sich all diese Liebesbeweise selbsttätig öffnen und in den Main versenken, wenn die ewige Liebe doch nicht so ewig war, dann wäre das Frankfurter Wahrzeichen weniger entstellt. Die Passanten scheint das nicht zu stören, es wird auf Teufel komm raus musiziert, fotografiert und geknutscht. Eine Zwanzigjährige nutzt den Aufzug, um sich das Treppensteigen zu ersparen.

Ich nehme die Treppe, bahne mir einen Weg durch die Menschenmenge und spaziere am Sachsenhäuser Ufer entlang in Richtung Maincafé. Zum Glück ist Donnerstag. An sonnigen Wochenenden ist das Mainufer bevölkert von tausenden Radlern, Joggern, Skatern, Spaziergängern und Hunden und ein Durchkommen wird fast unmöglich. An solchen Tagen gilt es den Uferweg zu meiden. Aber es ist Werktag und so finde ich einen Sitzplatz im Maincafé, diesem vielleicht schönsten Ort der Stadt. Ich trinke einen Kaffee und schaue der Skyline beim Wachsen zu. Jogger, Radfahrer und Spaziergänger kreuzen meinen Blick. Es ist noch nicht allzu lange her, dass das Mainufer von der Stadt wiederentdeckt und den Menschen zugänglich gemacht wurde. Über Jahrzehnte diente es vorwiegend als Parkplatz.

Diese neue Qualität ist natürlich auch Investoren nicht verborgen geblieben, die nun versuchen, für eine zahlungsfreudige Klientel am Mainufer Luxusimmobilien zu errichten. Östlich der Untermainbrücke, in zentraler Lage, fällt ein bunkerartiges, je nach Licht graues oder sandfarbenes Edelquartier auf, das von einem Sechzigmeterturm überragt wird. Völlig ironiefrei wurde das Ensemble auf Maintor getauft, obwohl es genau das Gegenteil dessen tut, was ein Tor gemeinhin macht, nämlich sich zu etwas zu öffnen. Das Maintor jedoch ist eine massive Barriere zwischen Fluss und Stadt. Die dort wohnenden „Kosmopoliten“ wird es nicht stören, solange es in der Tiefgarage einen Platz für den SUV gibt. Mit dem gemeinen Volk am Mainufer hat man eh nichts am Hut.

Dieses graue „Maintor“ liegt am Mainkai, jener zweispurigen Uferstraße, die Ende Juli 2019 „für den Rad- und Fußverkehr geöffnet“ wurde, sprich, für den Autoverkehr gesperrt. Für ein Jahr sollte getestet und Daten gesammelt werden, wie sich das auf den Verkehr in der Stadt auswirkt, für den Autoverkehr muss einschränkend gesagt werden. Abgesehen davon, dass die Maßnahme miserabel vorbereitet wurde, ist das natürlich eine gute Idee und kann nur ein erster Schritt sein auf dem Weg zu einer weitgehend autofreien Stadt. Aber es hat nicht gereicht, die Straße einfach nur mit Betonquadern zu sperren, und sonst aber alles sich selbst zu überlassen. Passanten und Radfahrende sind nach wie vor lieber direkt auf dem Uferweg am Main unterwegs. Der Mainkai blieb verwaist. Nur Räder und Elektroroller waren zu sehen. Auf dem gewonnenen Freiraum wurde nichts angeboten, keine Gastronomie, keine Bänke, keine Sitznischen, keine Bühnen für Klein- und Großkunst. Nichts was die Straße zu einem Boulevard gemacht hätte, auf dem man sich gerne aufhält.

Ausgeruht mache ich mich auf den Heimweg.

Ein Spaziergang

Zwei bis dreimal in der Woche verlege ich meinen Arbeitsplatz in die Deutsche Nationalbibliothek. Ich kann dort besser arbeiten als im Heimbüro, mal ganz abgesehen von den Recherchemöglichkeiten, die die Bibliothek nun mal bietet. Bis vor einigen Wochen bin ich immer mit dem Rad dort hin gefahren. Mehr als 13 Minuten habe ich für die Strecke nicht gebraucht. Mittlerweile jedoch gehe ich zu Fuß. Das macht wach, körperlich und geistig. Oft entstehen bei diesen Gängen Ideen, die mir bei der Arbeit in der Bibliothek nützlich sind. Wichtig ist mir auch die zeitliche Distanz, die ich dadurch zwischen Frühstücks- und Schreibtisch lege. Meist fahre ich mit dem Rad zu der Kneipe, in der ich dreimal wöchentlich meine Miete verdiene. Ich stelle es im Hof ab, schnappe mir die große Stofftasche vom Bio-Supermarkt, in der ich den Laptop verstaut habe und gehe los.

