In der Vergangenheit war mir die Zukunft egal. Selbst die nähere Zukunft. Wollen wir im September in Urlaub fahren? Es ist Februar, woher soll ich wissen was im September ist! Rente? Darum kümmere ich mich, wenn`s soweit ist. Sparen? Was denn? Heiraten, Kinder? Nichts für mich. Ich war nie vorsorgend, daher hamstere ich jetzt auch nicht in dieser Corona-Krise. Dafür konnte niemand vorsorgen. Vor allem, wann fängt Zukunft an? In der nächsten Stunde, am nächsten Tag, nächste Woche? Es galt nur das Jetzt.
Vielleicht liegt es ja am fortschreitenden Alter, dass die Vergangenheit jetzt immer näher rückt. Wer kennt es nicht, man erinnert sich im Laufe seines mittlerweile schon längeren Lebens gelegentlich an andere Menschen, die dieses eigene Leben für eine Weile begleitet haben. Meist sind es angenehme Erinnerungen, die unangenehmen werden verdrängt. So denkt man zurück an Schulfreunde, andere Freunde, Freundinnen, Kollegen, Kolleginnen und Geliebte. Sie alle haben ihren Anteil daran, dass man zu dem geworden ist, der man jetzt ist. Und man bemüht eine Suchmaschine, um den einen oder die andere ausfindig zu machen. Manche werden gefunden, andere nicht. Wieder andere hat man seit vielen Jahren aus den Augen verloren, weil sich die Lebenswege so komplett unterschiedlich, oft auch an anderen, entfernten Orten, entwickelt haben. Die Mailadresse hat man aber trotzdem noch. Es wäre also ein Einfaches, sich mal zu melden. Wie oft habe ich gedacht, das einfach mal zu tun. Es blieb beim Gedanken.
Glücklicherweise sind nicht alle so wie ich. Bei mir standen in den letzten Monaten drei Menschen aus unterschiedlichen Phasen meines Lebens vor der virtuellen Tür, zwei Männer und eine Frau. Ich kenne sie seit 30, 40 und 50 Jahren, mindestens. Mit dem einem teilte ich die Schulbank in Schwäbisch Gmünd, der andere war mein Nachbar in Berlin und mit der Frau verband mich eine wunderbare Liebschaft, die 1979 in Mainz ihren nicht allzu langen Lauf nahm.
Hase
Den Anfang machte „Hase“. „Hase“ ist ein anonymer Twitteraccount, der mir folgte, neben drei weiteren. Kein Photo, keine Beschreibung, kein Name. Nichts, das nackte Rätsel. Mann oder Frau? Völlig ungeklärt. Aber Hase schien mich zu kennen, reagierte regelmäßig auf meine Tweets, nannte auch Details aus meinem Leben, zum Beispiel wusste Hase, wo ich in Berlin gewohnt hatte. Ich habe nie reagiert. Bis auf eine Ausnahme. Als Hase schrieb, er/sie sei von einem Autofahrer vom Rad geholt worden und läge jetzt eine Woche im Krankenhaus, habe ich „unbekannterweise“ gute Besserung gewünscht. Auch daraufhin hat sich Hase nicht vorgestellt. Ich überlegte lange, den anonymen Account einfach zu blocken, fand es sehr unhöflich, mit jemandem kommunizieren zu wollen, ohne sich vorzustellen. Auch twitterte ich eines Tages, dass ich anonymen Accounts nicht folgen würde. Keine Reaktion. Dann erwähnte ich Hase explizit in einem Tweet. Ich machte meinem Unmut Luft und schrieb, ich würde den Account blocken, wenn die Person sich nicht zu erkennen gäbe. Aber Stefan, begann die schnelle Reaktion, ich dachte, du weißt wer ich bin, ich bin W. Da war ich erstaunt. W war in Berlin mein Nachbar. Er wohnte im Hinterhaus, ich vorne. Wir lernten uns kennen, wie genau weiß ich nicht mehr, und freundeten uns an, nicht zuletzt wegen einiger gemeinsamer Interessen. Fußball, Bier, Musik, da vor allem Frank Zappa. Natürlich war das Spektrum, das uns beschäftigte, wesentlich weiter gefasst. Aber das war die Basis. Er war auch ein großer Leser. Auch das passte. Als 1998 Schröder, Lafontaine und Fischer die Bundestagswahl gewannen, haben wir den Abend in unserer Stammkneipe, der „Volkskammer“ in Kreuzberg, verfolgt. Als der Abend beendet war und die Ergebnisse fest standen, waren wir volltrunken. Dabei hatte W eigentlich nichts für SPD oder Grüne übrig, er war Marxist.
