Herbstlicher Spaziergang durch die Riederwaldsiedlung

In vergangenen Zeiten verband ich den Begriff Riederwald vor allem mit Eintracht Frankfurt. Der Verein spielt allerdings schon lange nicht mehr in diesem Stadion, das nicht mal im Stadtteil Riederwald liegt, sondern im benachbarten Seckbach. Schon seit Start der Bundesliga bestreitet die Eintracht ihre Spiele im größeren Stadion im Stadtwald, das Fans noch heute Waldstadion nennen, obwohl der Name längst verkauft wurde und einer großen Bank gehört. Hier sind auch die Trainingsplätze der Fußballer und vor kurzem wurde auch die neue Geschäftsstelle im Stadtwald eröffnet, die bis dahin tatsächlich noch am Riederwald beheimatet war. Heute dient das Stadion am Riederwald noch als Trainingsgelände für den Eintracht-Nachwuchs.

Es dauerte dann auch eine lange Zeit, bis ich zum ersten Mal durch die Riederwaldsiedlung spaziert bin, obwohl ich seit Jahren quasi in der Nachbarschaft wohne. Beim ersten Mal hielt ich auch vergeblich nach dem legendären Stadion Ausschau und war enttäuscht, es nicht zu finden. Dennoch war ich beeindruckt, hatte das, was sich mir bot, nicht erwartet. Ich nahm mir vor diesen Weg künftig häufiger zu gehen. Das habe ich durchaus getan, aber immer in Begleitung. Jetzt war es wieder soweit, diesmal alleine. Es war ein perfekter Herbsttag, einer dieser Tage, die gemeint sind wenn vom Goldenen Oktober die Rede ist. Ohnehin mein Lieblingsmonat, der Oktober. Also schnürte ich nach dem, wie immer späten Frühstück, meine Schuhe und spazierte los. Es ist nicht weit. Zum Ernst-May-Platz, dann zum Bornheimer Hang, vorbei am FSV Stadion und an der U-Bahn Station Johanna-Tesch-Platz über die Straße. Schon bin ich im Riederwald.

Die 1875 in Frankfurt geborene Johanna Tesch war Sozialistin, Frauenrechtlerin und Reichstagsabgeordnete der SPD. Seit 1933 lebte sie mit ihrem Mann, auch er SPD Mitglied, zurückgezogen in der Riederwaldsiedlung. 1944 wurde sie verhaftet und im KZ Ravensbrück interniert. Dort starb sie, kurz vor ihrem 70. Geburtstag, im März 1945 an den Folgen der Haft.*

Dass ich so viele Jahre brauchte, um erstmals die Riederwaldsiedlung zu erkunden hat wohl auch damit zu tun, dass sich die Siedlung hinter der viel befahrenen und lauten Straße mit dem idyllischen Namen Am Erlenbruch gleichsam versteckt. Die Fassaden zur Straße hin grau und rußig, die Fenster blind. Man möchte dort nicht wohnen. Ein unendlicher Strom von Autos, dazu die U-Bahnen der Linien 4 und 7 , sorgen für entsprechend schlechte Luft und Krach. Aber wer sich davon nicht abhalten lässt und dieses fast schon abgeschottete Gebiet dennoch betritt, findet sich in einer unerwarteten Welt. Als erstes fällt auf, dass sich die Rückseiten dieser grauen Häuser zu einem großen und begrünten Hof wenden, Balkone überall. Das relativiert den ersten Eindruck schnell. Schon während der ersten Schritte durch die Siedlung wird deutlich, wie ungeheuer grün dieses Gebiet ist. Bäume und Wiesen überall, immer wieder kleine grüne Plätze und ein großer Spielplatz. Nicht umsonst wird auch von der Gartensiedlung Riederwald gesprochen. Gegründet wurde sie 1910 als Arbeitersiedlung. Etliche der Bewohner arbeiteten beim nahe gelegenen Güterbahnhof. *

Bald fällt auch das erste typische Siedlungshaus auf mit seinem markanten Mansardendach. Eine Dachform, die sich durchzieht. Robuste, charaktervolle Häuser, ohne Balkone aber immer umgeben von Wiesen, Gärten, Wäschespinnen und mächtigen Bäumen. Nach ein paar Minuten fällt ein weiteres Charakteristikum dieser Siedlung auf, die Stille. Zunächst hatte ich sie „überhört“ aber dann wurde sie auffallend und natürlich sehr angenehm. Es gibt keinen Durchgangsverkehr, auch aus den Häusern dringt kein Laut nach draußen, als wollten diese Gebäude ihre Geheimnisse für sich bewahren, wie dem ersten Eindruck nach der gesamte Stadtteil. In der Schäfflestraße öffnet sich diese ruhige Wohngegend durch ein Torhaus der Umgebung. Das Kerngebiet der Siedlung, das von diesen Bauten dominiert wird, steht heute unter Denkmalschutz. Die Siedlung in der Friedrich-Liszt-Straße weiter östlich wurde Mitte der zehner Jahre von Christoph Mäckler saniert und umgebaut. Hier nun Balkone und Terrassen und natürlich auch wieder Gärten. Das Ensemble fügt sich gut in die Umgebung und ist mit einigen Reihenhäusern von Ernst May in bester Gesellschaft. Am östlichen Ende des Gebiets überspannt seit kurzem eine Fahrrad- und Fußgängerbrücke die Gleise des Güterbahnhofs. Sie endet an der Hanauer Landstraße. Dort mündet die Carl-Benz-Straße, die ausgeschilderte Radverbindung nach Offenbach. Für mich der direkteste und schnellste Weg in die Nachbarstadt. Eine sehr angenehme Wohngegend also, allerdings hat auch sie ihre Nachteile. Wer ein Bier trinken gehen will oder einkaufen muss, muss woanders hinfahren, ins Ostend oder nach Bornheim. Beides ist nicht weit.

Ich verlasse die Riederwaldsiedlung, vorbei am Gelände eines Geflügelzuchtvereins, einem türkischen Kulturverein sowie einer Kleingartensiedlung. Ein stolzer Hahn begrüßt mich. Der Wald, der so heißt wie die Siedlung, zeigt sich in herbstlicher Vielfalt. Ich folge dem ausgeschilderten, teilweise abenteuerlichen Radweg in Richtung Ostbahnhof, immer wieder erstaunt, wie die Radverbindungen in Frankfurt mittlerweile ausgeschildert sind, und lande, nach der Unterquerung der Autobahnbrücke, im Ostpark. Ich drehe noch eine halbe Runde. Bis vor einigen Jahren herrschte in diesem Park noch eine regelrechte Plage mit Nilgänsen. Wege und Wiesen waren verdreckt, es waren einfach viel zu viele. Irgendwie wurde es geschafft, die Tiere von hier zu vertreiben, so dass heute nur Graugänse zu sehen sind. Voller Eindrücke schlendere ich durch das Ostend nach Bornheim, quere vorher jedoch das Viertel rund um den Parlamentsplatz oberhalb des Ostparks. Grzimek soll hier irgendwo gewohnt haben. Nach 7.5 km war ich wieder zuhause. Ein schöner Spaziergang, vielleicht auch, weil die Eintracht am Vortag mit 1:2 bei Bayern München gewonnen hatte.

*alle Informationen aus dem Internet.

Spazieren an einem herrlichen Herbsttag

Jahrelang habe ich das Quartier zwischen Ostpark und Wittelsbacherallee, rund um den Parlamentsplatz, im Frankfurter Ostend buchstäblich links liegen gelassen, obwohl es zu meiner unmittelbaren Nachbarschaft zählt. Meine regelmäßigen und häufigen Wege führten mich immer in die andere Richtung, zum Günthersburgpark oder in das Nordend, gelegentlich auch durch die Berger Straße, aber immer Richtung Innenstadt. Bis ich vor einigen Monaten erstmals durch diese bisherige Terra Incognita spazierte. Es gefiel mir, unspektakulär, eine ruhige Wohngegend mit dem einen oder anderen interessanten Gebäude. Mein Frankfurt ist durch diesen Spaziergang etwas größer geworden.

Eigentlich hatte ich Lust auf einen faulen Tag zuhause, mit Lesen, Musik hören, Kochen. Das Wetter machte mir jedoch einen Strich durch die Rechnung. Der Tag empfing mich mit herrlichstem Herbstwetter, Sonne, strahlend blauer Himmel, klare Luft, recht kühl. Das lies mir keine Wahl, Schuhe schnüren, herumgehen, Kopf lüften. Nach wenigen Minuten spazierte ich zum zweiten Mal in diesem Jahr durch die Gagernstraße im Ostend. Auffallend die breiten Gehwege, ist in Fankfurt ja nicht allzu oft anzutreffen. Es waren nur sehr wenige Passanten unterwegs, ich konnte problemlos auf die Maske verzichten. Auch Autos störten kaum die Ruhe. Ich genoss die Stille und betrachtete die teilweise recht schmucken Häuser. Hinter dem unscheinbaren Parlamentsplatz wandte ich mich nach links, bei nächster Gelegenheit wieder nach rechts. Wenn ich irgendwo gerne wohnen würde, dann am Röderbergweg im Frankfurter Ostend und zwar in vorderster Reihe. Grzimek soll hier irgendwo gewohnt haben. Der Blick ist sensationell.