Bürotasche

Ich kann zwischen unterschiedlichen Wege wählen. Die kürzeste Verbindung beträgt 2,1 km. Dafür brauche ich etwa 25 Minuten. Das ist mir allerdings zu wenig, ganz abgesehen davon, dass dieser Gang auch ziemlich langweilig ist. Für den Rückweg nutze ich immer einen anderen Weg. Da ist es auch egal, ob ich fünf oder zehn Minuten länger brauche. Beim Gehen gibt es keine Umwege. Besonders nach ein paar Stunden in der trockenen Luft im Lesesaal der Nationalbibliothek tut dieser Spaziergang besonders gut. Er bietet mir auch eine Pause zwischen den so unterschiedlichen Tätigkeiten mit Büchern und Bieren. Trotz der diversen Variationen für den regelmäßigen Gang zum Arbeitsplatz, sind mir diese mittlerweile doch allzu vertraut und bieten nur noch wenige Überraschungen.

Jetzt habe ich einen neuen Weg entdeckt, ohne Zweifel der schönste, wenn auch längste. Aber, wie gesagt, es gibt keine Umwege beim Gehen. Dieser Spaziergang führt mich zunächst durch den Günthersburgpark, dann über einen schmalen Fußweg vorbei an einem Abenteuerspielplatz und Kleingärten auf der einen Seite sowie zunächst kleinen Ein- bis Zweifamilienhäusern und später Bauten aus den 60iger Jahren auf der anderen Seite. Autos sind nur in der Ferne vernehmbar. Entspanntes Spazieren also.

Günthersburgpark
Fußweg
Abenteuerspielplatz
Kleingarten

Die letzten zwei- dreihundert Meter des Weges lege ich, die Bibliothek bereits in Sichtweite, durch den Hauptfriedhof zurück. Ich mag Friedhöfe, die Grabsteine erzählen Geschichten, nicht immer nur traurige. Ich vergleiche die Lebensdaten der Verstorbenen mit meinen eigenen oder denen meiner Freunde und Familie und versuche mir das Leben der Toten vorzustellen.

Trauriger Grabstein

Und dann steht da dieser Grabstein, der eine besonders traurige Geschichte erzählt. Zweier Frauen wird hier gedacht, wahrscheinlich Mutter und Tochter, zwei weitere Personen werden bedacht. Wer mögen Trixi und Ray wohl gewesen sein, was ist ihnen widerfahren und weshalb sind sie auf diesem Grabstein verewigt? Aber die traurigste Geschichte ist die von Gisela, von der nur eine Jahreszahl erwähnt ist. Ein sehr kurzes Leben oder tatsächlich eine noch Lebende, deren Namen und Geburtsjahr schon zu Lebzeiten in den Stein gehauen wurde, mit der Maßgabe, das noch fehlende Jahr zu gegebener Zeit nachzutragen? (Falls die Friedhofsordnung so etwas hergibt.) Diese Gedanken beschäftigen mich, wohl wissend, dass die offenen Fragen unbeantwortet bleiben werden. Aber wer weiß für was es gut sein kann? Aber halt, vielleicht wird bei Gisela eines Tages, und noch zu meinen Lebzeiten, das Rätsel gelöst und die fehlende Jahreszahl ergänzt. Dann wäre die Frage beantwortet.

Nationalbibliothek Frankfurt

Zu Fuß gehen

davMein Verkehrsmittel ist das Fahrrad. In der Stadt ist es allen anderen Fahrzeugen überlegen. Es ist schnell, leise, preiswert und hält fit. Einen Stellplatz wird man in der Regel finden, auch wenn man gelegentlich etwas suchen muss. Kurz: Radfahren ist sozial und ökologisch verträglicher Individualverkehr in Reinkultur, ganz im Gegensatz zum Autofahren. Um so unbegreiflicher ist es, dass Städte immer noch viel zu wenig unternehmen, um das Radfahren in der Stadt attraktiver und sicherer zu machen. Aber immerhin sind einige zaghafte Versuche in diese Richtung zu bemerken, wenn sie auch bei Weitem nicht ausreichen. Diese unbefriedigende Situation sorgt dafür, dass Fahrradfahren in der Stadt eines nicht ist: entspannend. Im Gegenteil, Radfahrer sind in jeder Situation gefordert, den Überblick zu behalten. Kleine Unachtsamkeiten können schwerwiegende Folgen haben, bis hin zum Tod. Durch die Natur zu radeln ist hingegen ein Vergnügen sondergleichen.