Irgendwann ging er nach Edinburgh, hatte einen Job in der Uni. Und auch eine Freundin. Ich bedauere, dass ich ihn nie dort besucht habe. Aber wir haben regelmäßig telefoniert. Seit über zwanzig Jahren ist W nun schon Prof. an der Uni von York. Dort habe ich ihn auch einmal besucht. Auf irgendeinem Kongress lernte er eines Tages eine Frau aus Argentinien kennen und lieben. Sie heirateten in Buenos Aires. Ich durfte Trauzeuge ein. W lud mich ein und bezahlte den Flug. C, die direkte Nachbarin aus Ws Hinterhaus kam auch mit. Wir wohnten bei Verwandtschaft der Braut in Palermo, einem Stadtteil von Buenos Aires, dem Jorge Louis Borges ein literarisches Denkmal gesetzt hat, und blieben zwei Wochen. Auch als ich nach Frankfurt zog, hielten wir den Kontakt aufrecht. Meist telefonierten wir am Sonntag, sie besuchten mich auch mal in Frankfurt. Dann verloren wir uns aus den Augen. Wie`s halt manchmal so geht. Er gehört zu denen, deren Mailadresse ich noch hatte. Gemeldet habe ich mich nicht, dran gedacht aber schon. Es ist also W, alias „Hase“ zu verdanken, dass wir wieder Kontakt haben. Auch wenn wir noch keine Zeit gefunden haben, miteinander zu telefonieren.
Canada calling
Jetzt bringe ich die Chronologie ein wenig durcheinander. Vor einigen Wochen erreichte mich eine Freundschaftsanfrage über Facebook. Sie kam aus Kanada und war nicht hinter einem Pseudonym versteckt. Der Name war mir wohlbekannt. Ich hatte auch schon nach ihm gesucht. Der Mann heißt Arnim mit Vornamen, ich war aber völlig sicher, dass er Armin heißt. Ich habe ihn nicht gefunden. Wir waren Schulfreunde in den Sechziger Jahren in Schwäbisch Gmünd. Ich bin 1976 nach Berlin gegangen, er 1977 nach Kanada. Seit dem hatten wir keinen Kontakt mehr. Eine Tante von ihm lebte in Toronto. Schon damals träumte er von dieser Möglichkeit. Ich hatte vergessen, dass er einen Bruder hat. Aber zu dem hat auch er keinen Kontakt mehr, weiß nicht mal, wo er lebt. Selbstverständlich nahm ich diese Facebook-Anfrage an. Wir schrieben uns über Messanger und einmal telefonierten wir 15 Minuten lang. Er hatte mich auf dem Handy angerufen. „Kanada war gut zu mir“, sagte er. Es ist seinen Fotos, die er regelmäßig postet, anzusehen. Auch ist er unter anderem ein hervorragender Naturfotograf. Seine Aufnahmen der örtlichen Tierwelt sind beeindruckend. Grisslys, Adler, Robben und allerhand anderes Getier kommt ihm vor die Linse. Hier kann man seine Photos ansehen. Mal sehen, was sich aus diesem Kontakt noch weiter entwickelt. Wiedererkannt hätte ich ihn natürlich nicht.
Eine unerwartete Mail
Der sicher aufregendste Ruf aus der Vergangenheit erreichte mich Anfang Januar. K aus Hannover schrieb mir eine Mail. Ob ich der sei, von dem sie annahm, dass er es sei. Ich freute mich sehr über diese überraschende Meldung aus der Vergangenheit, schließlich kannten wir uns seit einundvierzig Jahren. Im März wollten wir uns wiedersehen, aber dann kam Corona. Die ganze Geschichte habe ich ins Coronarchiv geschrieben.