Blick nach Nord-Westen

Nach Süd-Osten schweift der Blick, über Offenbach und Hanau, bis zum Odenwald. Im Nord-Westen ist am Horizont der Stadtwald auszumachen und dort ragt tatsächlich der neue Goetheturm aus den Wipfeln. Dieses wahre Frankfurter Wahrzeichen, das von Idioten abgefackelt wurde und jetzt endlich wieder nachgebaut ist. Mein Frankfurt ist wieder komplett. Und an den alten Turm habe ich noch reichlich Kindheitserinnerungen, die kann mir niemand abfackeln. Selbst den Geruch nach Harz und Holz habe ich noch im olfaktorischen Gedächtnis. Das allerdings wird der neue nicht können, noch nicht. Ich muss ihn mir auf jeden Fall bald aus der Nähe ansehen. Und dort, am Röderbergweg, habe ich ihn erstmals wieder gesehen. Mein Herz hüpfte vor Freude.

Immer der Nase nach, durch bislang unbekanntes Gebiet, vorbei an der schönen, mir bislang aber unbekannten Luxemburgerallee, landete ich bald am Ostbahnhof.

Luxemburgerallee

Und dort, ich hatte davon gelesen und natürlich wieder vergessen, eine Wagenburg. Alte Camping- und Bauwagen standen dicht gedrängt am Bahndamm. Unmittelbar fühlte ich mich nach Berlin und Kreuzberg zurückversetzt. Das wurde verstärkt durch Transparente mit dem Besetzerzeichen und vertrauten Forderungen „Frankfurt besetzen“. Außerdem „Ihr baut Mist“ (o.s.ä.). Angesichts der benachbarten Neubauten eine nachvollziehbare Bemerkung. Ich war begeistert von meinem Spaziergang, hatte so viel Neues gesehen in kurzer Zeit.

Wagenburg

Weiter zum Main. An der Osthafenbrücke wieder der Goetheturm, jetzt etwas größer.

Osthafenbrücke mit Goetheturm

Auch am Mainufer war es kein Problem auf die Maske zu verzichten, es waren nur wenige Leute unterwegs. Ich spazierte der untergehenden Sonne entgegen und konnte mich nicht satt sehen am Licht und den herbstlich leuchtenden Bäumen.

Mainufer

Auf der gegenüberliegenden Mainseite das Literaturhaus Frankfurt, dahinter der Schwesternwohnturm des Hospitals zum Heiligen Geist, der das Literaturhaus fast erdrückt. Dieses, tatsächlich unansehnliche, Gebäude hat mich dazu gebracht, über Hässlichkeit in der Stadt nachzudenken. Meinen früheren, spontanen Gedanken ABREISSEN! überdenke ich mittlerweile. Ich habe gelernt, dass auch diesen Gebäuden mit Respekt begegnet werden muss. Stadt braucht Hässlichkeit. Vielleicht irgendwann mehr dazu.

Literaturhaus mit Turm des Hl. Geist Hospitals

Weiter am Main, die Skyline bestimmt das Bild. Ich wechsle jedoch über die Alte Brücke auf die andere Seite, von Dribbdebach nach Hibbdebach. Dort steht sie wieder, am angestammten Platz, die Statue Karls des Großen, in Sandstein. Es handelt sich um eine Kopie, das Original befindet ich im wunderbaren Historischen Museum. Der Original-Karl ist wohl auch noch im Besitz eines Schwerts, was der Doppelgänger nicht von sich behaupten kann. Das Schwert, das Karl auf der Brücke stolz und auch durchaus Respekt fordernd, himmelwärts richtete, war wohl ein beliebtes Souvenir. Daher wurde der Kaiser regelmäßig entwaffnet, letztmals im August 2020. Und so steht er da, der stolze Kaiser, ähnlich dem Ritter der Traurigen Gestalt, als „Karl ohne Schwert“ (Michael Quast).

Karl ohne Schwert

Durch die Wallanlagen spaziere ich zurück gen Bornheim, den Kopf voller Bilder und Gedanken, und erstmals in den zwanzig Jahren, die ich jetzt hier lebe, denke ich, wie interessant, abwechslungsreich, spannend und durchaus aufregend diese kleine Stadt doch sein kann.

Wallanlage

In Bornheim ging ich in meiner Kneipe ein Bier trinken (ich darf das, ich arbeite da und habe einen Schlüssel) und blickte auf einen wundervollen Tag zurück.

Das Krisen-Photo zum Donnerstag

Eines meiner liebsten wöchentlichen Rituale ist der donnerstägliche Gang zum Erzeugermarkt an der Konstablerwache. Dort trinke ich ein-zwei Schobbe und esse irgendwas. Dann kaufe ich ein. Ich habe schon gelegentlich darüber geschrieben. Wann ich angefangen habe, mein Schobbeglas mit dem Deggelsche zu photographieren und auf Facebook zu veröffentlichen, weiß ich nicht mehr, bin auch zu faul, um zu recherchieren. Jedenfalls hat sich daraus eine kleine harmlose Spielerei ergeben und einige Leute haben Gefallen gefunden an diesen „Photos zum Donnerstag“, wie ich sie immer nenne. Die Bilder sahen meist so ähnlich aus wie dieses hier unten.

Photo zum Donnerstag

Mit den Corona-Schutzmaßnahmen, die ab Mitte März 2020 griffen, war das Photo zum Donnerstag in dieser Form nicht mehr möglich, denn der Ausschank auf dem Markt an der Konstablerwache wurde eingestellt. Es durfte dort nichts mehr verzehrt werden. Na gut, dachte ich mir, trinke ich meinen Schobbe halt zuhause und mache das Photo dort auf meinem Balkönsche. Das erste, das ich dann „Das Krisen-Photo zum Donnerstag“ nannte, war das vom 19. März. Ohne dass ich es beabsichtigt hatte, war das Glas unscharf dargestellt, nur der Baum im Hintergrund war scharf. Erst wollte ich es löschen, dann aber gefiel es mir. Ich hatte den Eindruck, das unscharfe Glas würde die Krise vielleicht ganz treffend illustrieren. Und ich hatte die Idee, mit dem Motiv zu spielen, auszubrechen aus der gewohnten Form. Dabei versuchte ich, eine gewisse Dramaturgie einzuhalten.

Spätestens als ich für das Photo vom 23. April ein Geripptes (so heißen diese Gläser) aus dem Nachlass meiner Eltern zerdepperte, wurde es völlig beliebig. Aber es hat sehr viel Spaß gemacht, mit dem „Photo zum Donnerstag“ auf diese Art zu spielen. Auch freute ich mich immer auf die, für meine Verhältnisse, zahlreichen Reaktionen und Kommentare. Sogar in Kanada wurden die Donnerstagsphotos wahrgenommen. Das erfolgreichste dieser Krisenphotos war das vom 02. April, das mit der Luftpolsterfolie. Das Bild vom 25. Juni war dann das erste, dass ich wieder auf dem Markt machte. Ich nannte es immer noch Krisen-Photo. Das Glas traut sich nicht so recht ins Bild, verharrt am Rand, mir war die Sache nicht geheuer. Eine Facebook-Freundin, die schon lange Gefallen an diesen Photos gefunden hatte, fand die Krisen-Photos dann allerdings recht deprimierend und schenkte mir zur Aufheiterung dieses schöne Halbliter-Gerippte mit Goldrand und Schleifchen. Eine Geste, über die ich mich sehr gefreut habe. Das Bild postete ich außerhalb der Reihe am 18. Juli unter dem Titel „Freude-Photo zum Samstag“. Seit dem 02. Juli geht es wieder gewohnt weiter mit den „Photos zum Donnerstag“, bis Corona wieder verstärkt zuschlägt und auf dem Markt wieder jeder Verzehr untersagt wird.

