Im Rahmen von Recherchen zu der von mir herausgegebenen Anthologie Die Kunst des Gehens (marixverlag, Wiesbaden, 2019), stieß ich auf einen Autor, dessen Namen ich noch nie zuvor gehört hatte. Ich las das Buch in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt und war fasziniert. Der Mann ließ mir keine Ruhe mehr, ich beschäftigte mich intensiver mit ihm und seinem Werk. Sein Name ist Alfred Kazin. Das Buch, das ich las, heißt Meine Strassen in New York, im amerikanischen Original A Walker in the City. Erschienen war die deutschsprachige Ausgabe im Walter Verlag, Olten und Freiburg, 1966. Sehr aufwendig gestaltet, Leinen, Fadenheftung, Bleisatz, tolles Schriftbild mit einem schlichten aber schönen Umschlag, der nochmal mit einem Kunststoffschutz umgeben. Ein Vergnügen, dieses Buch in der Hand zu halten und zu lesen. Ich bestellte es antiquarisch und bekam eine Ausgabe in bestem Zustand. Das amerikanische Original, das noch heute lieferbar ist, bestellte ich ebenfalls.
Alfred Kazin war ein amerikanischer Literaturwissenschaftler und Kritiker. Er wurde am 5. Juni 1915 als Sohn polnisch-russischer Einwanderer in New York geboren. Seine Mutter war Schneiderin, sein Vater Anstreicher. Aufgewachsen ist Kazin in Brownsville, einem armen Stadtteil von Brooklyn, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Großteil jüdisch geprägt war. Man sprach vom „Jerusalem Amerikas“ oder auch vom „American Shtetl Brunzvil“.
1942 veröffentlichte Kazin im Alter von 27 Jahren eine dreibändige amerikanische Literaturgeschichte unter dem Titel On Native Grounds, die die Jahre 1860 – 1940 behandelt. (Gekürzte deutsche Ausgabe als Amerika – Selbsterkennung und Befreiung, Karl Alber Verlag, Freiburg, München, 1951). Diese Veröffentlichung machte ihn zu einem anerkannten Intellektuellen in New York und darüber hinaus. Kazins Lebenslauf ist daher dem von Didier Eribon (Die Rückkehr nach Reims) ähnlich, der sich ebenfalls aus seiner ärmlichen Herkunft buchstäblich herausgelesen hatte und zu einem der wichtigsten Intellektuellen Frankreichs wurde. Die New York Times schrieb im Nachruf auf Kazin: „He escaped the poverty of his youth trough the pages of books.“
Von 1952 an lehrte er als Gastprofessor an diversen amerikanischen Universitäten. In den 60iger Jahren war Kazin der wichtigste Rezensent der USA. Kritiken und Essays erschienen unter anderem im New Yorker. Neben diesen Tätigkeiten schrieb er sein Leben lang Tagebücher und autobiographische Texte. 1951 erschien der erste Teil dieser Autobiographie, A Walker in the City. 1965 folgte Starting out in the Thirties und 1978 New York Jew. Alle drei Bände sind bis heute in den USA lieferbar. 2011 wurde bei Yale University Press unter dem Titel Alfred Kazin`s Journals eine Auswahl aus den sechs Bänden der Tagebücher veröffentlicht. Alfred Kazin ist ein moderner Klassiker der amerikanischen Literatur.
Sich selbst bezeichnete er als „a child of Jewish history und literary journalist“. Kazin hielt sich auch regelmäßig in Deutschland auf, unter anderem lehrte er Anfang der Fünfzigerjahre an der Universität Köln Amerikanistik. Leider waren hierzu keine Dokumente zu finden.
Eine deutsche Ausgabe von A Walker in the City erschien 1966 im Walter Verlag, Olten und Freiburg, unter dem Titel Meine Strassen in New York, übersetzt von Erika Meier. Kazin lebte bereits einige Jahre in Manhattan, als er nach Brownsville zurückkehrte und die Straßen und Umgebung seiner Kindheit und Jugend erneut zu Fuß durchstreifte. In A Walker in the City schildert er sein Heranwachsen in Brownsville. Er beschreibt eine untergegangene Welt und ihre Bewohner, denen der Sozialismus näher steht als die Religion. Es geht um das Stummfilmkino, die heruntergekommene Synagoge sowie den Überlebenswillen der armen Bevölkerung, die sich mit Humor und Lebensenergie über Wasser zu halten versucht. All das ist eine liebevolle Hommage an das jüdische Leben und die Umgebung, in der dieses Leben stattfindet. Mit aufmerksamem, genauem Blick und Empathie beschreibt Kazin die Welt und die Menschen seiner Kindheit und Jugend. Kazin war Stotterer und notierte: „Es bedrückte mich, daß ich nur in einsamen Straßen laut und ungehemmt sprechen konnte.“ (S. 35).