Und jetzt ist mir die Vergangenheit präsenter als es die Zukunft jemals war.




















Hinter der stark befahrenen Kreuzung schlage ich mich durch ruhige Nebenstraßen zur Berger. Ich komme am Uhrtürmchenplatz an und schaue erstmal ins Schaufenster meiner Lieblingsbuchhandlung, der Buchhandlung Schutt.
Die Berger zieht sich über vier Kilometer von der Innenstadt durch das Nordend und Bornheim bis nach Seckbach. Sie ist die Haupteinkaufsstraße der beiden Bezirke. Daher nehme ich auf meinem donnerstäglichen Spaziergang meist diese Route. Die Straße ist stets belebt und es gibt was zu sehen. Gegenüber der katholischen Kirche an der Ecke Eichwaldstraße hat im letzten Jahr ein hessischer Devotionalienladen eine neue Filiale eröffnet. Auf die Inhaber dieses Ladens habe ich mich vor einigen Jahren mal zu sehr verlassen. Es war der wahrscheinlich größte Fehler meines Lebens. Anfangs wechselte ich immer die Straßenseite, wenn ich dort vorbeiging, mittlerweile nicht mehr. Rechterhand folgt das seit Jahren verlassene Gebäude des Elektrokaufhauses Saturn, Frankfurter reden immer noch von „Saturn-Hansa“. So hieß das wohl mal vor vielen Jahren. Gegenüber des toten Gebäudes stehen seither einige Läden leer. Immer wieder rauschen neue Pläne und Gerüchte durch den Blätterwald, was aus der Immobilie werden soll. Passieren tut nichts und so steht der hässliche Klotz sinnlos in der Gegend rum und verschandelt das Stadtbild. Allerdings dient der ehemalige, überdachte Eingangsbereich einigen Obdachlosen als Schlafplatz.
An der Kreuzung Höhen- und Berger Straße wurde im letzten Jahr eine Fußgängerin von einem Baustellenfahrzeug überfahren und tödlich verletzt. Der LKW war entgegen der Einbahnstraße zur Kreuzung gefahren und rechts in die Höhenstraße abgebogen. Das Opfer wollte bei Grün die Straße überqueren. Bis heute erinnern Blumen und Kerzen an den grausamen Unfall. Gegenüber der Unfallstelle wird jetzt ein seit Ewigkeiten brach liegendes Gelände bebaut. Der Entwurf des Hauses, der dort hängt, macht auf mich einen guten Eindruck. Es wird sich erfreulich von der heute so verbreiteten „Würfelhustenarchitektur“ unterscheiden. Warten wir ab, wie es in der Realität wirkt. 

Der benachbarte Platz, an dem sonst der Bauer Stranz seine Buden aufbaut war ebenso leer, wie viele andere an diesem Donnerstag. Ich wusste also im ersten Moment nicht, wo ich was essen sollte und wo meinen Schoppen trinken. Also besorgte ich mir woanders eine Kartoffelbratwurst und steuerte einen weiteren Stand an, der heißen Apfelwein anbot. Beides war lecker.
Dennoch blieb ein leicht leeres Gefühl, als ich meine Schritte wieder Richtung Bornheim lenkte. Wie meist wollte ich auf dem Heimweg an einem Lieblingsort vorbeischauen und dort einen Kaffee trinken, dem Wasserhäuschen Fein am Anlagenring. Dieses ehemalige, klassische Wasserhäuschen mit den typischen Bindingtrinkern wurde im vorletzten Jahr von einer sehr engagierten und phantasievollen Frankfurterin übernommen und überaus liebevoll hergerichtet. Es gibt dort guten Kaffee, Kuchen, allerlei anderen Süßkram, auch Wein, Apfelwein und selbstverständlich auch Bier. Der Platz rund um den Kiosk ist immer liebevoll möbliert. Ein Kleinod, das zum Verweilen einlädt. Allerdings nicht am letzten Donnerstag. „Ferien bis 8. Januar“ verkündete ein Zettel an der geschlossenen Jalousie. Jetzt freu ich mich auf den nächsten Donnerstag.