Das Freude-Photo zum Samstag

Ein schöner Tag

Ein Spaziergang

Wie immer donnerstags verlasse ich am frühen Nachmittag Schreibtisch und Laptop, ziehe bequeme Schuhe an und begebe mich auf einen Spaziergang in Richtung Innenstadt. Ein Ritual, das ich gelegentlich auch am Samstag wiederhole. „Schuhe schnüren, herumgehen, Kopf lüften“ teile ich der Welt via Twitter mit. An diesen beiden Tagen traue ich mich die Konstablerwache zu betreten, diesen Vorhof zur Hölle, auch Zeil genannt. Dann erwacht dieser Platz, diese innerstädtische Ödnis, zu turbulentem Leben. Ungezählte Menschen drängen sich unter den bunten Schirmen des Erzeugermarkts mit seinen verlockenden regionalen Angeboten. Kräuter, frisches Obst und Gemüse, Fisch, Fleisch, Geflügel, unzählige Wurst- und Käsesorten, Backwaren aus handwerklicher Produktion und in unübersichtlicher Vielfalt finden sich neben den eng belagerten Ständen mit Säften, Wein, Bier und selbstverständlich Apfelwein. Sie verweilen, kaufen ein, essen Bratwürste oder Handkäs, belagern die vielen Stehtische, trinken ihren Schoppen und sorgen für ein lebhaftes Stimmengewirr. Ganz Frankfurt ist dort anzutreffen, besonders samstags. Bei gutem Wetter kann es qualvoll eng sein. Dass an diesen Tagen die Konstablerwache mehr oder weniger unsichtbar wird, ist ein willkommener Nebeneffekt des geselligen Treibens. Wer Frankfurt kennenlernen will, sollte den Erzeugermarkt besuchen. Hier ist der Querschnitt der einheimischen Bevölkerung versammelt. Aber fangen wir oben an.

Die Berger Straße

Ich gehe die Berger Straße stadteinwärts, diese Einkaufs- und Vergnügungsstraße, die im ständigen Wandel begriffen ist. Moden und Trends hinterlassen auf der Berger stets ihre Spuren. Oft sind diese nach kurzer Zeit auch wieder passé. Gewachsene Traditionen sind dort kaum zu finden, sieht man mal von der alteingesessenen Apfelweinwirtschaft Solzer im oberen Abschnitt der Straße ab. Das ehrwürdige Wirtshaus Zur Sonne wurde verkauft. Nach Monaten der Ungewissheit hat es unlängst mit neuen Inhabern wieder geöffnet. Eine gute Nachricht. Das Gebäude des ehemaligen Elektrokaufhauses wurde komplett umgestaltet und mit einem anderen Angebot und unter anderem Namen neu eröffnet. Berger-Village haben sich die Marketingleute ausgedacht, vielleicht in Anlehnung an den Stadtteil, den etliche Frankfurter auch heute noch als das „Lustige Dorf“ bezeichnen. Das Aus für „Saturn-Hansa“ bedeutete auch das Aus für einige Einzelhändler, die vom Einzugsgebiet des Elektromarkts profitierten. Anderorts herrscht allerdings jahrelanger Stillstand. In der oberen Berger Straße bietet die Brache, an der einst die Kultgaststätte Klabunt beheimatet war, nun Insekten, Vögeln und anderem Getier eine willkommene Heimat. Das Klabunt musste weichen, weil dort ein „Quartiersparkhaus mit Einkaufsmarkt und Wohnungen“ entstehen sollte. Diese Pläne wurden mit dem Ableben des Investors Gaumer beerdigt. Mittlerweile ist zu lesen, dass im Jahr 2020 mit der Bebauung des Geländes begonnen werden soll.

Fußgänger habe es schwer auf der oberen, sehr engen Berger Straße. Die Gehwege sind schmal und der Autoverkehr, der sich durchzwängt, tut ein Übriges. Man fragt sich, weshalb dort überhaupt Autos fahren dürfen. Das ist aber nicht nur ein Problem der Berger Straße. Sind die Gehwege in Frankfurt mal breit genug, um zum Spazieren einzuladen, werden sie oft durch quer parkende Autos zugestellt.

Ich gehe weiter. In immer kürzer werdenden Abständen kauern Menschen auf dem Gehweg und halten den Passanten leere Pappbecher mit der Bitte um etwas Kleingeld hin. Meist werfe ich ein paar Münzen in eines der zerknitterten Behältnisse. Andere durchstöbern Mülleimer während missionarisch gesinnte Zeugen Jehovas erbauliche Schriften feilbielen. Wäre ich gläubig, würde ich Gott danken, gesunde Beine zu haben und unbeschwert gehen zu können. Ein Geschenk.

Bubble-Tea und andere Kuriositäten

Längst vorbei ist einer der kuriosesten Trends der letzten Jahre, der sich natürlich auch auf der Berger Straße manifestierte. Wie eine Seifenblase geplatzt ist der Bubble-Tea-Boom – und das macht ja ein wenig Hoffnung. Mittlerweile werden die Läden von Nagelstudios, Waffelbäckereien und anderen seltsamen Angeboten genutzt. So versucht seit Kurzem ein merkwürdiges Geschäft sein Glück. Geneigte Passanten können sich dort für drei Minuten auf minus 150 Grad Celsius abkühlen lassen, „ohne Schwitzen und ohne Duschen“. Angeblich soll das dazu führen, überflüssige Kalorien zu verbrennen. Ob das eine gute Geschäftsidee ist, wird sich zeigen. Kundschaft habe ich dort noch keine gesehen. Erfolgreicher ist allerdings ein anderer ungewöhnlicher Laden einige Meter weiter, in dem man „Schwarzlicht-Minigolf“ spielen kann. Die Bediensteten tragen neonbunte T-Shirts und haben gut zu tun. Ich bevorzuge jedoch Bewegung an der frischen Luft wie regelmäßiges Gehen, auch wenn ich dabei gelegentlich ins Schwitzen komme.

Südlich der Höhenstraße wird es vorwiegend gastronomisch. Das Angebot ist abwechslungsreich wenn auch oft nur kurzlebig. Fast schon im Wochenrythmus öffnen und schließen entsprechende Betriebe unterschiedlichster Ausrichtung. Vegetarische, vegane und Rohkost-Restaurants wechseln sich ab mit Currywurstbuden, Pizzerien, Ökobäckern, Cafés, Buchhandlungen, Steakhäusern, Burger-Bratereien und Weinhändlern. Ein neu eröffneter Laden, der sich auf Donuts spezialisiert hat, ist offensichtlich, und zu meiner Verwunderung, sehr erfolgreich. Regelmäßig belagern vorwiegend junge Leute in Dreierreihen den Laden und tragen mit glücklichen Gesichtern die süße Beute in bunten Kartons davon. Manche setzten sich auch an die Bänke vor dem Laden und vertilgen die klebrigen Zuckerkringel gleich vor Ort. Freitagabends lädt eine Buchhandlung mit dem pragmatischen Namen Buch & Wein zum „Betreuten Trinken“ in ein ehemaliges Fotostudio im Hinterhaus. Für den Spaziergänger also genügend Möglichkeiten, eine Pause einzulegen und die müden Beine zu schonen.

Ich lasse mich jedoch nicht beirren, gehe weiter und erreiche den Merianplatz. Da steht dann dieses Ding. Auf den ersten Blick erschließt sich sein Zweck nicht. Das Ding sieht aus wie ein – ja was? Ein Zylinder, ein Kolben, irgendwas aus einem Automotor, nur viel größer. Aber ich kenne mich nicht aus mit Automotoren. Beim Näherkommen erkennt man Wasser, das träge und lustlos die glatte, grafittiverzierte Edelstahlhaut hinabrinnt. Obendrauf hocken Tauben und nehmen ein Fußbad. Aha, ein Brunnen. Frankfurt ist kein guter Ort für Kunst im öffentlichen Raum. Neuerdings hat der Brunnen Gesellschaft bekommen, die moderne Ausführung einer Litfassäule, die den Brunnen um einiges überragt, wurde ihm zur Seite gestellt. Er scheint sich nun dahinter verschämt zu verstecken. Anwohner haben sich schon beschwert über den Werbeträger, er würde den Blick auf den Merianplatz behindern, dabei versteckt er nur dieses silberne Ding. Der den Platz dominierende, achteckeckige, flache Bau, der einst als öffentliches Badehaus diente, beherbergt jetzt ein Lokal, das Kupferstecher heißt und eine etwas edlere Umgebung bietet, was sich auch an den Preisen ablesen lässt. Dennoch bewegt sich alles noch im vertretbaren Bereich. Ein gastronomischer Betrieb wurde also durch einen anderen ersetzt, der übliche Lauf der Dinge auf der Berger Straße.Zwei öffentliche Duschräume stehen allerdings weiterhin zur Verfügung.