A Walker in the City handelt von New York, von Migration und von jüdischem Leben aus der Sicht eines Beteiligten und Flaneurs. Es ist vergleichbar mit Texten berühmter Flaneure wie beispielsweise Franz Hessel, Spazieren in Berlin, Louis Aragon, Der Pariser Bauer, Léon-Paul Fargue, Der Wanderer durch Paris sowie Walter Benjamin, Berliner Kindheit um 1900. Daher ist das Buch auch aus heutiger Sicht aktuell und lesenswert. Eine literarische Entdeckung.
Alfred Kazin verband eine jahrelange Freundschaft mit Hannah Arendt. Sie lernten sich 1946 auf einer Dinerparty in N.Y. kennen. Für die nächsten 10 Jahre sollte Arendt und Kazin eine innige Freundschaft verbinden, die sich auch in insgesamt 40 Briefen manifestierte. Der letzte Brief datiert vom 24. Mai 1974 und enthält Genesungswünsche Kazins an Hannah Arendt. Es sind vorwiegend kurze Briefe. Arendt und Kazin waren quasi Nachbarn und haben sich regelmäßig gesehen. Da gab es nicht so viel zu schreiben. Dieser Briefwechsel ist komplett im Netz nachzulesen.
Anfang der 60iger Jahre entfremdeten sie sich allerdings wieder. Die genauen Gründe für diese Entfremdung sind nicht bekannt, sie könnte aber durch Arendts Bericht Eichmann in Jerusalem ausgelöst worden sein, über den Kazin schrieb, der Tonfall, in dem sie über die Ermordeten schrieb „made me suffer“. Dennoch waren die Jahre ihrer engen Freundschaft für beide Seiten überaus fruchtbar. Arendt hatte den ersten Teil von Kazins New-York-Trilogie A Walker in the City, um den es hier geht, durchgesehen und teilweise korrigiert. Kazin seinerseits vermittelte Arendts Manuskript ihres Totalitarismus-Buches an den amerikanischen Verlag Harcourt and Brace, der das Buch dann auch veröffentlichte. Er hatte zuvor ebenfalls das Manuskript redigiert.
Alfred Kazin starb an seinem 83. Geburtstag 1998 in New York. Philip Roth sagte über ihn: „He was America`s best reader of American Literature in his century.“
Vielleicht hat er seinen Himmel ja so vorgefunden, wie er ihn sich gewünscht hat: „My idea of heaven is to settle down in a jet with a book, a notebook and a martini.“
Es wäre überaus zu begrüßen, dieses Buch, und vielleicht auch weitere, neu zu übersetzen und zu veröffentlichen. Ich schrieb ein Exposé, das in diesen Text eingeflossen ist, kopierte aus der deutschen und der amerikanische Ausgabe die entsprechenden Kapitel und ließ alles zu einer Mappe binden. Diese Mappe gab ich dem Autor und Übersetzer Henning Ahrens, der folgendes dazu anmerkte: „…habe mir nun endlich den Kazin angeschaut: Ein sehr charmantes, anschauliches Buch, gar nicht nostalgisch, obwohl es sehr liebevoll ist. Ich war sofort drin, und damit auch im New York jener Zeit. Man kann es noch heute mit Gewinn und Vergnügen lesen, denke ich.“
Im Laufe weiterer Recherchen stieß ich auf eine Großnichte Kazins. Sie war 1993 nach New York ausgewandert, und zwar aus Frankfurt, der Stadt, in der ich wohne. Dort lebt sie als Fotografin. Viel mehr war nicht in Erfahrung zu bringen, keine Website, kein Facebook, kein Twitter, geschweige denn eine Mailadresse. Schließlich entdeckte ich sie auf Instagram, und folgte ihr sofort. Dort zeigt sie regelmäßig ihr Straßenfotografie. Ich war begeistert, endlich eine Spur, denn sie hat schon fünf Jahre in New York gelebt bevor ihr Großonkel dort gestorben ist. Möglicherweise hat sie ihn in dieser Zeit getroffen. Ich versuchte, sie über Instagram anzuschreiben. Das klappt fast nie, wenn das Gegenüber nicht ebenfalls folgt. Es gab also keine Reaktion. Dann, irgendwann, folgte sie mir auch, worüber ich sehr erfreut war. Gelegentlich liked sie sogar meine Fotos. Das machte mir Hoffnung. Ich schrieb ihr erneut, aber wieder keine Reaktion. Das ist aber kein Grund, es nicht erneut zu versuchen.
Es wird Zeit, dass sich ein deutschsprachiger Verlag findet, der sich Alfred Kazin widmet und diesen wunderbaren Autor dem deutschsprachigen Publikum bekannt macht. Verdient hätte Kazin es alle Mal. Für ein literarisch interessiertes Publikum wäre es ein Gewinn, und für den Verlag möglicherweise auch.
P.S. Die von mir ausgewählte Passage ist leider nicht in der Anthologie enthalten. Die Rechte seien zu teuer gewesen, sagte der Verlag.