Von meiner Wohnung bis zur Nationalbibliothek, die ich regelmäßig aufsuche, brauche ich mit dem Rad ungefähr 13 Minuten. Das ist keine Entfernung, und doch bereitet mir diese kurze Strecke kein Vergnügen. Es geht, zumindest auf dem Hinweg, permanent leicht aber spürbar bergauf. Ich muss mich also ein wenig anstrengen. Und ich bin gefordert, auf den Verkehr zu achten. Wenn ich dann, nach zugegeben kurzer Fahrt, mein Ziel erreiche, bin ich, vor allem im Sommer, verschwitzt und nicht entspannt. An einigen dieser Bibliothekstage arbeite ich abends in einer Kneipe bei mir um die Ecke. Die erreiche ich von der Bibliothek aus mit dem Rad in zehn Minuten. Das ist mir eindeutig zu schnell, um zwischen diesen unterschiedlichen Welten zu pendeln. Da brauche ich einen Puffer. Gelegentlich bin ich so früh losgefahren, dass ich vor meiner Schicht noch ein paar Minuten durch die Gegend schlendern konnte. Das schuf dann wenigstens ein bißchen Distanz.

dav

Herbstlicher Günthersburgpark

Ich bin schon immer viel zu Fuß gegangen. Der donnerstägliche Gang zum Markt auf der Konstablerwache und auch wieder zurück, ist mir zu einem liebenswerten Ritual geworden, auf das ich nicht verzichten möchte. Samstags wiederhole ich das meistens auch. Fremde Städte erkunde ich bevorzugt per Pedes, ich habe kein Problem damit, stundenlang durch die Straßen zu ziehen und soviel Eindrücke wie möglich zu sammeln. Seit ich das Zufußgehen jedoch in meinen Alltag integriert habe, erreiche ich meinem Arbeitsplatz wesentlich entspannter. Auf dem Weg gehen mir irgendwelche Gedanken durch den Kopf und ich sehe Details, die mir auf dem Rad entgehen würden. Ich muss nicht ständig auf Autos achten oder Fußgänger, die gedankenlos Radwege kreuzen.

Statt dessen kann ich mich an herbstlich bunten Bäumen im Günthersburgpark erfreuen und den freundlichen Hund in der Nordendstraße begrüßen. Dort komme ich dann auch an dem legendären Lokal Größenwahn vorbei, dass seit beinahe vierzig Jahren die Frankfurter Gastronomie bereichert.dig

Nach stundenlangem Sitzen in der trockenen Luft der Bibliothek ist der Heimweg zu Fuß eine reine Wohltat. Zumal ich zwischen verschiedenen Wegen wählen kann. Ich gehe niemals den selben Weg zurück, den ich auch auf dem Hinweg genutzt habe.

Es bedurfte der Lektüre des empfehlenswerten kleinen Buches von Erling Kagge Gehen. Weiter gehen. Eine Anleitung, das 2018 im Insel Verlag erschienen ist. Der Autor berichtet u.a., wie er jeden Tag in Oslo zu Fuß zur Arbeit in seinen Verlag geht und was dieser morgendliche Gang für ihn bedeutet. Das hat mich überzeugt, es ihm gleich zu tun. Keine Ahnung, weshalb ich nicht von selbst auf diese Idee gekommen bin.

Aber jetzt ist es so und es ist gut so.

Frankfurts Neustadt

Seit dem 9. Mai 2018 ist die sog. „Neue Altstadt“ in Frankfurt für alle zugänglich. Die Bauzäune, die das Gebiet zwischen Dom und Römer jahrelang abschotteten, fielen und gaben das Areal frei. Einen Tag vor jenem 9. Mai wurde des Tages gedacht, an dem im Jahre 1945 das verbrecherische Regime seinen letzten Atemzug aushauchte, das ursächlich verantwortlich war für die Zerstörung der Frankfurter Altstadt im August 1944.

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Krönungsweg mit Dom

Jetzt steht es also an alter Stelle, jenes Ensemble, das der Stadt jährlich hunderttausende Touristen aus nah und fern bescheren wird. Ob aus dem Viertel auch ein integrierter Teil der Stadt werden wird, den die Bewohnerinnen und Bewohner annehmen, darf bezweifelt werden. Dabei hat OB Feldmann nichts anderes versprochen, als dass die bislang offenbar seelenlose Stadt Frankfurt mit dem neuen Viertel eben diese Seele zurückerhält. Ich habe daraufhin eine völlig unrepräsentative Umfrage bei Twitter durchgeführt, die ergab, dass Frankfurts Seele flüssig ist und nicht steinern. Würde man chinesischen Touristen dieselbe Frage stellen, käme sehr wahrscheinlich ein gegenteiliges Ergebnis zustande. Umfrage

Natürlich habe auch ich gestaunt, als ich das Areal durchaus neugierig betrat und durch die engen Gassen schlenderte. Es ist schon beeindruckend, mit welchem handwerklichen Geschick die Gebäude rekonstruiert wurden. Das bemerkte sogar ein Ahnungsloser wie ich, der zufrieden ist, wen er einen Nagel halbwegs gerade und ohne Verletzung in die Wand gehämmert hat.