Auf zur Konsti

Weiter geht`s in Richtung Konstablerwache. Vor dem Schaufenster der Buchhandlung Ypsilon bleibe ich stehen und betrachte die Auslage. Ein paar Meter weiter, am Anlagenring schaue ich nach rechts zum ummauerten Bethmannpark mit seinem Chinesischen Garten. Der Pavillon dort fiel 2017 einem oder mehreren Brandstiftern zum Opfer. Dieses Schicksal teilt er mit vielen anderen Holzbauten der Stadt, darunter das wahre Wahrzeichen Frankfurts, der Goetheturm im Stadtwald. Der oder die Täter sind bis heute nicht gefasst. Das Gebäude wurde von chinesischen Fachleuten rekonstruiert und im November 2019 wieder eröffnet.

Ich gehe nach links zum Anlagenring, vorbei an einem Weiher, der diverse Wasservögel angelockt hat, und kreuze die Grünanlage. Radfahrer und Fußgänger kommen mir entgegen. Auf einer schattigen Bank sitzen Männer und Frauen mit Bierbüchsen in der Hand. Im Gerichtsviertel kurz vor der Zeil fällt ein heruntergekommenes Gebäude mit vergitterten Fenstern auf, das von einer bunt bepinselten hohen Mauer umgeben ist. Das Klapperfeld, ein ehemaliges Gestapo- und Polizeigefängnis, das seit einigen Jahren einem, natürlich umstrittenen, linksautonomen Zentrum Räume bietet. Die überaus sehenswerte Ausstellung zur Geschichte des Gefängnisses, die der Trägerverein des Klapperfeldes erarbeitet hat, kann samstags ab 15 Uhr besichtigt werden. Eintritt frei, Spende willkommen.

Gelegentlich wende ich mich auch nach rechts zur stark befahrenen Kurt-Schumacher-Straße, um über die kleine Große-Friedberger-Straße von Norden her zur Konstablerwache zu gelangen. Bei meinen Gängen vermeide ich es auf dem Hin-und Rückweg die selben Wege zu beschreiten, denn das mindert die Aufmerksamkeit. Und ist es nicht einer der schönsten Aspekte beim Gehen, Dinge zu entdecken, die anders dem Auge verborgen geblieben wären?

Wie gesagt, es ist Donnerstag, also Markttag. Bald habe ich das erste Ziel meines Spazierganges erreicht, den Erzeugermarkt auf der Konstablerwache. Noch ist genug Platz an den Ständen, erst ab 17 Uhr füllen sie sich mit Angestellten aus den umliegenden Bürohäusern, die hier ihren Feierabend einläuten. Ich esse eine Bio-Bratwurst aus der Rhön und trinke einen Schoppen. Derweil spuckt die Zeil fröhliche junge Menschen auf die Konstabler, die bepackt sind mit braunen Papiertaschen voller Billigklamotten. Auf der Kurt-Schumacher-Straße rauscht vierspurig der Verkehr vorbei. Unweit wurde auf dieser Straße im Sommer 2018 ein Radfahrer von einem LKW getötet. Dieser und einige andere Todesfälle von Radfahrern in Frankfurt sowie der unerwartet erfolgreiche Radentscheid, haben zu einem behutsamen Umdenken in der Frankfurter Verkehrspolitik geführt. Jetzt fallen die roten Radstreifen auf, die in jeder Richtung in einer akzeptablen Breite angelegt wurden. Die Autofahrer mussten dafür eine Spur abtreten. Diese Umverteilung der Verkehrsflächen muss dringend weitergehen.

Am Main

Gestärkt setze ich meinen Weg fort, es zieht mich an den Main. Am Römerberg, dieser Fotokulisse, wird geheiratet, musiziert, geschaustellert und salzgesäult. Von dort zieht es die Besucherschar weiter zur teilweise rekonstruierten Neuen Altstadt, einem Quartier, das hauptsächlich von Touristen aus der ganzen Welt bevölkert wird. Ich mache es wie die meisten Frankfurter, lasse die Altstadt links liegen und gehe statt dessen weiter in Richtung Eiserner Steg.

Dem neuen Historischen Museum, zwischen Römer und Main gelegen, ist ein anderes Schicksal als der Neuen Altstadt widerfahren. Aufgrund seiner sehr gelungenen Architektur, der interessanten und vielfältigen Ausstellungen wird es von den Frankfurtern angenommen. Dieses Museum ist ein Schmuckstück und eine Bereicherung für die Stadt, die an gelungener neuer Architektur nicht gerade allzu viel vorzuweisen hat.

Der Eiserne Steg trägt schwer an tausenden von sogenannten Liebesschlössern, diesem Unfug, der sich überall breitmacht und niemanden so erfreut wie die Schlosser-Innung. Würden sich all diese Liebesbeweise selbsttätig öffnen und in den Main versenken, wenn die ewige Liebe doch nicht so ewig war, dann wäre das Frankfurter Wahrzeichen weniger entstellt. Die Passanten scheint das nicht zu stören, es wird auf Teufel komm raus musiziert, fotografiert und geknutscht. Eine Zwanzigjährige nutzt den Aufzug, um sich das Treppensteigen zu ersparen.

Ich nehme die Treppe, bahne mir einen Weg durch die Menschenmenge und spaziere am Sachsenhäuser Ufer entlang in Richtung Maincafé. Zum Glück ist Donnerstag. An sonnigen Wochenenden ist das Mainufer bevölkert von tausenden Radlern, Joggern, Skatern, Spaziergängern und Hunden und ein Durchkommen wird fast unmöglich. An solchen Tagen gilt es den Uferweg zu meiden. Aber es ist Werktag und so finde ich einen Sitzplatz im Maincafé, diesem vielleicht schönsten Ort der Stadt. Ich trinke einen Kaffee und schaue der Skyline beim Wachsen zu. Jogger, Radfahrer und Spaziergänger kreuzen meinen Blick. Es ist noch nicht allzu lange her, dass das Mainufer von der Stadt wiederentdeckt und den Menschen zugänglich gemacht wurde. Über Jahrzehnte diente es vorwiegend als Parkplatz.

Diese neue Qualität ist natürlich auch Investoren nicht verborgen geblieben, die nun versuchen, für eine zahlungsfreudige Klientel am Mainufer Luxusimmobilien zu errichten. Östlich der Untermainbrücke, in zentraler Lage, fällt ein bunkerartiges, je nach Licht graues oder sandfarbenes Edelquartier auf, das von einem Sechzigmeterturm überragt wird. Völlig ironiefrei wurde das Ensemble auf Maintor getauft, obwohl es genau das Gegenteil dessen tut, was ein Tor gemeinhin macht, nämlich sich zu etwas zu öffnen. Das Maintor jedoch ist eine massive Barriere zwischen Fluss und Stadt. Die dort wohnenden „Kosmopoliten“ wird es nicht stören, solange es in der Tiefgarage einen Platz für den SUV gibt. Mit dem gemeinen Volk am Mainufer hat man eh nichts am Hut.

Dieses graue „Maintor“ liegt am Mainkai, jener zweispurigen Uferstraße, die Ende Juli 2019 „für den Rad- und Fußverkehr geöffnet“ wurde, sprich, für den Autoverkehr gesperrt. Für ein Jahr sollte getestet und Daten gesammelt werden, wie sich das auf den Verkehr in der Stadt auswirkt, für den Autoverkehr muss einschränkend gesagt werden. Abgesehen davon, dass die Maßnahme miserabel vorbereitet wurde, ist das natürlich eine gute Idee und kann nur ein erster Schritt sein auf dem Weg zu einer weitgehend autofreien Stadt. Aber es hat nicht gereicht, die Straße einfach nur mit Betonquadern zu sperren, und sonst aber alles sich selbst zu überlassen. Passanten und Radfahrende sind nach wie vor lieber direkt auf dem Uferweg am Main unterwegs. Der Mainkai blieb verwaist. Nur Räder und Elektroroller waren zu sehen. Auf dem gewonnenen Freiraum wurde nichts angeboten, keine Gastronomie, keine Bänke, keine Sitznischen, keine Bühnen für Klein- und Großkunst. Nichts was die Straße zu einem Boulevard gemacht hätte, auf dem man sich gerne aufhält.

Ausgeruht mache ich mich auf den Heimweg.

Mit M. im Rheingau

RB10

M wartete schon, lächelnd, Sonnenbrille, Zigarette, in der anderen Hand einen Mitnahmekaffee, im Ohr Stöpsel, die sie raus nahm, als sie mich sah. In Bornheim-Mitte bestiegen wir die U4, die uns in wenigen Minuten zum Hauptbahnhof brachte. Am Gleis 23 stand die RB10 bereit, in fünf Minuten sollte sie losfahren. Es herrschte Ausflugswetter, der Rheingauexpress war daher gut besetzt mit Menschen jeden Alters, wie immer am Sonntag bei sonnigem Wetter. Sie wollten durch die Weinberge spazieren, oder am Rhein entlang und in einem der Winzerstädtchen Wein trinken. Wie wir auch. M trug einen Rucksack mit etwas Proviant bei sich. Ich hatte auf Wegzehrung verzichtet, unterwegs würde es ausreichend Gelegenheiten geben, eine Brezel zu essen, Wasser und Riesling zu trinken. Nur auf Fisherman`s Friend, Geschmacksrichtung Anis, wollte ich nicht verzichten. M konnte ich damit allerdings keine Freude machen.

Das erste Mal

Ich war gespannt auf den Ausflug mit M. Wir waren noch nie zusammen spazieren gewesen und hatten jetzt doch etwa elf Kilometer vor uns. Skeptisch beäugte ich ihre Schuhe, die mir nicht sonderlich geeignet schienen für einen dreistündigen Spaziergang. Sie versicherte, in diesen Schuhen ganz hervorragend gehen zu können, auch größere Strecken. Ich trug meine alten, grünen Laufschuhe. Es ist keine Selbstverständlichkeit, gemeinsam entspannt und harmonisch zu spazieren, das geht nicht mit jeder. Ich gehe auch sehr gerne allein, genieße es, nicht abgelenkt zu werden und mich nur meinen Beobachtungen und Gedanken zu widmen. Manch gute Idee ist auf diese Weise entstanden. Allerdings lässt es sich niemals entspannter plaudern als bei einem gemeinsamen Spaziergang. Wohl dosiert natürlich. Spaziergänge mit mehr als zwei Personen versuche ich zu vermeiden, irgendjemand hat dann immer ein erhöhtes Kommunikationsbedürfnis. Bei M war ich gewiss, dass wir uns unterwegs nicht auf die Nerven gehen würden. Sie hatte nicht den Drang ununterbrochen zu reden und konnte auch mal schweigen. Darin waren wir uns sehr ähnlich.

Eine Radtour

Der Zug setzte sich in Bewegung, erster Stop in Hoechst, danach nonstop weiter bis Mainz Kastel. Zuvor jedoch passierte der Rheingauexpress rechterhand eine riesige, blaue Lagerhalle, um die ein frisch asphaltierter Radweg führte. Dort war ich schon mit M gefahren. Es war nicht die M, neben der ich jetzt in der RB10 saß, sondern M aus Offenbach, eine Twitterbekanntschaft. Uns verband, unter anderem, die Begeisterung für das Radfahren und die Vorliebe für Bier. M fuhr Mountainbike, ich Rennrad. Da war es schwierig, passende Wege zu finden. Wir waren auf Asphalt angewiesen. Und ich war immer zu schnell. Also verkaufte ich das Rennrad und investierte den Erlös in ein gutes, gebrauchtes Mountainbike. Stahlrahmen, eine professionelle Federgabel, 24 Gänge, Hydraulikbremsen. Das reichte, jetzt standen uns alle Wege offen. Bei unserer ersten gemeinsamen Tour war ich jedoch noch mit dem Rennrad unterwegs. Sie führte uns über den Mainradweg nach Rüsselsheim zum Kleinen Brauhaus. Ich war genauso gespannt, mit M eine Radtour zu machen, wie ich es jetzt war mit der M neben mir, mit der ich zu einem längeren Spaziergang unterwegs war. Es konnte schief gehen oder gut werden. Nach wenigen Kilometern schon dämmerte mir, dass sie die perfekte Partnerin war für gemeinsame Radausflüge. Wir fuhren dasselbe Tempo, hatten dieselbe Kondition, und, vielleicht am wichtigsten, niemand wollte reden. Das hoben wir uns für die Pausen auf. Im Kleinen Brauhaus angekommen, tranken wir köstliches Bier und nahmen eine rustikale Mahlzeit zu uns. Zwei, drei weitere Biere sollten uns stärken für den Rückweg. Es war eine wunderbare, sehr entspannte Fahrt über immerhin doch siebzig Kilometer. Wir radelten, jeder für sich und doch gemeinsam. Zum Abschluss gab es ein letztes Bier im Maincafé. Es sah so aus, als hätte ich mit M eine Frau gefunden, die ich mein ganzes Leben lang gesucht hatte. Eine Frau, mit der ich entspannt gemeinsam mit dem Rad unterwegs sein konnte. Ich hatte auch schon Radtouren erlebt, die in heftigstem Streit endeten und einmal beinahe zum Abbruch eines Provence-Urlaubs führten. Aber jetzt war da M und ich war glücklich. Sie mochte auch Fisherman`s Friend, Geschmacksrichtung Anis.

Viele weitere Radtouren folgten, darunter jene nach Eltville, die uns an dieser Lagerhalle vorbeiführte, die die RB10 eben hinter sich gelassen hat. Bald tauchten die ersten Weinberge auf, wir näherten uns dem Rheingau. Immer wieder waren Radler auf dem Weg zu sehen, den M und ich damals auch gefahren waren. Gelegentlich schimmerte der sonnenbeschienene Main durch das Geäst.

Wiesbaden Biebrich – Walluf

Wiesbaden Biebrich, der Bahnhof kaum als solcher erkennbar, eher eine Haltestelle. Aber es konnte losgehen mit dem Spaziergang. Der Biebricher Schlosspark, angelegt im frühen achtzehnten Jahrhundert und später umgestaltet, entschädigte schnell für den ungastlichen Empfang am Bahnhof. Weitere Spaziergänger schlenderten durch die Anlage und genossen die Ruhe, die Luft und das Grün. Wir durchquerten eine großzügige und gepflegte Parklandschaft, vorbei an Weihern mit allerlei Wasservögeln. Mehrere Papageienarten hatten sich hier angesiedelt, vorwiegend die lustigen grünen Halsbandsittiche hüpften lärmend durch die Zweige. Der Park lebte, die Stadt war weit weg. Ein perfekter Einstieg in unseren Ausflug. Bald war das Schloss in Sichtweite, dahinter der Rhein. Erste Urlaubsgefühle keimten auf. Nach nur wenigen hundert Metern werden die Spaziergänger jedoch vom Fluss weg auf die vielbefahrene Rheingaustraße geleitet, um noch eine ordentliche Dosis Feinstaub zu tanken, bevor es hinter der Dauerbaustelle der Schiersteiner Brücke, die den Uferweg blockierte, nach links zum Hafen von Schierstein geht. Motorboote liegen vertäut an den Kais, SUVs am Uferweg. Segelboote gleiten Richtung Rhein, Familien mit Kindern, Einzelgänger und Paare schlendern über die Promenade und freuen sich an der Aussicht, dem Wetter und dem Wein. Den ersten Weinprobierstand auf unserem Weg nutzten wir für eine Pause. Beide tranken wir Riesling, sie als Schorle, ich pur, das Wasser extra dazu. Wir setzten uns, schauten den Schiffen zu, beobachteten die Passanten und genossen den Wein. Störche zogen ihre Bahnen am blauen Himmel.

Bei Schierstein

An der Eisdiele hatte sich eine veritable Warteschlange formiert. Ich ließ mich nicht beirren und reihte mich ein. Nur selten esse ich Eis, schon der Anblick der bunten Fett- und Zuckerkugeln verursacht mir Übelkeit. Aber in Schierstein aß ich Eis, zwei Kugeln, Nuss und Vanille, das gehörte zum Ritual. Wir spazierten weiter und ließen den Schiersteiner Hafen hinter uns. Nach kurzem erreichten wir den unbefestigten Pfad am Rheinufer und folgten ihm flussabwärts. Für die nächsten Kilometer wird der scheinbar träge dahin fließende Fluss unser Begleiter sein. Frachtkähne zogen vorbei, gelegentlich auch ein Segelboot oder ein Ausflugsdampfer. Der Uferweg stark frequentiert, Fußgänger, Radfahrer, Hunde kamen uns entgegen. Schon bald taucht rechter Hand der Strommast auf, der drei Storchenfamilien Heimstatt bietet, unübersehbar die Nester in unterschiedlicher Höhe. Jungtiere harrten auf Futter.

Es bestätigte sich, was ich erwartet hatte, mit M zu spazieren war ein Vergnügen. Gleiches Tempo, nicht zu viele Worte, gleichmäßig und zügig setzten wir einen Fuß vor den anderen, ließen unsere Blick über das Wasser schweifen oder in den Himmel, an dem Störche und allerlei andere Vögel ihre Runden drehten. Eine Nachtigall ließ ihren Gesang erschallen. Kurz vor Walluf dann ein eingezäuntes Vogelschutzgebiet. Eine Wasserlandschaft mit Bäumen und Schilfgräsern bot etlichen Vögeln paradiesische Bedingungen. Wir spazierten durch eine scheinbar heile Welt.