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Durchblick

Aber auch Neubauten fallen auf. Einige stehen in wohltuendem Kontrast zu den Rekonstruktionen und lassen erahnen, was alles möglich gewesen wäre, hätte man dort moderner Architektur eine Chance gegeben.

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Sehr gelungener Neubau gegenüber der Schirn.

Dann wäre eventuell auch der Eindruck der Kulissenhaftigkeit, der sich bei mir umgehend einstellte, vermeidbar gewesen. Verstärkt wurde dieser natürlich auch dadurch, dass in das Viertel noch kein Laden und keine Gastronomie eingezogen war. Von Bewohnern ganz zu schweigen. Vielleicht ändert sich meine Einschätzung, wenn dort etwas Leben herrscht. Ich will mich gerne überraschen lassen, bin aber skeptisch.

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Moderne Kamine auf rekonstruiertem Dach

Zu verdanken haben wir diese Kulisse dem Stadtverordneten der rechtspopulistischen BFF (Bürger für Frankfurt), Wolfgang Hübner, der am 20. August 2005 mit der Idee, an diesem historischen Ort die Altstadt wiedererstehen zu lassen, in die jahrelange Diskussion einstieg. Mit Erfolg, denn wenig später nahm die schwarz-grüne Römerkoalition, unterstützt vom Verein der Altstadtfreunde, den Vorschlag gerne auf. Das war der Todesstoß für den Entwurf des Siegers im städtebaulichen Wettbewerbs von 2005. Der verantwortliche Frankfurter Architekt Jürgen Engel, der dort eine moderne Bebauung vorsah, gab auf.

Anmerkung: Lesenswert sind die Beiträge von Claus-Jürgen Göpfert zur „Neuen Altstadt“ in der Frankfurter Rundschau.

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Durchgang zur Schirn

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Neue Perspektiven am sog. „Krönungsweg“ zwischen Römer und Dom

sdr

Auch die U-Bahn wurde integriert

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Einen Stolperstein gibt es auch schon

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Kontrast zwischen Neu und Neu

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Friedrich Stoltze hat am Hühnermarkt seinen Platz gefunden

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An der Schirn wird`s eng

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Goldene Waage

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Unweit ragen die Kräne in den Himmel

Nachts an einer Kreuzung

Das Thema Warten beschäftigt mich momentan besonders und in diesem Zusammenhang musste ich an eine kleine Begebenheit denken, die mir irgendwann im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts widerfahren ist..

Ich fuhr gegen zwei, drei Uhr in einer Sommernacht mit dem Fahrrad von Prenzlauer Berg zurück nach Hause in Kreuzberg. Die Ampel an der Kreuzung Friedrichstraße / Unter den Linden zeigte Rot. Weit und breit war kein Auto unterwegs und jeder andere Radfahrer hätte die Kreuzung trotz roter Ampel überquert. Ich blieb stehen. Anders als die meisten Radfahrer bleibe ich oft stehen, wenn eine Ampel Rot zeigt, selbst wenn ein völlig gefahrloses Weiterfahren möglich wäre. So eilig habe ich es meist nicht und genieße diesen Moment des Innehaltens und der Entschleunigung. Ich schau mir die Gegend an oder die Gesichter in den Autos um mich herum.

In dieser Nacht an der Kreuzung in Berlin-Mitte hielt dann ein Polizeiauto neben mir. Die Polizistin auf dem Beifahrersitz sprach mich an und sagte: „Eigentlich müssten wir Ihnen jetzt zehn Euro geben.“ Ich schaute verdutzt und sie fuhr fort: „Sie bleiben mitten in der Nacht an einer roten Ampel stehen und das Licht geht auch. Sowas sehen wir nicht oft.“ Zehn Euro wären wohl der Tarif, wenn ich die Ampel regelwidrig überfahren hätte. Ich erwähnte noch, dass ich viel Wert auf ein funktionierendes Fahrrad legen würde. Der männliche Kollege am Steuer ergänzte abschließend: „Wahrscheinlich ist das Rad geklaut.“ Irgendein Haar in der Suppe musste doch zu finden sein.

Wir lachten, die Ampel schaltete auf Grün und ich fuhr weiter Richtung Kreuzberg.