Walluf verfügt über einen kleinen Sandstrand, der sehr gut besucht war an diesem Sonntagnachmittag. Kinder spielten im Sand, Müßiggänger saßen auf den Mäuerchen, die das Areal eingrenzten, tranken Wein. Manch einer warf Stöckchen für den Hund in den Strom, dem der wagemutig nachschwamm und es wieder raus fischte, immer wieder. Als wären wir Teil einer Strandszene von Heinrich Zille, im Rheingau, nicht in Berlin. Der perfekte Standort für den örtlichen Weinstand, das Fässchen Walluf. Die Reihe der Durstigen war lang, der Riesling kalt und trocken. Für eine Dreiviertelstunde schauten wir dem Treiben zu und tranken gemächlich den Wein. Das Ziel unseres Ausflugs kam näher. Etwa fünfundvierzig Gehminuten trennten uns von Eltville. Immer mehr Spaziergänger und Radfahrer bevölkerten den Uferweg, es wurde zusehends enger. Bald kamen die ersten Villen der „Eltviller Riviera“ in den Blick. Als markante Landmarke thronte der Turm der Kurfürstlichen Burg Eltville am Ufer und das silberne Band des Rheins zog sich durch die Landschaft.

Eltville -Oestrich-Winkel

An einem schönen Spätsommertag waren M, die Radfahrerin, und ich von Eltville aus zu einem Spaziergang nach Oestrich-Winkel gestartet. Das Städtchen mit dem wohlklingenden Namen kannten wir noch nicht. Wikipedia sagte etwas von Tourismus und Weinbau. Das war nicht sonderlich überraschend im Rheingau. M und ich hatten bislang nur gemeinsame Radtouren unternommen, zusammen spaziert waren wir noch nie. Auch dieser Ausflug also ein kleines Experiment. Ich hatte keine Bedenken, wir konnten entspannt zusammen Radfahren, dann würden wir auch einen gemeinsamen Spaziergang genießen können. Kaum in Eltville angekommen, suchten wir zunächst den Weinstand für einen ersten Riesling auf. Der Eltviller Weinprobierstand wird fast ganzjährig in regelmäßigem Wechsel von acht örtlichen Winzern betrieben. Die Promenade war gut besucht. Auf einer Bank unter Platanen fanden wir Platz, tranken Wein und schauten auf den Fluss. Eine große, weiße Jacht drehte in provozierender Langsamkeit einige Angeberrunden. M war übermüdet und etwas niedergeschlagen an diesem Tag. Das besserte sich bald durch die Luft, den Fluss und den Wein. Im Laufe des folgenden Spaziergangs hellte sich ihr Gemüt immer weiter auf, auch wenn dieser landschaftlich eher reizlos war. Der Weg war enttäuschend, das krasse Gegenteil zum unbefestigten Pfad zwischen Schierstein und Eltville. Ein Großteil war asphaltiert und verlief zwischen Fluss und einer stark befahrenen Bundesstraße. Etliche Radfahrer kamen uns entgegen oder überholten knapp. Entspannend war das nicht. Wenigstens für ein kurzes Stück ging es durch ein Wäldchen. Ein Campingplatz mit Biergarten lud zu einer Rast unter Bäumen. Wir tranken Hofbräuhausbier aus München, was uns etwas deplatziert vorkam, aber dennoch gut schmeckte. M wirkte mittlerweile ganz gelassen und zufrieden. Hunger machte sich bemerkbar, essen wollten wir aber erst in Oestrich-Winkel. Es war nicht mehr weit, schon in Sichtweite lag unser Ziel, malerisch am Ufer des Rheins, vielleicht noch drei Kilometer. Wir verließen den gastlichen Ort und spazierten weiter, erneut einquetscht zwischen Bundesstraße und Fluss. Je mehr wir uns Oestrich näherten, desto deutlicher offenbarte sich jedoch eine hässliche Gewissheit. Oestrich-Winkel, das Rheingaustädtchen mit dem schönen Namen, lag gar nicht am Rhein sondern an der B42. Kein Weinprobierstand am Ufer des Flusses, keine Menschen, die die Ruhe, den Blick und den Wein genossen. Nichts von dem, was wir erwartet hatten und von Schierstein, Walluf und Eltville kannten, nein, eine lärmende und stinkende Bundesstraße trennte die Stadt brutal von ihrem Fluss. Eine graffitiverzierte Unterführung, die an den Ratswegkreisel in Frankfurt erinnerte, stellte den Zugang zur Stadt her. Viel unfreundlicher kann man Spaziergänger nicht empfangen. Oestrich-Winkel, eine Stadt ohne Fluss. Das eigentlich ganz pittoreske Städtchen war nicht nur vom Fluss abgeschnitten, nein, es schien, als sei der Ort auch vom Leben abgeschnitten. Niemand war unterwegs, die Straßen ausgestorben, von Tourismus war hier nichts zu spüren. Fluchtgedanken, wann fuhr der nächste Bus nach Eltville? Ein älteres Pärchen irrte orientierungslos durch die Gegend, fragte uns, wo man einkehren könne. Wir konnten nicht helfen, uns ging`s genauso. Es war auch sonst niemand unterwegs, der vielleicht hätte helfen können. Eine Weile streiften wir durch den Geisterort, bis wir uns plötzlich, wie aus dem Nichts, vor dem Gutsausschank des Weinguts Andreas Kühn fanden. Wir zögerten nicht. Einige Tische im Innenhof waren besetzt, andere noch frei. Es gab also doch Leben in Oestrich-Winkel. Endlich sitzen. Auch das Pärchen von vorhin hatte den Weg hierher gefunden. Der, von einer großen Platane dominierte, Garten war einladend. Im Nachbargrundstück hüpfte ein Dutzend Halsbandsittiche, wie sie auch im Biebricher Schlosspark heimisch waren, durch einen Baum und flatterten, wie auf Kommando, plötzlich davon. Die Bedienung war freundlich, das Essen und der Wein ausgezeichnet. Unser kleiner Ausflug nahm ein versöhnliches Ende. Und doch fragte ich mich, weshalb die Menschen dieses Ortes die B42 nicht schon gesprengt oder sonst wie unbrauchbar gemacht haben.

Gegen 20 Uhr brachen wir gesättigt auf zum Bahnhof, der, wenig überraschend, einen recht heruntergekommenen Eindruck machte. Das kannten wir auch aus Eltville. Zur Versorgung stand ein Getränkeautomat bereit. Zum Glück ist der Zustand dieser Eisenbahnbauten nicht symptomatisch für den Rheingau. Der Zug hatte zwanzig Minuten Verspätung und wir waren in die nächste Tarifstufe spaziert. Das Ticket nach Frankfurt war vier Euro teurer als von Eltville aus.

Rheinsteig

Erstmals im Rheingau war ich vor einigen Jahren mit M.. Es war nicht die M., neben der ich jetzt in der RB10 saß und auch nicht M., die Radfahrerin. Es war M. aus Sachsenhausen, die erste M., sozusagen. Wir trafen uns an Gleis 23, an dem die RB10 bereit stand. Sie konnte mich mit ihrer Monatskarte mitnehmen. Ich war neugierig. Dass wir zusammen gut würden spazieren können, wusste ich, wir hatten schon manch gemeinsamen Gang unternommen. Fisherman`s Friend, Geschmacksrichtung Anis, brauchte ich ihr gar nicht erst anbieten, sie mochte es nicht. Ich war neugierig auf den Rheingau. Es war einzig meiner Trägheit geschuldet, dass ich mich in all den Jahren, die ich nun schon in Frankfurt lebte, noch nicht aufgerafft hatte, dorthin zu fahren. Vor vielen Jahren war ich mal im Verlauf eines Fahrradurlaubs mit einem Freund aus Berlin in Eltville. Damals hielt ich allerdings noch nichts von deutschem Wein, trank ausschließlich französischen, noch dazu roten. Mit Riesling und dergleichen hatte ich nichts am Hut. Diesen Besuch hatte ich daher fast schon wieder vergessen. M. und ich fuhren bis Biebrich und liefen zunächst denselben Weg, den ich jetzt mit der Bornheimer M. ging. In Schierstein verließen wir das Rheinufer, um dem Rheinsteig zu folgen. Dieser Wanderweg beginnt am Biebricher Schloss und ist selbstverständlich ausgeschildert. M. kannte sich aus, sie war dort schon mehrere Male gewesen. Wir durchquerten Weinberge, nur wenige andere Spaziergänger kreuzten unseren Weg, und genossen den Blick über das Rheintal und die Ruhe. Unser Ziel war Kiedrich. Dazu mussten wir den Rheinsteig verlassen, das Städtchen wäre über den Wanderweg erst in zwei Tagesetappen erreichbar gewesen. Also mussten wir abkürzen und hatten irgendwann die Orientierung verloren, besser, M hatte die Orientierung verloren, ich hatte ja keine. Die grobe Richtung wusste sie, und eine freundliche Spaziergängerin wies uns den Weg. Da lang. Wir kraxelten längs einer Steinmauer, die einen Weinberg einschloss, einen steilen Hang hinauf. Plötzlich wurde die Rheingauruhe jäh unterbrochen, zwei Motocrossfahrer pflügten mit ihren Maschinen durch den Waldboden hangaufwärts, überholten und nebelten uns ein. Oben waren wir wieder auf dem Weg zu unserem ersten Ziel, Kloster Eberbach. Szenen aus dem Film „Der Name der Rose“, der hier gedreht wurde, kamen mir in den Sinn. Wir waren nicht die einzigen Besucher an diesem Nachmittag, die Parkplätze gut belegt. Nach einem Rundgang und einem Kaffeepäuschen setzten wir unseren Weg nach Kiedrich fort. Knapp vier Kilometer trennten uns von diesem Ort, von dem ich noch nie gehört hatte. Es ging bergab und M führte uns über geheimnisvolle Wege. Gelegentlich fragte ich zweifelnd, ob wir wirklich hier lang müssten. Sie ließ mich reden und stapfte zielstrebig voran, schließlich kannte sie die Gegend. Ich folgte und war froh, als wir endlich das kleine, sehr ansehnliche Winzerstädtchen erreichten. Die Beine wurden mir schwer und ich hatte Hunger und Durst. In einer urigen Straußwirtschaft kehrten wir ein zu regionaler Hausmannskost und Riesling. Nach einem abschließenden Kaffee setzten wir ausgeruht unseren Weg fort, talwärts nach Eltville. Der Weg, den M wählte, erschien mir stellenweise erneut recht abenteuerlich, aber ich schwieg und trottete hinterher. Es dämmerte und als wir den Bahnhof von Eltville erreichten, war es fast schon dunkel. Zum Glück kam der Rheingauexpress umgehend, so blieb uns ein längerer Aufenthalt an diesem zugigen Unort erspart. M war ich sehr dankbar für diesen Tag, unser kleiner Ausflug verlief in schönster Vertrautheit. Meine Liebe zum Rheingau war geweckt.

Biebrich – Kiedrich

Im Sommer des darauf folgenden Jahres wollte ich den selben Weg mit J, einer alten Freundin aus der Wetterau, gehen. Keine M also dieses Mal. Wir waren schon öfter längere Wege durch Frankfurt gestiefelt, so dass ich wusste, ein größerer gemeinsamer Ausflug zu Fuß würde kein Problem sein. Auch wir starteten in Biebrich, verließen, wie im Jahr zuvor mit M, in Schierstein das Rheinufer und folgten dem Rheinsteig. An diesem Tag war ich der Reiseleiter, fühlte mich durch den Ausflug mit M bestens gewappnet. Schließlich war ich die Strecke schon einmal gegangen. Frohgemut durchquerten wir Schierstein, immer den Symbolen des Rheinsteigs folgend. Ein Bach geleitete uns langsam bergan in die Weinberge, der Blick über das Rheintal wurde weiter. Oberhalb von Frauenstein kehrten wir in einem Ausflugslokal auf einer Burg ein, aßen Fabrikkuchen und tranken Kaffee. Weiter ging der Weg, hinab nach Georgenborn, und wieder hinauf, immer dem Symbol folgend. Gelegentlich erinnerte ich mich an Wege und Orte, die M und ich im Vorjahr auch passiert hatten. Kiedrich konnte also nicht mehr allzu weit entfernt sein. Ich freute mich auf die Straußwirtschaft, eine deftige Mahlzeit und den Riesling. Das beschleunigte den Schritt. Wir waren guter Dinge, freuten uns an der Landschaft, dem Ausblick und dem Wetter. Die Wetterauerin war etwas gesprächiger als M., M., und M. Aber auch das hielt sich in sehr erträglichen Grenzen. Wir folgten einem breiten Weg, ständig leicht bergan, durch einen Wald. Der Weg zog sich, mir kam die Gegend völlig unbekannt vor. Hier waren wir nicht gewesen, M. und ich, vor einem Jahr. Jetzt hatten wir schon etwa zwölf Kilometer in den Beinen, unser Ziel konnte nicht mehr weit sein. J. äußerte verhalten Unmut, sie hatte Probleme mit den Knien. An einer Weggabelung bemühte sie das Navi ihres Telefons. Nach Kiedrich seien es noch vierzehn Kilometer, das würde sie heute nicht mehr laufen. Leider hatte ich keine Salbeibonbons dabei, die hätte sie genommen, nicht jedoch Fisherman`s Friend, Geschmacksrichtung Anis. Ich hatte nicht nur die Bonbons vergessen, sondern auch dass M uns vom Rheinsteig weggeführt hatte, um abzukürzen. Und ich hatte bei der Planung übersehen, dass Kiedrich auf dem Wanderweg erst nach zwei Tagesetappen erreicht würde. Als Reiseleiter hatte ich komplett versagt. Dankenswerterweise hielt sich ihr Missmut in Grenzen. Statt dessen übernahm sie das Kommando und marschierte entschlossenen Schritts den Weg zurück, den wir gerade erst gekommen waren. Sie wollte tatsächlich irgendwo ein Taxi auftreiben und nach Biebrich fahren. Ein freundlicher Mann an irgendeinem Weiler sagte, nachdem wir gefragt hatten, wieso Taxi, dahinten sei Frauenstein, von dort führe ein Bus. Es seien nur ein paar Minuten. Diese paar Minuten zogen sich dann zu einer halben Stunde. Oberhalb des Ortes thronte die Burg, an der wir vor Stunden gerastet hatten. Der Bus fuhr in einer Stunde und ein Taxi war weit und breit nicht aufzutreiben. Ein Wegweiser für Radfahrer wies nach Schierstein, nur drei Kilometer. Das schaffen wir jetzt auch noch, bestimmte J und marschierte los, in einem Tempo, dem ich kaum folgen konnte. Sie wollte diesen Ausflug zu Ende bringen, so schnell wie möglich, ihr schmerzendes Knie ignorierend. Endlich, Schierstein. Wir waren bestimmt siebzehn, achtzehn Kilometer gelaufen und erleichtert, in einem Gartenlokal die müden Beine ausstrecken zu können. Die Stimmung war sehr entspannt, ich musste mir keine Vorwürfe anhören. Im Fernsehen lief Fußball, es war WM, Deutschland längst ausgeschieden. Das Bier schmeckte so gut wie schon lange nicht mehr. Es gab Fisch, darauf war das Lokal spezialisiert. Anschließend fuhren wir mit dem Taxi nach Biebrich. Den Besuch in Kiedrich holten wir nach, allerdings ohne Experimente. Biebrich, Rheinufer, Schierstein, Walluf, Eltville. Dort zwei Stunden Rast mit Riesling, Wasser und Brezeln. Anschließend die vier Kilometer bergan durch Weinberge längst des Rheinsteigs, nach Kiedrich. Die Straußwirtschaft war geöffnet, wir fanden einen Platz im Hof und fühlten uns sehr wohl. Schnell kamen wir mit dem älteren Ehepaar ins Gespräch, das sich an unseren Tisch gesellte („wir sind beide kürzlich zweimal vierzig geworden“). Sie freuten sich auf das autofreie Wochenende im Mittelrheintal, das bald anstand und wollten dann in Ruhe am Ufer des Rheins entlang radeln. Das konnte ich gut verstehen. Auch die Menschen in Oestrich-Winkel würden sicherlich Freude an diesen autofreien Tagen haben.

Walluf – Eltville

Wir näherten uns dem Ziel unseres Kurzurlaubs, Eltville. Das Rheinufer war voll mit Buden, Menschen und Biergartengarnituren. Die Stadt beging das jährliche Sekt-und Biedermeierfest. Einige Teilnehmer waren stilecht ausgestattet. Der Weinstand umringt von einer Traube Durstiger. Mit etwas Geduld gelang es uns, zwei Gläser Riesling zu ergattern, Nr 1, der trockene. Wir fanden zwei Plätze, M besorgte Flammkuchen an einem der Stände. Auf dem Rhein bretterten einige Jetski-Piloten laut lärmend flussabwärts. Nach zwei weiteren Riesling brachen wir auf zum Bahnhof und bestiegen den Rheingauexpress, der uns zurück nach Frankfurt brachte. Einige Mitreisende ließen ihren Ausflug nach Rüdesheim stimmgewaltig und feuchtfröhlich ausklingen. Ein schöner Tag näherte sich seinem Ende.

An einem unwiderstehlichen Herbstsonntag im Oktober spazierte ich alleine längs des Rheinufers, von Schierstein nach Eltville. Keine der drei M hatte Zeit. Auf der Rückfahrt musste ich mich mit einem letzten Fisherman`s Friend, Geschmacksrichtung Anis, begnügen.

Ein Spaziergang

Zwei bis dreimal in der Woche verlege ich meinen Arbeitsplatz in die Deutsche Nationalbibliothek. Ich kann dort besser arbeiten als im Heimbüro, mal ganz abgesehen von den Recherchemöglichkeiten, die die Bibliothek nun mal bietet. Bis vor einigen Wochen bin ich immer mit dem Rad dort hin gefahren. Mehr als 13 Minuten habe ich für die Strecke nicht gebraucht. Mittlerweile jedoch gehe ich zu Fuß. Das macht wach, körperlich und geistig. Oft entstehen bei diesen Gängen Ideen, die mir bei der Arbeit in der Bibliothek nützlich sind. Wichtig ist mir auch die zeitliche Distanz, die ich dadurch zwischen Frühstücks- und Schreibtisch lege. Meist fahre ich mit dem Rad zu der Kneipe, in der ich dreimal wöchentlich meine Miete verdiene. Ich stelle es im Hof ab, schnappe mir die große Stofftasche vom Bio-Supermarkt, in der ich den Laptop verstaut habe und gehe los.

Bürotasche

Ich kann zwischen unterschiedlichen Wege wählen. Die kürzeste Verbindung beträgt 2,1 km. Dafür brauche ich etwa 25 Minuten. Das ist mir allerdings zu wenig, ganz abgesehen davon, dass dieser Gang auch ziemlich langweilig ist. Für den Rückweg nutze ich immer einen anderen Weg. Da ist es auch egal, ob ich fünf oder zehn Minuten länger brauche. Beim Gehen gibt es keine Umwege. Besonders nach ein paar Stunden in der trockenen Luft im Lesesaal der Nationalbibliothek tut dieser Spaziergang besonders gut. Er bietet mir auch eine Pause zwischen den so unterschiedlichen Tätigkeiten mit Büchern und Bieren. Trotz der diversen Variationen für den regelmäßigen Gang zum Arbeitsplatz, sind mir diese mittlerweile doch allzu vertraut und bieten nur noch wenige Überraschungen.

Jetzt habe ich einen neuen Weg entdeckt, ohne Zweifel der schönste, wenn auch längste. Aber, wie gesagt, es gibt keine Umwege beim Gehen. Dieser Spaziergang führt mich zunächst durch den Günthersburgpark, dann über einen schmalen Fußweg vorbei an einem Abenteuerspielplatz und Kleingärten auf der einen Seite sowie zunächst kleinen Ein- bis Zweifamilienhäusern und später Bauten aus den 60iger Jahren auf der anderen Seite. Autos sind nur in der Ferne vernehmbar. Entspanntes Spazieren also.

Günthersburgpark
Fußweg
Abenteuerspielplatz
Kleingarten

Die letzten zwei- dreihundert Meter des Weges lege ich, die Bibliothek bereits in Sichtweite, durch den Hauptfriedhof zurück. Ich mag Friedhöfe, die Grabsteine erzählen Geschichten, nicht immer nur traurige. Ich vergleiche die Lebensdaten der Verstorbenen mit meinen eigenen oder denen meiner Freunde und Familie und versuche mir das Leben der Toten vorzustellen.

Trauriger Grabstein

Und dann steht da dieser Grabstein, der eine besonders traurige Geschichte erzählt. Zweier Frauen wird hier gedacht, wahrscheinlich Mutter und Tochter, zwei weitere Personen werden bedacht. Wer mögen Trixi und Ray wohl gewesen sein, was ist ihnen widerfahren und weshalb sind sie auf diesem Grabstein verewigt? Aber die traurigste Geschichte ist die von Gisela, von der nur eine Jahreszahl erwähnt ist. Ein sehr kurzes Leben oder tatsächlich eine noch Lebende, deren Namen und Geburtsjahr schon zu Lebzeiten in den Stein gehauen wurde, mit der Maßgabe, das noch fehlende Jahr zu gegebener Zeit nachzutragen? (Falls die Friedhofsordnung so etwas hergibt.) Diese Gedanken beschäftigen mich, wohl wissend, dass die offenen Fragen unbeantwortet bleiben werden. Aber wer weiß für was es gut sein kann? Aber halt, vielleicht wird bei Gisela eines Tages, und noch zu meinen Lebzeiten, das Rätsel gelöst und die fehlende Jahreszahl ergänzt. Dann wäre die Frage beantwortet.

Nationalbibliothek Frankfurt

Zu Fuß gehen

davMein Verkehrsmittel ist das Fahrrad. In der Stadt ist es allen anderen Fahrzeugen überlegen. Es ist schnell, leise, preiswert und hält fit. Einen Stellplatz wird man in der Regel finden, auch wenn man gelegentlich etwas suchen muss. Kurz: Radfahren ist sozial und ökologisch verträglicher Individualverkehr in Reinkultur, ganz im Gegensatz zum Autofahren. Um so unbegreiflicher ist es, dass Städte immer noch viel zu wenig unternehmen, um das Radfahren in der Stadt attraktiver und sicherer zu machen. Aber immerhin sind einige zaghafte Versuche in diese Richtung zu bemerken, wenn sie auch bei Weitem nicht ausreichen. Diese unbefriedigende Situation sorgt dafür, dass Fahrradfahren in der Stadt eines nicht ist: entspannend. Im Gegenteil, Radfahrer sind in jeder Situation gefordert, den Überblick zu behalten. Kleine Unachtsamkeiten können schwerwiegende Folgen haben, bis hin zum Tod. Durch die Natur zu radeln ist hingegen ein Vergnügen sondergleichen.

Von meiner Wohnung bis zur Nationalbibliothek, die ich regelmäßig aufsuche, brauche ich mit dem Rad ungefähr 13 Minuten. Das ist keine Entfernung, und doch bereitet mir diese kurze Strecke kein Vergnügen. Es geht, zumindest auf dem Hinweg, permanent leicht aber spürbar bergauf. Ich muss mich also ein wenig anstrengen. Und ich bin gefordert, auf den Verkehr zu achten. Wenn ich dann, nach zugegeben kurzer Fahrt, mein Ziel erreiche, bin ich, vor allem im Sommer, verschwitzt und nicht entspannt. An einigen dieser Bibliothekstage arbeite ich abends in einer Kneipe bei mir um die Ecke. Die erreiche ich von der Bibliothek aus mit dem Rad in zehn Minuten. Das ist mir eindeutig zu schnell, um zwischen diesen unterschiedlichen Welten zu pendeln. Da brauche ich einen Puffer. Gelegentlich bin ich so früh losgefahren, dass ich vor meiner Schicht noch ein paar Minuten durch die Gegend schlendern konnte. Das schuf dann wenigstens ein bißchen Distanz.

dav

Herbstlicher Günthersburgpark

Ich bin schon immer viel zu Fuß gegangen. Der donnerstägliche Gang zum Markt auf der Konstablerwache und auch wieder zurück, ist mir zu einem liebenswerten Ritual geworden, auf das ich nicht verzichten möchte. Samstags wiederhole ich das meistens auch. Fremde Städte erkunde ich bevorzugt per Pedes, ich habe kein Problem damit, stundenlang durch die Straßen zu ziehen und soviel Eindrücke wie möglich zu sammeln. Seit ich das Zufußgehen jedoch in meinen Alltag integriert habe, erreiche ich meinem Arbeitsplatz wesentlich entspannter. Auf dem Weg gehen mir irgendwelche Gedanken durch den Kopf und ich sehe Details, die mir auf dem Rad entgehen würden. Ich muss nicht ständig auf Autos achten oder Fußgänger, die gedankenlos Radwege kreuzen.

Statt dessen kann ich mich an herbstlich bunten Bäumen im Günthersburgpark erfreuen und den freundlichen Hund in der Nordendstraße begrüßen. Dort komme ich dann auch an dem legendären Lokal Größenwahn vorbei, dass seit beinahe vierzig Jahren die Frankfurter Gastronomie bereichert.dig

Nach stundenlangem Sitzen in der trockenen Luft der Bibliothek ist der Heimweg zu Fuß eine reine Wohltat. Zumal ich zwischen verschiedenen Wegen wählen kann. Ich gehe niemals den selben Weg zurück, den ich auch auf dem Hinweg genutzt habe.

Es bedurfte der Lektüre des empfehlenswerten kleinen Buches von Erling Kagge Gehen. Weiter gehen. Eine Anleitung, das 2018 im Insel Verlag erschienen ist. Der Autor berichtet u.a., wie er jeden Tag in Oslo zu Fuß zur Arbeit in seinen Verlag geht und was dieser morgendliche Gang für ihn bedeutet. Das hat mich überzeugt, es ihm gleich zu tun. Keine Ahnung, weshalb ich nicht von selbst auf diese Idee gekommen bin.

Aber jetzt ist es so und es ist gut so.